Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung

Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung
Väinämöinen und Aino

Donnerstag, 1. Januar 2015

Teil 1



Dem Andenken von Elias Lönnrot gewidmet

 

VORWORT


Dieses Buch verteidigt und ehrt in der Kalevala all das, was die Kultur von heute meist für aus der Luft gegriffen hält: ihre Sagen, ihre Wunder, ihre Übertreibungen, ihre Abnormalitäten, und der Leser sieht von der ersten Zeile an, dass der Autor es ernst meint.
Der Autor weiß, dass seine Kenntnisse ‒ verglichen mit den gelehrten Kalevala-Forschern ‒ eher gering sind und hätte nicht den Mut gehabt, sich an diese Arbeit zu machen, wäre er nicht überzeugt gewesen, dass der wahre Inhalt der Kalevala von den Gelehrten dennoch noch nicht erkannt wurde.
Hiermit will der Autor keineswegs behaupten, dass seine eigenen Kenntnisse über den wahren Inhalt der Kalevala erschöpfend oder fehlerfrei wären; seine Ansichten sind ohne Zweifel mangelhaft und berichtigungsbedürftig, doch wenn sie richtig verstanden werden, öffnen sie neue Perspektiven für die künftige Forschung. Unter den [geisteswissenschaftlichen] Forschungen zu diesem Thema kennt der Autor nur Folgendes: Hinweise der H. P. Blavatsky in der Geheimlehre[1] und einem Zeitschriftartikel „Kalevala, das finnische Nationalepos“, veröffentlicht in Lucifer 1888, außerdem andere Erklärungsversuche dieser Art, wie z.B. das Heft von Martti Humu[2] Kalevalan sisäinen perintö (Das innere Erbe der Kalevala), das oberflächlich und eher eine Einführung war, den Artikel von Herman Hellner[3] „Kalevala ett teosofiskt diktwärk“ (Kalevala, eine theosophische Dichtung), veröffentlicht 1904 in der Zeitschrift Teosofisk Tidskrift, und den Vortrag von Rudolf Steiner, den er am 9. April 1912 in Helsinki mit dem Titel „Das Wesen nationaler Epen mit speziellem Hinweis auf Kalevala” hielt und der in demselben Jahr als Manuskript gedruckt wurde. Deshalb wagt er zu hoffen, dass diese Abhandlung mit dem Wohlwollen empfangen wird, das üblicherweise einem ersten Versuch zuteilwird. Der Autor hofft, vorausgesetzt, das Schicksal gönnt es ihm, dass er sich in viele Themen der finnischen Geheimwissenschaft, die er hier nur ansatzweise berührt hat, bei seinen künftigen Forschungen eingehender vertiefen kann.
Denn, wie die Kalevala sagt:

Ei sanat salahan joua,
eikä luottehet lovehen,
mahti ei joua maan rakohon,
vaikka mahtajat menevät.

Nimmer darf das Wort verborgen,
Nicht versteckt die Sprüche bleiben,
In die Erde nicht versinken,
Wenn die Zaubrer auch verschwinden.

In Sammatti, August 1916
Der Autor


I

DIE KALEVALA

ALS HEILIGE SCHRIFT


Ohne die Hilfe der Symbologie  mit ihren sieben Unterabteilungen kann keine alte Schrift jemals richtig verstanden werden. Die Symbologie muss nach jedem ein­zelnen ihrer Gesichtspunkte hin studiert werden, denn jede Nation hatte ihre besonderen Ausdrucksweisen.

H. P. Blavatsky


1. WAS IST DIE KALEVALA?


Die Frage, was die Kalevala ist, werden wir in diesem Buch auf eine Weise beantworten, die vermutlich für die meisten Leser fremd und neu ist. Wir werden gleich am Anfang über die Kalevala, ihre Entstehung und ihren inneren Wert eine Meinung vertreten, die den Leser, ob gelehrt oder ungelehrt, überraschen wird. Im weiteren Verlauf des Buches werden wir dann unseren Standpunkt erläutern und verteidigen und überlassen es dem wohlwollenden Leser zu beurteilen, ob es uns gelingt, ihn von dessen Richtigkeit zu überzeugen, oder ob er sich immer noch über unsere recht seltsame Meinung wundern und sie vielleicht missbilligen wird.
Bevor wir unsere eigene Antwort auf die Kalevala-Frage geben, möchten wir mit ein paar Worten darauf hinweisen, was man bei uns im Allgemeinen über die Kalevala gedacht hat und welchen Standpunkt die wissenschaftlichen Forscher über diese Frage vertreten.
Elias Lönnrot, der große „Hervorträumer“ der Kalevala, glaubte, dass sich in der Kalevala die alte permische Kultur[4] unserer Vorfahren widerspiegelte. Die Runen brachten vor unsere Augen ein lebendiges Bild über die Vergangenheit des finnischen Volkes, über seine Religion und seine Lebensweisen, über seine Bestrebungen, Ideale und Helden. Der Glaube Lönnrots war ansteckend: Man fing an, sowohl bei uns in Finnland als auch im Ausland, die Kalevala als eine Forschungsquelle der Vergangenheit des finnischen Volkes zu betrachten. Mit der Kalevala wuchs das Ansehen des finnischen Volkes rund um die Kulturwelt, und allmählich bemerkten alle, dass dort im hohen Norden ein kleines, weltentlegenes Volk lebte, das ein Epos hervorgebracht hat, das seinesgleichen in der Welt sucht. „Welch ein poetisches Volk“, wurde überall geflüstert, „was hat es wohl für eine Vergangenheit hinter sich! Wo ist wohl seine Geschichte! Das Volk der Helden und Schamanen!“
Dieser gewaltige Enthusiasmus weckte das finnische Volk aus seinem Jahrhundertschlaf. Die Finnen fühlten sich als ein einheitliches Volk, weil sie eine gemeinsame Vergangenheit und ein mächtiges Denkmal für jene Vergangenheit hatten. Es war nur natürlich, dass diesem ersten, religiös-poetischen Aufwachen ein weiteres, von Snellman initiiertes staatlich-sprach­liches Erwachen folgte. Das finnische Volk lernte sich selbst kennen und erkannte seinen Platz auf der Weltbühne. Die prophetischen Worte des Alexander I. hatten sich bewahrheitet: Das finnische Volk war als Nation unter die Nationen getreten.
Heute leben wir in einer anderen Zeit. Die Begeisterung hat nachgelassen. Die Kalevala ist nicht mehr das, was sie früher war. Sie wird allerdings für ein Nationalepos gehalten und man liest sie in den Schulen, doch auf wissenschaftlicher Ebene hat sie als historische Quelle ihre Gültigkeit verloren. Die alte permische Kultur widerspiegelt sich doch nicht in der Kalevala. Der Glaube Lönnrots, des großen finnischen Elias, war nur ein Traum.
Die Kalevala erzählt von keiner verlorenen goldenen Zeit. Sie ist eine Runensammlung und erzählt von Glücksträumen unseres Volkes, von einem Sommerland, das in der Phantasie unseres Volkes lebte. Sie beweist nur, welch ein mächtiger, unsterblicher Gesangsgeist dem finnischen Volk immer eigen war.
Dieser Standpunkt wird von unseren Gelehrten damit begründet, dass die Kalevala, wie gesagt, eine Runensammlung, kein einheitliches Epos sei, das als solches in der Erinnerung des Volkes erhalten geblieben wäre. Das Volk hat in zahlreichen Versionen, an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten von Väinämöinen, Ilmarinen, Lemminkäinen und deren Heldentaten gesungen. Der eine Sänger hat von einem Thema, der andere von einem anderen gesungen. Elias Lönnrot sammelte diese Runengesänge und fasste sie zusammen; er war der erste, der mit unermüdlichem Eifer und festem Glauben in Karelien, der Heimat der Sänger, wanderte und ein Wort hier, ein anderes da fand und das Gehörte zusammenfasste und aus den Runen ein einheitliches Werk zusammenstellte. Was vor ihm Porthan, Lencqvist, Ganander, Becker, Topelius Senior[5] usw. getan hatten, war eher Vorbereitungsarbeit mit diversen Aufzeichnungen gewesen. Doch nach Lönnrot sind neue Sammlungsreisen unternommen worden, Manuskripte und Notizen von Lönnrot sind wissenschaftlich präzisiert worden, und man ist zu der endgültigen Klarheit und Überzeugung gekommen, die heute in der Kalevala-Forschung herrscht. Lönnrot selbst war der letzte große Runensänger. Er war dermaßen vom Geist der Kalevala durchdrungen, dass er das schaffen konnte, was vor ihm keiner zustande gebracht hatte: Er konnte aus einzelnen Runenstücken ein beinahe einheitliches Epos schaffen. Er vertiefte sich, sich selbst vergessend, dermaßen in den Geist des finnischen Volkes, dass er – wie Eino Leino[6] sagte – „der in Selbstbewusstheit gelangte finnische Nationalgeist des damaligen Finnlands“ war.[7] Die Kalevala war deshalb sein Werk, selbst wenn er nicht der Autor der Runen war.
Genauere Forschung hat auch gezeigt, dass die Runen der Kalevala nicht gleich alt, nicht aus der gleichen Urzeit stammen. Die einen sind aus der heidnischen, die anderen aus der christlichen Zeit – z.B. die letzte, die 50. Rune, ist mit Sicherheit christlich. So gesehen ist es unmöglich, die Kalevala für ein historisches Denkmal aus der fernen Vergangenheit zu halten. Natürlich sieht man darin Hinweise auf das Leben des finnischen Volkes und vor allem deutliche Zeichen einer religiösen, oder besser gesagt, abergläubisch-poetischen Weltanschauung, doch diese gehören nicht zu einer rein heidnischen, sondern zum Grenzbereich zwischen der heidnischen und der christlicher Zeit. So kann man sagen, dass das, was wir an der Kalevala bewundern, im Lichte der Forschung, wie Prof. K. Krohn[8] sagt, „poetisch verhülltes Christentum“ ist.[9]
Vor Kurzem hat man sogar behauptet, dass der Inhalt der Kalevala eigentlich kein Produkt des finnischen Geistes, sondern von den Germanen entlehnt sei. Aus dem Westen seien Könige und Helden hierhergekommen. Sie hätten Runen und Lieder über alte Magier mit sich gebracht und es wären Runen über sie selbst gesungen worden. Somit wären die Helden von Kalevala keine Finnen gewesen, sondern fremde Wikinger, und die Heldenträume der Finnen hätten ihren Ursprung woanders, nicht im Herzen unseres Volkes gehabt.
Das sind, kurz gefasst, die bisherigen Errungenschaften der wissenschaftlichen Forschung. Sollten sie wirklich der Wahrheit entsprechen, dann hätte man die Arbeit Lönnrots – tiefer betrachtet – irgendwie zunichte gemacht. Übrig geblieben von seiner Kalevala wären nur die schöne Form und die künstlerische Gestaltung; die nationale Bedeutung der Kalevala hingegen würde bereits zur Vergangenheit gehören. Sie hätte ihre Aufgabe erledigt, indem sie im neunzehnten Jahrhundert die Menschen aufweckte. Heute könnte sie, zusammen mit anderen Antiquitäten, auf ein Regal zur Schau gestellt werden.
Was würden dazu die wahren Verehrer der Kalevala und die Freunde des finnischen Nationalgeistes sagen? Wo kämen ihre wunderbaren Träume über die alte finnische Kultur hin, wohin ihre Wünsche und Hoffnungen über die Zukunft Finnlands? Ihr das Vaterland liebende Herz müsste seufzend und klagend ausrufen: „Wer kann noch meine Wunden heilen? Gibt es noch einen Mann, der mein Herz mit neuem Glauben füllen könnte?“
Jetzt sind wir an der Reihe, auf die Bühne zu treten. Es ist an der Zeit, dass nun wir, die wir in der Kalevala etwas sehen, was die anderen noch nicht geahnt haben und die wir von der Kalevala das glauben, was sie selbst von ihrem Väinämöinen glaubte, unsere Stimme erheben und ‒ auch zu unserem eigenen Herzen ‒ sagen: „Sei getrost! Es ist nichts verloren, denn es ist noch nicht einmal etwas gefunden worden. Und auch wissenschaftliche Forschungen sind noch nicht ausgeschöpft. Es werden noch neue Beobachtungen und Entdeckungen gemacht, die die heutigen Schlussfolgerungen widerlegen werden. Doch was kümmert uns das! Der wahre Wert der Kalevala liegt woanders. Ihr wahrer Wert liegt in ihrem eigenen, geheimen Inhalt.“
Und wenn wir nun unsere neue und ungewöhnliche Meinung über die Kalevala vorbringen wollen, können wir, in Anbetracht der Wunden, die die Forschung unserem das Vaterland liebenden Herzen zugefügt hat, mit Recht fragen: Brauchen wir einen Mann, um sie zu heilen? Taugt nicht die Kalevala selbst zum Arzt? Könnte man nicht die Heilung dort finden, wo die Krankheit selbst entstanden ist? Sollte die Kalevala, wissenschaftlich gedeutet, unsere nationalen Träume vernichten, dann wird sie uns vielleicht, anders ausgelegt, die hinter den Träumen liegende Wahrheit enthüllen! Vielleicht ist die Kalevala ein ganz anderes Buch als für welches sie die Gelehrten gehalten haben. Vielleicht kann man sie mit den sogenannten heiligen Schriften der Weltliteratur vergleichen. Lasst uns ein wenig nachdenken. Wenn die Kalevala in der heidnischen Zeit in der jetzigen Form existiert hätte, für wie wertvoll hätte wohl das finnische Volk sie gehalten? Hätte nicht das Volk darin sich selbst wie in einem Spiegel gesehen, hätte es nicht darin seine edelsten Bestrebungen, sein ewigstes Selbst gesehen? Hätte es nicht in der Kalevala Trost und Rat für seine Seele, Freude für sein Herz, Ruhe für sein Gewissen gesucht? Ohne Zweifel. Die Kalevala wäre sein wertvollster Schatz, das heilige Erbe seiner Väter gewesen. Sie wäre seine Bibel, seine heilige Schrift gewesen.
Und wenn es damals so gewesen wäre, warum könnten wir nicht heute denselben Standpunkt vertreten? Warum sollten wir die Kalevala nicht als eine heilige Schrift betrachten? Warum könnten wir sie jetzt nicht auf eine andere Weise als ein gewöhnliches Buch studieren?
Vom Neuen Testament hat man ja behauptet, dass seine historische Gültigkeit sehr fragwürdig sei. Sogar die Existenz Jesu hat man in Frage gestellt. Hat das aber den geistigen Wert des Neuen Testamentes verringert? Hat das die Christenheit zur Verzweiflung gestürzt? Ganz und gar nicht. Die Christenheit hat sich in ihrem Glauben nicht erschüttern lassen. Sie glaubt an Jesus, weil das Neue Testament von ihm zeugt. Und warum zeugt das Neue Testament von ihm? Darum, weil es ein lebendiges Buch ist. Das beste Gegengift ist, das Neue Testament zu lesen. Wenn man es liest – nicht wie ein akribischer Kritiker, der nach historischen Schwächen sucht, sondern wie ein Mensch, der aufrichtig nach der Wahrheit sucht, die ihm das Buch geben mag, dann spricht das Neue Testament selbst für sich. Dann bekennt der Christ das Herz voller Freude: Das Testament ist heilig, denn es öffnet mir die geistige Sicht; Jesus ist lebendig, denn er erweckt in mir das Leben.
Wie wäre es, wenn nun das Gleiche für die Kalevala gelten würde? Wie wäre es, wenn auch sie eine heilige Schrift für denjenigen wäre, der sie im richtigen Geist lesen könnte?
Das möchten wir gern behaupten, und dieses Thema sollten wir etwas genauer betrachten. Wir sollten herausfinden, in welchem Sinne die Kalevala eine „Heilige Schrift“ sein könnte.

 

2. DIE KALEVALA ALS HEILIGE SCHRIFT


Wir fragen zuerst: Was ist eine heilige Schrift? Gibt es dafür eine sozusagen technische Definition, eine Definition, die keine Aufstellung schwer definierbarer Merkmale, sondern treffend und präzise wäre?
Ja, so eine gibt es, aber ein voreingenommener religiöser Mensch oder ein eingefleischter Materialist versteht sie nicht. Nur ein frei denkender Mensch ‒ im wahrsten Sinne des Wortes ‒ versteht die technische Definition der heiligen Schrift.
In welchem Sinne können nämlich ein religiöser Mensch und ein Materialist sich die Hand reichen? In dem Sinne, dass beide für das menschliche Wissen Grenzen setzen. Beide geben zu, dass der Wissensbereich des Menschen in der materiellen und der sichtbaren Welt in weite Entfernung reichend ist: Der Mensch hat mit seinem Fernrohr Universen gemessen und mit seinem Mikroskop die für das Auge unsichtbare Mikrowelt erforscht; für seine Kenntnisse der sichtbaren Welt auf unserer Erdkugel gibt es keine Grenzen, und er bildet sich ein, dass es für das Auge der Vernunft auch in der Seelenwelt des Menschen nicht viele Geheimnisse gibt. Doch beide sind sich darin einig, dass das menschliche Wissensvermögen sich nicht über gewisse Grenzen hinweg erstreckt. Das Rätsel des Todes kann der Mensch nicht lösen, die unsichtbare Welt kann er nicht erforschen; er ist nicht in der Lage, den Lebensspender und Schöpfer von Angesicht zu Angesicht anzusprechen. Der Unterschied liegt nur darin, dass der religiöse Mensch sagt: Gott hat uns verboten, Dinge zu erforschen, von denen wir nichts wissen können, während der Materialist den gordischen Knoten mit einem Schlag öffnet und ausruft: Da seht ihr jetzt, dass es keinen Knoten gab! Es gibt nichts zu erforschen, weder jenseits des Todes, noch in der unsichtbaren Welt, denn die unsichtbare Welt gibt es nicht, und jenseits des Todes grinst die Leere.
Der hochmütige Materialist sieht nicht ein, dass er das Zepter des Wissens vorzeitig in die Hand nimmt und behauptet, das größte Geheimnis zu kennen, wenn er dem Tod das Leben abspricht; und der blind Glaubende bemerkt nicht, dass er auf dem Weg des Lebens absichtlich die Augen schließt, obwohl er vielleicht in der Lage wäre, sie weit zu öffnen.  
Um gestehen zu können, dass das menschliche Wissen sich weit über die normalen Verhältnisse erstrecken kann, muss der Mensch deshalb wirklich frei sein. Nur ein geistig freier Mensch kann zugeben: Vielleicht ‒ ja, vermutlich ‒ kann das menschliche Wissen Dinge umfassen, die übernatürlich erscheinen. Der Apostel sagt ja: „Der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.“
Um zu verstehen, was eine heilige Schrift ist, müssen wir uns vielleicht auf diesen Standpunkt stellen und zugeben, dass der Mensch vielleicht zur Erkenntnis übernatürlicher Dinge gelangen kann.
Weshalb sollten wir uns auf einen solchen Standpunkt stellen? Dazu gibt es einen wahren historischen Grund. Alle bekannten Völker haben ihre geistigen Giganten, ihre rätselhaften Menschen gehabt, die behauptet haben, dass sie mehr wissen als Normalsterbliche. Dazu zählen große Philosophen und Denker, große Dichter und Propheten, große Gottessöhne und Heilande. Dass auch Jesus zum Gott ernannt wurde, war nicht seine Schuld. Er selbst nannte sich Menschensohn. Selbst wenn die Existenz Jesu in Frage gestellt werden würde, so ist das Leben Buddhas sicher und historisch belegt. Und Buddha sagte ‒ wie Jesus der Evangelien und die Weisen Indiens: Folgt mir nach, denn ich kenne die Wahrheit.
Wenn wir das Leben dieser großen Weisen vor unseren Augen haben, haben wir kein Recht, misstrauisch zu sein und zu sagen: Woher wissen wir, dass sie wussten? Als freie Menschen sollten wir höchstens sagen: Ja, vielleicht wussten sie, aber wie können wir wissen, dass sie wussten? Haben sie Beweise hinterlassen?
Diese Frage führt uns dann zu den heiligen Schriften. Heilige Schriften sind Beweisstücke der Weisen. Aber wie? So, dass in ihnen die Weisheit der Weisen verborgen liegt. Doch wie können wir das wissen? Wir sehen es, wenn das Wissen in uns selbst erwacht… Wie bitte? Das ist ja eine mutige Behauptung. Kann also der Mensch auch in unseren Tagen zur Erkenntnis der übernatürlichen Dinge gelangen? Selbstverständlich. Auf welche Weise? Wie kann er zur Erkenntnis gelangen? Indem er den Weg geht, der in den heiligen Schriften gewiesen wird.
Unsere Argumentation scheint sich wirklich im Kreis zu drehen. Und dennoch ist sie ganz logisch. Wenn der Mensch nach der Wahrheit mit einer Methode sucht, die in einer der heiligen Schriften gelehrt wird, gelangt er zur Erkenntnis der Wahrheit. Und wenn er zur Erkenntnis gelangt ist, sieht er, dass die heilige Schrift wirklich heilig ist, weil darin Weisheit über Leben und Tod verborgen liegt. Und weil in der heiligen Schrift Weisheit verborgen liegt, müssen die ursprünglichen Aufzeichner der Weisheit große Wissende gewesen sein. Also müssen Weise auch früher gelebt haben.
Wie sollten wir nun die heilige Schrift definieren? Sie ist ein Buch, in dem göttliche Mysterien über Leben und Tod verborgen liegen, ein Wegweiser des Wahrheitssuchenden zur scheinbar übernatürlichen Erkenntnis.
Wenn nun die Kalevala eine heilige Schrift wäre, wie sollte man sie dann verstehen? Man wird wohl nicht meinen, dass jeder Satz in der Kalevala, vielleicht sogar jedes Wort, verborgene Weisheit enthielte? Keineswegs. Mit einer solchen Auffassung, die eher wie eine mechanisch inspirierte orthodoxe Theorie ist, wollen wir nichts zu tun haben. Der Buchstabe ist nicht heilig, die Form ist nicht ewig. „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ „Heilig“ in dem Buch sind gewisse großartige Vorstellungen und Gedankenbilder. Die Form um sie herum ist manchmal ursprünglich rein, manchmal mit Zusätzen verziert. Die Gedankenbilder stammen aus Mysterien und berichten über die gleiche ewige Weisheit wie die der anderen heiligen Schriften.
Nehmen wir nun an, dass die Kalevala in dieser Bedeutung eine heilige Schrift ist.[10] Was beweist sie dann?
Sie beweist, dass unter dem finnischen Volk irgendwann in der Vergangenheit ‒ oder später ‒ Weise gelebt haben. Sie beweist, dass das finnische Volk ein geistig gebildetes Volk ist ‒ oder zumindest früher war ‒ weil darin Weise geboren werden konnten. Sie beweist, dass das finnische Volk eine Vergangenheit hinter sich hat. Die Annahme, dass die Helden der Kalevala keine Finnen gewesen wären, versinkt in Nichtigkeit. Die poetische Form der Kalevala ist echt finnisch. Wie hätte auch das finnische Volk fremden Vorstellungen eine Form geben können und sie in seiner Erinnerung behalten können? Die Blume des Wissens hat im eigenen Herzen des Volkes aufgeblüht und die eigene Sprache des Volkes hat von ihrer Herrlichkeit erzählt, wie die Kalevala selbst über Väinämöinen singt:

Vaka vanha Väinämöinen
Elelevi aikojansa
Noilla Väinölän ahoilla,
Kalevalan kankahilla,
Laulelevi virsiänsä,
Laulelevi, taitelevi.
Lauloi päivät pääksytysten,
Yhytysten yöt saneli.
Muinaisia muisteloita,
Noita syntyjä syviä,
Joit’ ei laula kaikki lapset,
Ymmärrä yhet urohot
Tällä inhalla iällä,
Katovalla kannikalla.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Lebte nun sein liebes Leben
Auf den Fluren von Wäinölä,
Auf den Flächen Kalewala’s,
Sang dort seine lieben Lieder,
Sang beständig voller Weisheit.
Sang von einem Tag zum andern,
Nahm die Nächte selbst zu Hülfe,
Sang Geschichten alter Zeiten,
Sang den Ursprung aller Dinge,
Was die Kinder nimmer können,
Nicht ein jeder Held verstehet
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten
Bei dem sinkenden Geschlechte. [3. Rune]

 

3. DER SCHLÜSSEL ZUR KALEVALA


Wenn wir nun annehmen, dass die Kalevala ein heiliges Buch ist und geheimes Wissen über Leben und Tod sowie Anweisungen zur Erlangung dieses Wissens enthält, wie kann dann ein gewöhnlicher Leser, der selbst keine übernatürlichen Kenntnisse besitzt, das sehen? Hat er, von diesem Standpunkt aus gesehen, vom Lesen der Kalevala überhaupt einen Nutzen?
Man muss zugeben, dass der gewöhnliche Leser hier auf eine Schwierigkeit stößt. Er kann die geheime Weisheit der Kalevala nicht sehen. Er bewundert die Schönheit der Gestaltung, den poetischen Geist, die Ästhetik der Kalevala. Die Beschreibung der Natur und der Personen lassen sich mit den besten der Weltliteratur vergleichen; ihre aufrichtige, menschliche Darstellungsweise macht sie z.B. vielen Büchern des Alten Testamentes überlegen. Doch wie könnte man in den geheimen Inhalt der Kalevala eindringen, wie kann man wissen, dass die sagenumwobenen Erzählungen z.B. über den Sampo und dessen Raub nicht bloß abergläubische Einbildung sind? Die Kalevala ist wirklich wie ein geschlossenes Buch, und es bedürfte einer Art Schlüssel, um sie zu verstehen. Ein Wissender könnte diesen Schlüssel in sich selbst finden, aber ein gewöhnlicher Leser hat ihn nicht. Wo kann er ihn finden?
Es gibt heilige Schriften, die ziemlich leicht zu lesen sind, wie z.B. das Neue Testament. Damit meinen wir nicht, dass jedermann das Neue Testament sofort als eine heilige Schrift lesen könnte. Ich befürchte, dass viele Leser niemals geahnt haben, in welcher Hinsicht ihr liebes Testament heilig ist. Wir meinen nur, dass der Wahrheitssuchende, wenn er aufmerksam genug ist, ziemlich leicht selbst darauf kommt, wie man das Neue Testament lesen sollte und welche wunderbaren Geheimnisse diese heilige Schrift ihm dann enthüllt.[11]
Es ist deshalb leicht, weil das Neue Testament hauptsächlich ein Ratgeber ist, der Anweisungen zum Streben nach Erkenntnis der Wahrheit gibt. Das Neue Testament ist zu einer Zeit und für Menschen geschrieben, denen der Weg zur Erkenntnis mit seinen Gefahren und Schwierigkeiten allgemein bekannt gemacht werden durfte, weil der intellektuelle Bildungsstand der Menschheit am Steigen war. Bei den älteren Kulturen wiederum war die Existenz des Weges der Erkenntnis besser bekannt, doch die Einzelheiten über dessen Art und die einzelnen Schritte waren geheim; sie wurden von den Lehrern und Weisen gleichsam in Beschlag gehalten. Die heiligen Schriften aus den alten Zeiten sind deshalb bei der Darstellung der ewigen Wahrheiten in größere Mysterien verhüllt.
Die Kalevala ‒ obwohl als Buch neu ‒ gehört ihrem Inhalt nach zu den alten Anleitungsschriften zu Mysterien. Ihr wichtigster Aspekt ist natürlich die Schilderung des Weges zur Erkenntnis, die Art und Weise, wie sie Anweisungen zur Wahrheitssuche gibt. Doch zugleich enthält sie, sogar viel mehr als z.B. die Evangelien, Schilderungen über die Erkenntnisse, die der Wahrheitssuchende auf seinem Weg zum Wissenden erreicht hat, d.h. Schilderungen über die Verhältnisse und Lebewesen der unsichtbaren Welt, mit anderen Worten über das empirisch-metaphysische Weltbild des Wissenden.
Um die Kalevala von der mystischen Seite her verstehen zu können, müsste der gewöhnliche Leser also nur eine Ahnung von dem Weltbild der Weisen haben. Dann hätte er in seiner Hand den Schlüssel, mit dem er die Schlösser der Kalevala und der anderen heiligen Schriften öffnen könnte. Und wenn sich ihm einmal der mystische Hintergrund der Kalevala öffnen würde, dann wäre es vielleicht nicht allzu schwer, darin die Wegweiser auf den Weg der Erkenntnis ausfindig zu machen.
Ist es nun möglich, sich einen solchen Schlüssel zu beschaffen? Ja, in unseren Tagen ist es durchaus nicht unmöglich, denn es gibt eine Weltanschauung, mit der sich jeder vertraut machen kann und die den Anspruch erhebt, den Wissenden eigen zu sein. Sie ist bei unseren Nachforschungen hilfreich, selbst wenn wir sie nur als eine Art Arbeitshypothese betrachten würden. Wir können jedoch recht bald bemerken, dass die Weisen, soweit wir wissen, die gleiche Weltanschauung gehabt haben und dass diese in allen Religionen als geheime Weisheit, als die esoterische Seite der Religionen, mitgewirkt hat. Es handelt sich um die sogenannte theosophische Weltanschauung, deren erste Verkünderin in unserer Zeit Madame H. P. Blavatsky war. Das theosophische Weltbild wird in der Geheimlehre und in anderen Büchern von Madame Blavatsky sowie in der umfangreichen theosophischen Literatur in verschiedenen Sprachen dargestellt. Diese moderne Theosophie ist kein Lehrsystem. Sie enthält nur Züge vom Weltbild der Weisen, stückhafte Züge, wie H. P. Blavatsky zu sagen pflegte. Doch jene Züge sind so grundlegend, dass sie als solche ein einheitliches Weltbild ausmachen.
Um diese uralte Weisheit kurz darzustellen, würden wir, wie Die Geheimlehre, sagen, dass es sich dabei um folgende Themen handelt: 1) Die absolute Gottheit, die nicht offenbarte Grundlage und Basis des ganzen offenbarten Lebens, in deren unberührte Ruhe das Gute und das Böse wie in die Tiefen des Ozeans versinken; 2) den geoffenbarten Gott, den sogenannten dreifaltigen Logos, der alle Gegensätze und Widersprüche des Geistes und der Materie, des Guten und des Bösen, manifestiert und als reale Wirklichkeit das gemeinsame Bewusstsein unzähliger Wesen der Welt, der Götter usw. ist; 3) das Gesetz der Periodizität, nach dem Schöpfung und Vernichtung, Leben und Tod, Tag und Nacht ununterbrochen einander folgen, so dass auch das menschliche Leben ein immer wiederkehrender Wechsel vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben (die sogenannte Wiedergeburt oder Reinkarnation) ist, bis er, zur göttlichen Weisheit gelangt, sich vom Rad der Wiedergeburten befreit; 4) das Gesetz des ewigen Gleichgewichts und der Ursache und Wirkung, nach dem nicht einmal der kleinste Kraftausbruch im Universum verloren geht, sondern mit der gleichen unfehlbaren Sicherheit Folgen verursacht, wie auch er selbst von einem bestimmten Grund verursacht wurde (das sogenannte Gesetz des Karma); 5) die Existenz der Weisen, der sogenannten Geheimen Bruderschaft, die über das Schicksal und die Entwicklung unserer Menschheit wacht und ‒ wenn es notwendig wird ‒ ihr z.B. durch einen ihrer Abgesandten auch in sichtbarer Weise hilft.
Wenn wir uns nun an die Arbeit machen, den Runen der Kalevala nachzuforschen, werden diese Dinge dem Leser, wenn er nicht bereits das theosophische Weltbild kennt, in ihren Einzelheiten sicherlich klar. Zuerst genügt uns das Wissen, dass der Schlüssel, mit dem die sinnbildliche Bedeutung der Kalevala geöffnet wird, das theosophische Weltbild ist.
Unsere Forschung setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil betrachten wir einige Runen oder Runenstücke im Licht der uralten Weisheit, um zu sehen, dass auch der intellektuell-geistige Hintergrund der Kalevala der Gleiche ist, wie der der anderen heiligen Schriften; wir betrachten die Gotteslehre der Kalevala, die Schöpfungsgeschichte, die Auffassung über den Tod usw. Im zweiten Teil erläutern wir zuerst die menschliche Entwicklungspsychologie in der Kalevala; wir betrachten, welche Anweisungen uns die Kalevala für die Wahrheitssuche und die ersten Schritte auf dem Weg zum Wissen gibt; zweitens versuchen wir, einen Blick auf die höhere geistige Entwicklung des göttlichen Menschen, auf den sogenannten heiligen Weg, den geheimen Weg des Wissens ‒ insofern, wie er in der Kalevala beschrieben wurde ‒ zu werfen. Im dritten Teil betrachten wir schließlich kurz die Magie der Kalevala, d.h. die Anwendung der auf dem Weg des Wissens erreichten „übersinnlichen“ Fähigkeiten.
Der Leser wird sich natürlich über unsere Worte wundern. „Könnte die Kalevala wirklich so hohe und tiefe Dinge enthalten? Könnte sie vielleicht mehr und erstaunlichere Dinge enthalten, als auch nur ein Runensänger jemals geahnt hätte! Elias Lönnrot hat sicherlich davon keine Ahnung gehabt.“ Vermutlich nicht. Aber wir leben jetzt in einer neuen Zeit. Die Sturmflut des Materialismus ist an uns vorübergezogen. Wir sind dabei, wieder auf den Wellenkamm des Geistes zu steigen. Das spiritualistische Weltbild schleicht in die Seelen der Menschen ein. Die neue Zeit erweist den alten heiligen Schriften die Ehre, die ihnen gebührt, und enthüllt uns ihre verborgenen Reichtümer. Auch die Kalevala wird unter ihren Geschwistern als eine Schwester begrüßt.
Madame Blavatsky handelte nicht unüberlegt oder willkürlich, als sie zum Motto des ersten Teils ihres Hauptwerkes Die Geheimlehre einige Strophen aus dem alten indischen Rigveda und zu dem des zweiten Teils Auszüge aus der ersten Rune der Kalevala setzte. Und sie hatte nicht Unrecht, als sie sagte: „Die tiefere und esoterischere Bedeutung der Kalevala besteht im Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse. Das Volk von Kalevala vertritt das Licht und die guten Kräfte und das Volk von Pohjola die bösen Kräfte. Das kann man mit dem Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman, den Ariern und Rakshasas sowie den Pandus und Kurus vergleichen.“[12]

 

II

MYSTERIUMWISSEN

DER KALEVALA

 

THEOLOGISCHER,

ANTHROPOLOGISCHER UND

SOTERIOLOGISCHER SCHLÜSSEL


 

4. WAR DIE RELIGION DER ALTEN FINNEN NICHT ANIMISMUS?


Wenn der wohlwollende Leser sich von seinem Staunen über unsere bisherigen Ausführungen erholt hat, überkommt ihn vielleicht der Zweifel. Er wird den Kopf schütteln und sagen: „Diese Rede über die Kalevala als heilige Schrift ist ja Unsinn! Die Religion der alten Finnen war doch Animismus und Manismus; sie waren also Natur- und Ahnenanbeter und ihre Weisen waren Hexen und Schamanen. Erst der christliche Glaube hat unser Volk von jenem heidnischen Aberglauben befreit.“
Der Zweifel des Lesers findet tatsächlich seine Bestätigung in der neueren wissenschaftlichen Literatur über die Kalevala und in der Lebensanschauung der alten Finnen. Nehmen wir ein Beispiel aus der jüngsten Zeit: Kaarle Krohn schreibt in seinem Vorwort zur Publikation Suomensuvun uskonnot (die Religionen des finnischen Völkerstammes) ausdrücklich: „Die vergleichende Wissenschaft ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die für alle finnisch-ugrischen Völker gemeinsame Religionsform die Anbetung der Ahnen war.“[13] Das interessante Buch Suomalaisten runojen uskonto (Die Religion der finnischen Runen) von dem oben genannten Gelehrten, das den ersten Teil der o.a. Publikation bildet, erläutert dann ausführlich die religiösen Auffassungen unserer Ahnen. Es beschreibt den finnischen Magier mit seinen Zaubertricks, die Unterwelt mit ihren Bewohnern, die Natur mit ihren Naturgeistern und auch ausführlich den Einfluss der christlichen Lehren auf die alten heidnischen Auffassungen. Das spirituelle Leben der alten Finnen wird dadurch mit einer wissenschaftlichen Bezeichnung versehen: Es ist Animismus, weil die Finnen die Natur belebten und sie gleichsam mit einer Seele (anima) versahen; es ist Manismus, weil sie Geister der Verstorbenen (manes) anbeteten; ferner ist es Schamanismus, weil sie glaubten, dass einige auserwählte Medizinmänner (Schamanen) übernatürliche Kräfte besaßen. Wie könnte also die Kalevala eine heilige Schrift, wie z.B. die Bibel, sein? Der Animismus und Schamanismus unserer Ahnen manifestieren sich natürlich in der Kalevala: Sie ist voll von Beschwörungsformeln, Zaubersprüchen und anbetenden Gefühlen der Natur gegenüber!
Ist nun mit diesem Gegenargument unsere ursprüngliche Aussage über die Kalevala widerlegt? Ja, nach der Meinung der christlich und materialistisch denkenden Menschen vielleicht, aber unserer eigenen Meinung nach durchaus nicht.
Der Autor dieses Buches ist kein ‒ in der akademischen Bedeutung des Wortes ‒ Kalevala-Gelehrter. Wenn er den Mut hat, an seiner eigenen Meinung festzuhalten und sie öffentlich bekanntzugeben, obwohl er sehr gut weiß, dass die Gelehrtenwelt bisher noch eine gegenteilige Ansicht vertritt, so gründet sich das nicht darauf, dass er umfangreichere wissenschaftliche Forschungen getrieben hätte. Für so etwas hat er weder Gelegenheit noch Befähigung gehabt. Seine mutige Meinung gründet sich auf Forschungen ganz anderer Art. Wie diese Forschungen sind, das wird dem Leser dieses Buches sicherlich noch klar. Er möchte nur betonen, dass er von der Richtigkeit seines Standpunktes vollkommen überzeugt ist, während er zweifeln möchte, ob die Gelehrten ebenso sicher sind, dass ihre Schlussfolgerungen richtig sind. Professor Krohn z.B. glaubt, dass die Kalevala um die 700 bis 1100 n.Chr. in Finnland entstanden sei. Das kann höchstens auf die sozusagen förmliche Entstehung der Kalevala zutreffen. Doch die Form der Runen ist nicht die gleiche wie ihr geistiger Inhalt. Die Form kann sich im Laufe der Zeit verändert haben und ihre Entstehung kann festgestellt werden. Doch ihr lebendiger Geist ist uralt und unverändert und ist immer, von Form zu Form, in den Runen verborgen, überliefert worden. Und der Autor dieses Buches bezweifelt auch die allzu große Überzeugung, was auch die förmliche Entstehung der Runen anbelangt. Er glaubt, dass es wenigstens Runenstücke gibt, die Tausende Jahre alt sind. Wir überlassen es der immer fortschreitenden wissenschaftlichen Forschung, die förmliche Entstehung der Runen ausführlicher zu klären.[14]
Selbst wenn wir den heutigen Standpunkt der Gelehrtenwelt in der Kalevala-Frage im Auge behalten, erschüttert es unseren eigenen Standpunkt keineswegs. Als Begründung für unsere Überzeugung dient zum Teil auch die Tatsache, dass wir den geistigen Inhalt der Kalevala erforschen, während die Gelehrten sich in ihren Nachforschungen auf den förmlichen und äußeren Inhalt beschränkt haben. Und, wie bereits gesagt, nur ein durchaus frei denkender Mensch wird unseren Standpunkt a priori verstehen.
Auf dem Gebiet des religiösen Lebens und der Religionen herrscht dasselbe Gesetz der Entwicklung, des Fortschritts und des Rückgangs wie auf anderen Gebieten, und die Forscher haben auf Grund dessen die Phänomene des religiösen Lebens in große Gruppen einteilen können, in denen die Entwicklung von unten nach oben klar ersichtlich ist. Auch das Christentum erhält somit seinen eigenen Platz unter den anderen Religionen. „Wir müssen die Religionen nicht so eingliedern, dass wir das Christentum als die einzig richtige auf die eine Seite und alle anderen als völlig falsche auf die andere Seite stellen; unserer Meinung nach ist keine Religion bloßer Aberglaube und wir sprechen keiner den führenden Einfluss Gottes ab… Im Lichte dieses Entwicklungsprinzips können wir auch am niedrigsten Religionssystem etwas Gutes finden, und wir sehen, dass das Gute und Rechte, nicht das Böse und Falsche, das endgültige Ziel auch der geringsten Religion ist“, sagt die aufgeklärte moderne Forschung.[15] Bei der Klassifizierung der Religionssysteme gerät der Animismus auf die niedrigste Stufe und bildet immer und überall die ursprüngliche Religion der Naturvölker. Vertreter der weiteren Entwicklung sind völkische Religionen, wie z.B. der Jehovakult der Juden, und den höchsten Entwicklungsstand haben die Weltreligionen erreicht, zu denen faktisch nur zwei, der Buddhismus und das Christentum, gezählt werden.
Unser Standpunkt steht keineswegs im Widerspruch zu dieser Klassifizierung. Wir geben zu, dass Entwicklung stattgefunden hat und dass die alten Finnen nach dieser Klassifizierung Anbeter der Natur, also Animisten, waren. Unsere Behauptung hat ein anderes Ziel. Die religiöse Entwicklung der Menschheit ist eksoterischer, d.h. äußerer Natur und ein gesellschaftliches Phänomen; doch neben den exoterischen Religionssystemen haben immer esoterische, d.h. innere religiöse Bestrebungen mitgewirkt, die ein individuelles Phänomen darstellen.
Dieses bedarf einer weiteren Erklärung.
Die Religionswissenschaftler benutzen allerdings ständig Wörter wie Geistwelt, unsichtbare Welt, Gott, Unterwelt, Naturgeist usw., die jedoch sicherlich für manche nur tote Begriffe sind. Sie glauben nicht, dass sie eine Entsprechung in der realen Welt hätten; die unsichtbare Welt als solche ist für sie ein ungelöstes Rätsel. Wir Spiritualisten denken anders. Für uns ist die unsichtbare Welt mit all ihren Kräften und Wesenheiten eine Selbstverständlichkeit. Und weil in der sichtbaren Welt absolute Gesetzmäßigkeit herrscht, müssen wir annehmen, dass auch die unsichtbare Welt kein Chaos, sondern ein geordneter Kosmos ist. Auch darin herrschen unerschütterliche Gesetzte. In seinem körperlichen Wesen ist der Mensch Bürger der sichtbaren Welt und in seinem seelischen und geistigen Wesen gehört er zugleich zur Geistwelt. Der Unterschied liegt nur darin, dass das Verhältnis des Menschen zur physischen Welt gegenständlich, objektiv ist, während ihm die Geistwelt bisher noch nicht als objektive, sondern als subjektive, innere Wirklichkeit erscheint.
Wenn wir aber davon ausgehen, dass die unsichtbare Welt ein gesetzmäßiger Kosmos und der Mensch aufgrund seines eigenen Wesens dessen Mitglied ist, dann gibt es keinen vernünftigen Grund zu behaupten, dass der unsichtbare Kosmos unerforschbar sei. Wir können höchstens zweifeln, ob der Mensch in der Lage ist, ihn zu erforschen; aber haben wir einen guten Grund auch nur dazu? Was wissen wir schon über die Möglichkeiten des menschlichen Geistes? Wer wohl von denen, die behaupten, dass der Mensch das Unsichtbare nicht erforschen kann, hat auch nur versucht, es ernsthaft zu erforschen?
Und wenn wir schon so viel zugeben, warum könnten wir auch nicht zugeben, dass es dem Menschen als Geistwesen schon immer möglich war? Das gesamte religiöse Leben gründet sich ja auf Wehmut und Sehnsucht: auf die Sehnsucht, in eine gute und rechte Beziehung zu den unsichtbaren Kräften des Lebens (zu Gott oder Göttern) zu gelangen, welche Sehnsucht – zur Selbstbewusstheit gelangt – sich als Durst nach Wahrheit und Wissen manifestiert. Es bedurfte also nur, dass jene allgemein menschliche religiöse Sehnsucht in einem Individuum zur Selbstbewusstheit erwachte. Er sah dann sofort ein, dass er nach der Erkenntnis der Wahrheit, dem Wissen über Leben und Tod, dem Wissen über die Wesen und Lebensbedingungen der unsichtbaren Welt suchte. Und der Schritt vom Willen zum Handeln, von der Sehnsucht nach Wahrheit zum Suchen der Wahrheit, war dann nicht lang. „Wer sucht, der findet.“
Jetzt kann man fragen: Woran lag es in den alten, nicht zivilisierten Zeiten, dass ein menschliches Individuum jenen Durst nach der Wahrheit stillen konnte? Es gibt ja auch heute nicht viele, die davon begeistert sind! Wir behaupten auch nicht, dass alle ihre eigene Sehnsucht verstanden hätten. Sie war damals ein genauso seltenes Phänomen wie heute. Doch Gründe, warum einige Individuen es verstanden haben, sind zweierlei: Erstens ist der Mensch, seinem innersten Wesen nach, sich immer gleich gewesen, und die unsichtbare Welt ebenso; sie hat sich aufgrund der Religionen nicht geändert. Der Christ als Individuum steht in keiner anderen Verbindung zu Gott und der Geistwelt als der alte finnische Heide; alle Wandlungen sind nur äußerer Natur oder betreffen einige Fähigkeiten der menschlichen Seele: die Intelligenz schärft sich mit der Kultur, die Gefühle werden komplexer usw., aber das Ich des Menschen bleibt sich immer gleich. Zweitens setzen wir voraus, dass der Mensch immer Hilfe von höheren Wesen erhalten hat; er ist geführt, geweckt, belehrt worden. Und so hat es zu allen Zeiten und überall Individuen gegeben, deren inneres Verhältnis zu Gott und zur Geistwelt sich weit über das Verhältnis der alltäglichen Menschen entwickelt hat – Individuen, die sozusagen den esoterischen, schmalen Weg zur Erkenntnis gegangen sind und den exoterischen, breiten Weg des Glaubens hinter sich gelassen haben.
Solche Menschen sind wahre Wissende und ihre geistigen Erkenntnisse bilden die innere Seele der exoterischen Religionssysteme. Ihr Wissen, wenn sie es offenbaren, kleidet sich naturgemäß in die Form der Mythologie, der Theologie oder der Philosophie, je nach dem, in welcher Zeit, in welcher Umgebung und zu wem sie sprechen.
Wenn wir von der Kalevala sagen, dass sich darin die Weisheit unserer Ahnen widerspiegelt, meinen wir, dass innerhalb deren – wenn auch animistischer – Form Mysterienwissen der alten finnischen Weisen über Geheimnisse der unsichtbaren Welt verborgen liegt. Ihr Wissen an sich ist universell und allgemein menschlich, aber es wurde von finnischen Weisen verschafft und von der finnischen Seele reflektiert; deshalb kann man es als finnische Weisheit bezeichnen.
Die Kalevala, womit wir im weiteren Sinne alle mythologische Poesie der alten Finnen meinen, ist somit ein wahres historisches Denkmal dafür, dass unsere Ahnen an den ewigen Mysterien des Lebens teilgenommen haben.


5. MENSCHEN ODER GÖTTER?


Die Helden der Kalevala wurden von den Forschern manchmal für Götter, manchmal für Menschen gehalten. Im Vorwort der 1551 veröffentlichten finnischen Übersetzung der Psalmen nennt Mikael Agricola[16] „Götzen des Volkes von Häme und Karelien“, darunter Ahti, Äinemöinen (Väinämöinen), Ilmarinen und die Söhne des Kaleva. Sein Standpunkt blieb bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts widerspruchslos gültig. Erst dann begann man zu vermuten, dass Ilmarinen, Väinämöinen usw. vielleicht doch Menschen gewesen waren. Auch Lönnrot, ebenso wie Gottlund[17], waren bereits der festen Meinung, dass Väinämöinen eine historische Person, kein sagenumwobener Gott war. Nach der Veröffentlichung der Kalevala teilten sich die Wissenschaftler in zwei Fronten, von denen die einen, wie Collan[18] und Castrén,[19] später Donner[20] und E. Aspelin,[21] für die Gottheit der Helden der Kalevala waren, während die anderen, wie z.B. Ahlqvist[22], nach ihrem menschlichen Ursprung suchten. Heute herrscht die allgemeine Meinung, dass die in der Kalevala genannten Weisen, Väinä­möi­nen, Ilmarinen, Lemminkäinen usw., historische Personen waren, obwohl die Legende mancherlei Elemente aus Göttersagen um sie gewoben hat.[23]
Unser eigener Standpunkt steht in keinem Widerspruch zu diesen wissenschaftlichen Meinungen. Wir freuen uns über jeden Sieg der Wissenschaft. Wir sind überzeugt, dass die Helden der Kalevala historische Personen waren; wir glauben sogar, dass die Namen generisch, d.h. eine Art Familiennamen sind, wie Hermes (Thot) in Ägypten und Zarathustra in Persien, dass also Menschen namens Väinämöinen, Ilmarinen usw. in verschiedenen Zeiten gelebt haben. Wir sind jedoch zugleich davon überzeugt, dass die Namen ursprünglich keine „Götzen“, wie Agricola sagt, also keine Götterwesen, sondern göttliche Kräfte, schaffende Hierarchien, d.h. „himmlische Heerscharen“ dargestellt haben. Eine solche Verwechslung der Namen und der Begriffe kommt in der Geschichte der geistigen Bewegungen häufig vor.  
Es ist ja eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache ‒ z.B. was die isländische Edda-Saga betrifft ‒ dass gewisse mythologische Namen ursprünglich Namen historischer Personen waren, wie z.B. Brage, der Gott der Poesie, der Name eines bekannten isländischen Poeten war. Andererseits sind aus z.B. dem allgemeinen jüdischen Namen Messias und dem griechischen Verbal-Adjektiv Christos (der Gesalbte), wie auch aus dem Heiland, Bezeichnungen einer bestimmten Person geworden, so dass die Christen, wenn sie von Messias, Christus oder dem Heiland sprechen, damit ausschließlich Jesus von Nazareth meinen.
Wir behaupten also, was die Namen der Kalevala betrifft, dass z.B. Väinämöinen eine bestimmte göttliche Hierarchie bezeichnet, selbst wenn es zugleich historische Personen namens Väinämöinen gegeben hat. Welche von den beiden Namensgebungen ursprünglicher ist, spielt dabei keine Rolle. Vermutlich hat Väinämöinen, wie z.B. auch Christus, eine bestimmte göttliche Kraft dargestellt und wurde deshalb als Name für Personen gewidmet, in denen sich diese Kraft in besonderem Maße geäußert hat. Es ist auch möglich – das sei als Trost denen gesagt, die diese Theorie für eine Phantasterei halten, obwohl wir sie für richtig halten – dass Väinämöinen zuerst ein Personenname gewesen sei und mit diesem Namen später eine solche göttliche Eigenschaft oder Funktion dargestellt wurde, von der der ursprüngliche Namensträger das typische Beispiel war.[24]
Wenn wir den geistigen Hintergrund der Kalevala, also die in den Runen verborgenen Mysterienbilder kennenlernen möchten, müssen wir vor allem herausfinden, welche göttlichen Kräfte die Haupthelden und die Eigenschaftsnamen vertreten. Das Weltbild der Kalevala wird nicht mit klaren Worten der Philosophie dargestellt, sondern ist in poetische und konkrete Formen der bildlichen Sprache gekleidet. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit dabei nicht auf die realistischen kleinen Details richten, sondern eher große Umrisse und weite Perspektiven suchen. Wir sollten die roten Fäden finden, die durch die zahlreichen Runen laufen.
Unsere erste natürliche Frage lautet: Spricht uns die Kalevala von Gott, und was spricht sie von Gott? Christlich gesinnte Leser würden sofort antworten, dass die Kalevala natürlich nicht von Gott spricht, denn die alten finnischen Heiden wussten nichts von dem einen einzigen monotheistischen Gott. Oberflächlich betrachtet mag es auch so aussehen. Im christlichen Sinne spricht die Kalevala nicht von Gott. Aber ist es dennoch sicher, dass die Kalevala nichts von Gott weiß?
Lasst uns ein wenig nachdenken. Lasst uns den überheblichen und mit vielen Worten definierten „Glauben“ vergessen und lasst uns fragen: Was wissen wir denn von Gott? Was wissen wir von dem Ursprung allen Lebens und Seins? Was wissen wir von dem Vater und Schöpfer, der die Welten in sein Schoss aufnimmt? Unser Glaube kann flüstern: „Er ist die Liebe“. Aber unser Verstand muss zugeben, dass wir von ihm nichts anderes wissen, als was er von sich selbst in der Welt offenbart hat. Wir sehen ihn in seinen Werken. In ganz Sibirien herrschte früher der Glaube, dass es dem Menschen unmöglich war, sich dem höchsten Gott mit Gebeten zu nähern.[25] Es ist keinem Philosophen gelungen, ihn zufriedenstellend zu beschreiben, denn er steht über allen Bildern. Die alten indischen Vedantisten, die die Spitze des philosophischen Denkens erreichten, sagten, dass man den absoluten Parabrahman in keiner Weise definieren konnte; das einzige, was man von der Gottheit sagen konnte, war neti, neti, „es ist weder so, noch so“. Nur den offenbarten Schöpfer, den Brahman, konnte der Mensch einigermaßen verstehen, beschreiben und anbeten.
Vertritt vielleicht auch die Kalevala denselben Standpunkt; offenbart sich vielleicht auch ihre Weisheit ausgerechnet in ihrem Schweigen? Auch sie spricht nicht von Gott an sich, weil unser Verstand von Gott nichts sagen kann; weil Gott das Leben ist, das man nur kennenlernen kann, indem man lebt; auch die Kalevala beschreibt nur Offenbarungen Gottes in der Welt, d.h. in der unsichtbaren Welt, wie es dem geistigen Wissen gebührt. Die Kalevala spricht von Gott nicht mit Worten, weil sie selbst eine Manifestation des göttlichen Mysterienwissens ist.
Was bedeutet das Wort Kalevala?
Als Substantiv bedeutet es natürlich „Land, Heimat des Kaleva“, aber wenn es auch ursprünglich ein Adjektiv gewesen ist, wie z.B. ‒ nach der Meinung der späteren Forscher ‒ „Gott“, so kann es die Bedeutung „mit Eigenschaften des Kaleva versehen“ gehabt haben (vgl. vetelä [Wässrig], eine Ableitung von vesi [Wasser]). Und was bedeutet das Wort Kaleva? Lönnrot vermutete, dass Kaleva „etwas Furchtbares, etwas Mörderisches“ bedeute „und zur gleichen Wortfamilie wie die Wörter kalpa (Schwert), kalma (Tod) Kallo (Schädel), kalu (Gerät), kuolen (ich sterbe)“[26] gehöre. Später meinte er, dass es aus dem russischen Wort golova (Kopf) käme. Castrén wiederum verglich es mit dem türkischen Wort alep (Held). Heute verbinden es die Linguisten, wie auch Ahlqvist, mit dem lettischen Wort kálvis (Schmied). Das estnische Wort kalev bedeutet Herrenanzug.[27] Nach dieser letzteren Erklärung würde das Wort Kaleva wie der Schmied und der Herr klingen. Indem wir daran fest halten, stellen wir die Frage: Was schmiedet Kaleva ‒ als Mysterienname verstanden ‒ und wessen Herr ist er? Und wir antworten darauf: Zweifellos schmiedet er die Welt und ist Herr über die Welt. Den Herren und Schöpfer der Welt (den Schmied) nannte man Kaleva.[28] Man sprach ja vom „Feuer des Kaleva“ (Blitz), wie man heute vom Feuer des Herren spricht, und so gesehen verstehen wir auch die Erklärung Lönnrots. „Der Baum des Kaleva“ war der heilige Baum. Das Wollgras wird „das Haar des Kaleva-Sohnes“ genannt, und das wird mit dem alten Recht der freien Familien, sich das Haar wachsen zu lassen, erklärt. Warum könnte es auch nicht darauf hinweisen, dass die alten eingeweihten Propheten, „die Söhne Gottes“ (z.B. die jüdischen Nazire), sich das Haar frei wachsen ließen?
Als Adjektiv würde kalevala in diesem Fall „mit den Eigenschaften des Herren (Gottes) versehen“ oder einfach „göttlich“ bedeuten, und als Substantiv „Land, Heimat des Schöpfers oder des Herren“, womit die höchsten Sphären des Lebens, die oberen Regionen der unsichtbaren Welt, gemeint wären. Vom altfinnischen Geist inspiriert wählte Lönnrot also für sein Buch den Namen, der ‒ an Dantes Divina Commedia erinnernd ‒ für den, der an die Kalevala als eine heilige Schrift herantritt, voller Versprechungen ist.
Denn auch ihrem Namen nach spricht die Kalevala von göttlichen Mysterien.


6. DIE HEILIGE DREIHEIT


„Ich glaube an den dreifaltigen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist“, sagt der Christ und meint, dass dieses Glaubensbekenntnis einzigartig, sehr geistreich und tiefsinnig ist. Er ist überrascht, wenn er die Erklärung der vergleichenden Religionswissenschaft hört, nämlich dass die Dreiheitslehre keine einzig und allein christliche Lehre ist, sondern auch in zahlreichen „heidnischen“ Religionen anzutreffen ist.
In der frühindischen vedischen Religion gab es die Götterdreiheit Indra‑Varuna‑Agni. Indra war der Gott des Himmels, Varuna der Gott des Wassers und Agni der Gott des Feuers. Eine andere Dreiheit jener Zeit war Vayu (Luft), Agni (Feuer) und Surya (Sonne). Später, nachdem die die Begriffe durch philosophisches Denken exakter definiert wurden, nannte man die Dreiheit Trimurti, die „Dreigestalt“, und die göttlichen Personen der Dreifaltigkeit Brahma, Vishnu und Shiva (Schöpfer, Bewahrer und Zerstörer). „Lerne, du Gerechter, dass es zwischen uns in Wirklichkeit keinen Unterschied gibt; was dir so erscheint, ist nur äußerer Schein. Das einzig Seiende erscheint in drei Gestalten, ist aber nur eins“, sagte man im alten Indien.
Eine bekannte ägyptische Dreiheit war Osiris-Isis-Horus, aber im alten Ägypten gab es ‒ je nach Zeit und Ort ‒ auch andere Dreiheiten. In Theben wurde die Dreiheit Amon, Mut und Chonsu angebetet. Die eigentliche ägyptische Dreiheit war Osiris, Kneph und Ptah. Ptah wurde insbesondere in Memphis angebetet und bildete dort mit Nefertem und Sechmet die heilige Dreiheit.
Im alten Babylonien hieβ die bedeutendste göttliche Dreiheit Anu, Bel und Ea; eine andere war Šamaš, Sin und Ištar (Sonne, Mond und Abendstern). Im alten China opferten die Herrscher jedes dritte Jahr „dem, der eins und drei ist“. Und ein Spruch lautete: „Fo ist eine Person, besitzt aber drei Gestalten.“ Im alten Skandinavien gab es die Götterdreiheit Odin, Thor und Freya, und auch Odin, Freya und deren Sohn Balder. Jüdische Kabbalisten sprachen von den drei höchsten Sefiroths. Sie hieβen Kether (Krone), Chochmah (Weisheit) und Binah (Verstand) und waren alle aus En Sof geboren und darin eins.
Diese Beispiele, von denen noch weitere aufgezählt werden könnten, werden wohl ausreichen, um zu beweisen, dass die Dreiheitslehre nicht christlichen Ursprungs ist. Aus dieser Tatsache können wir schließen, dass, wenn die heidnischen Lehren Aberglaube sind, das Gleiche auch für das Christentum gilt. Wenn aber die Dreiheitslehre selbst wahr ist, wenn sie also mit der Wirklichkeit der Natur und des Lebens übereinstimmt, dann stammen die heidnischen Lehren aus derselben Erkenntnis und Weisheit wie die christlichen. Wir müssen wohl kaum sagen, dass unser Standpunkt zur letzteren Annahme neigt.
Eine Bedeutung der Dreiheitslehre wird jedem ohne Weiteres einleuchten. Auch die Vorstellungskraft des einfachen Volkes reicht aus, um die Dreiheit zu verstehen, die, wie die Ägypter sagten, mit „Vater, Mutter und Sohn“ ausgedrückt wurde. Beim Nachdenken über den Ursprung der Welt erhielt das Volk eine zufriedenstellende Antwort aus der Lehre, dass die Welt der Sohn war, der aus dem göttlichen Vater und der göttlichen Mutter geboren war. Und auch ein tiefer denkender Mensch musste nur die Wörter „Vater“ und „Mutter“ philosophisch begreifen, um ebenfalls eine vollkommen richtige Erklärung über die Entstehung der Welt zu bekommen. Wenn er anstatt des „Vaters“ an das Bewusstsein und anstatt der „Mutter“ an die Materie dachte, so war der „Sohn“, d.h. die Welt, tatsächlich das Ergebnis der gemeinsamen Tätigkeit dieser zwei Urquellen. Das Bewusstsein an sich ist wie das Prinzip der Unendlichkeit und der Ewigkeit und die Materie wie die Möglichkeit der Begrenzung. Doch die Welt ist wie das in vergänglichen Formen gefesselte ewige und grenzenlose Leben. Die Philosophie kann wohl den Ursprung des geoffenbarten Daseins kaum vernünftiger erklären.
Die Dreiheitslehre hat jedoch eine andere, vernünftigere und geheimwissenschaftlichere Bedeutung. Damit wurde uns nämlich ein Stück göttlicher Psychologie gegeben, und in deren Licht wird die Bezeichnung Dreiheit verständlich. Die Dreiheit stellt somit ein einziges göttliches Gruppenbewusstsein dar, ein „Wesen“ in seinen drei verschiedenen Funktionen oder „Personen“, wie die christliche Theologie sagt.
Beim Erforschen der inneren Welten trifft der Wissende nämlich endlich auf ein Wesen, das als Vater und Schöpfer das gesamte Sonnensystem in seinen Schoss aufnimmt. Diese mächtige Person ist nicht der Anfang und der Ursprung des gesamten Universums und des Seins; er ist der geoffenbarte Gott, der mächtigste Herrscher unseres Sonnensystems, aber nur einer der unzähligen Götter, die das Universum bevölkern; die höchsten Wesen der anderen Sonnensysteme sind seine Brüder. Hinter ihm und den Seinesgleichen steht der ewige Vater des Universums, die geheime Gottheit, von der man, wie gesagt, nichts wissen kann. Am Anfang des Johannes Evangeliums wird diese Verbindung schön und mit einfachen Worten geschildert; Das Wort Logos als die Bezeichnung der geoffenbarten Sonnengötter wurde daraus in die theosophische Literatur übernommen. „Im Anfang war das Wort (Logos, Vernunft), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.” Gott ist hier das unendliche, geheime Leben, das die Möglichkeiten des Bewusstseins und der Materie in sich verbirgt. Der Logos ist die geoffenbarte, sozusagen individuelle Vernunft, das Bewusstsein, das mit Hilfe der im Gott verborgenen Möglichkeit der Materie, der Begrenzung, die Welt erschafft.
Dieser Logos, der geoffenbarte Gott, ist dreifaltig, und die Dreifaltigkeit ist vor allem eine psychologische Tatsache. Die Weisen waren sich schon immer einig, dass der Mensch ein Mikrokosmos, die Welt in Kleinformat, „zum Bild Gottes geschaffen“, ist. Deshalb kann der Mensch, indem er seinen eigenen Geist erforscht, auch ‒ wie Paulus sagt ‒ die Tiefen Gottes erforschen und verstehen.
Jeder Mensch ist in seinem Seelenleben ein dreifaltiges Wesen. Die europäische Seelenkunde beschreibt das Gleiche, indem sie sagt, dass das menschliche Bewusstsein aus drei Faktoren, nämlich aus Erkenntnis, Wille und Gefühl, besteht. Die spätere Psychologie hat allerdings teils mehrere Aspekte gefunden, teils den Willen für nichtig erklärt. Dadurch wird jedoch die alte Einteilung keineswegs aufgehoben, denn es scheint, dass es sich mehr um Bezeichnungen als um Tatsachen handelt.[29] Dass die Einteilung als solche keine begriffliche, sondern eine realistische Tatsache ist, erkennt man z.B. an den inneren Konflikten, bei denen das Ichbewusstsein sich so spaltet, dass der Mensch nicht weiß, „was er will“ oder „was er wählen sollte“. Er kann sich jedoch ein solches Seelenleben als ein Ideal vorstellen, in dem die Erkenntnis, d.h. die Vernunft, der Gedanke, immer Hand in Hand mit dem Gefühl ginge und der Wille, d.h. die Handlung, immer im Einklang mit dem Denken und dem Gefühl wäre und wo alle drei gemeinsam dem höchsten göttlichen Ziel dienen würden.
Um auf unsere unvollkommene Weise die Psychologie des geoffenbarten Gottes, des Logos, zu verstehen, müssen wir uns ein solches vollkommen harmonisches Seelenleben vorstellen. Auch Gott ist ein wollendes, fühlendes und wissendes Wesen, und in ihm haben sich diese Eigenschaften, diese Wesensteile zum höchsten Grad entwickelt. Der Wille Gottes ist wie eine besondere Person, und so ist auch das Gefühl und die Vernunft Gottes; wir können sogar von einem kollektiven Bewusstsein sprechen und sagen, dass der Logos eine Ansammlung großer himmlischer Hierarchien, die Summe zahlreicher Einzelbewusstseine ist; gleichzeitig müssen wir aber bedenken, dass alle Personen und Hierarchien im Grunde ein einziges selbstbewusstes, edles, mächtiges Bewusstsein bilden.
Den Logos als Wille, als erschaffender Wille, nennt die christliche Theologie den „Vater“; den Logos als Gefühl, als liebendes Gefühl, nennt sie den „Sohn“ und den Logos als Erkenntnis, als tätiger Gedanke, als organisierende Vernunft den „Heiligen Geist“.[30] (In der hinduistischen Kosmogonie entspricht z.B. Brahma den Heiligen Geist, Vishnu den Sohn und Shiva den Vater, denn der Neues erschaffende Wille ist zugleich der Zerstörer des Alten.)
Welchen Standpunkt in dieser Frage vertrat nun die Weisheit der alten Finnen? Kannten sie den Logos und seine Dreifaltigkeit? Was lehrt uns die Kalevala in dieser Hinsicht?
Die Dreiheit des Logos äußert sich in seiner Tätigkeit. Lasst uns also sehen, was die Kalevala über die Erschaffung der Welt und deren Vervollkommnung, oder ‒ wie die christliche Theologie sagt ‒ über das „Erlösungswerk Gottes“ lehrt.


7. „GEBOREN VON DER JUNGFRAU“


Wenn wir zuerst die göttliche Dreiheit ‒ das Bewusstsein, die Materie und die aus diesen beiden geborene Form, die Welt ‒ betrachten, sehen wir, dass diese drei Faktoren in der Schöpfungsgeschichte der Kalevala ihren Platz finden. Die Schöpfungsgeschichte ist somit eine Erzählung über die Geburt des Väinä­möi­nen, wie R. Engelberg[31] ganz richtig bemerkt,[32] allerdings in einer anderen Bedeutung, und wir müssen dieses bemerkenswerte Ereignis nur im Auge behalten, denn Väinämöi­nen vertritt hier das geoffenbarte Leben, die Welt.
In beiden Kalevala-Ausgaben wird die Mutter des Väinämöi­nen genannt; in der alten nur nebenbei, in der neuen ausführlich, doch in der alten wird nichts über den Vater des Väinämöinen erzählt, der nach der neuen Kalevala der Wind ist. Hier haben wir nun die ursprüngliche Dreiheit: den Wind als Vater, Ilmatar (Lüftetochter) als Mutter und Väinämöinen als Sohn. Der Wind steht für das Bewusstsein, den Geist, Ilmatar, „Veen emonen“ (Wassermutter)[33] für die Materie und Väinämöinen, wie gesagt, für die Welt, und die ganze Beschreibung erinnert uns an die jehovistische Kosmogonie am Anfang des Buches Genesis: „Der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“

Tuli suuri tuulen puuska,
Iästä vihainen ilma,
Meren kuohuille kohotti,
Lainehille laikahutti.
Tuuli neittä tuuitteli,
Aalto impeä ajeli
Ympäri selän sinisen,
Lakkipäien lainehien;
Tuuli tuuli kohtuiseksi,
Meri paksuksi panevi.

Fing ein Sturmwind an zu blasen,
Aus dem Osten wildes Wetter,
Treibt das Meer zu wildem Schäumen,
Daß die Wellen wüthend wogen.
Sturmwind wiegte dort die Jungfrau,
Mit ihr spielt des Meeres Welle
Auf dem blauen Wasserrücken,
Auf den weißbekränzten Fluthen;
Schwanger blies der Wind die Jungfrau
Und das Meer verlieh ihr Fülle. [1. Rune]

Wenn dann die Mutter des Väinämöinen sich bei ihren Geburtswehen an Ukko, den Obergott, wendet und um Hilfe bittet, ist das wie ein Hinweis darauf, dass hinter allen Schöpfungskräften und allen bewussten Wesen die geheime Gottheit steht, von der in der Kalevala nichts Weiteres gesagt wird.
Prof. Krohn mit seiner Schule[34] erklärt allerdings die gesamte Schöpfungsrune und die Geburt des Väinämöinen für nichtig und findet deren ursprüngliche Elemente in Krankheitsentstehungsrunen, in Schaukelliedern und wer weiß wo noch.[35] Das mag förmlich richtig sein ‒ ich kann es nicht beurteilen ‒ betrifft aber nicht den Geist der Rune. Im Geist der Rune ist das ursprüngliche Mysterienbild so klar zu erkennen, dass es sich hier um keinen Zufall handeln kann. Und diese ganze Beschreibung enthält einen Zug, der deutlich beweist, dass der Geist der Rune aus den mystischen Welten der Erkenntnis stammt.
Wenn wir über diese Dreiheit, die sich in den Weltschöpfungsgeschichten äußert, genauer nachdenken, bemerken wir, dass die Interpretation, dass der „Sohn“ die Welt sei, zu unbestimmt und zu oberflächlich ist. Aus der Vereinigung des Bewusstseins und der Materie entsteht nicht ohne Weiteres die Welt. Die Unendlichkeit des Geistes und die Möglichkeit der materiellen Begrenzung vereinigen sich in dem sozusagen individuellen Bewusstsein, das der Schöpfer oder der Logos nenannt wird. Die ursprüngliche Dreiheit ist so gesehen nicht Bewusstsein, Materie und Welt, sondern Bewusstsein, Materie und der geoffenbarte Schöpfer, der wiederum der Anfang und der Ursprung der Welt ist.
Der „Sohn“ wird deshalb ganz richtig als eine lebende Person, Väinämöinen, dargestellt, der dann die Welt erschafft. Väinä­möi­nen ist der „Groβe Mensch“, Adam Kadmon, Makroprosopos (das „große Gesicht“), zu dessen „Bild“ der Mensch erschaffen wurde; er ist der Weltgeist, der Logos, aus dessen Meditation und Gesang der geoffenbarte Kosmos entstanden ist. Die neue Kalevala[36] lässt Väinämöinen erst nach der Erschaffung der Welt aus dem Bauch seiner Mutter hervortreten; die alte Kalevala hingegen, nach der Väinämöinen zuerst geboren wird und sich dann an der Erschaffung der Welt beteiligt, entspricht aus dieser Sicht gesehen eher dem ursprünglichen Mysterienbild.[37] 
Das beweiskräftigste Element in dieser Beschreibung ist die Jungfräulichkeit der Mutter des Väinämöinen und seine de facto Vaterlosigkeit. Die Mutter wird nämlich als ein lebendiges, persönliches Wesen dargestellt; der „Wind“, wie auch der „Heilige Geist“ machen hingegen einen völlig abstrakten Eindruck.
Mächtig sind die Anfangsworte der Kalevala:

Yksin meillä yöt tulevat,
Yksin päivät valkeavat,
Yksin syntyi Väinämöinen,
Ilmestyi ikirunoja
kapehesta kantajasta,
Ilmattaresta emosta.

Einzeln nahen uns die Nächte,
Einzeln leuchten uns die Tage,
Einzeln ward auch Wäinämöinen,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Von der schönen Lüftetochter,
Die ihm Mutter war, geboren. [1. Rune]

Prof. Krohn behauptet, dass die zwei ersten Verse von woanders übernommen wurden und der dritte von Lönnrot hinzugefügt wurde.[38] Es sei dem so. Lönnrot hat in diesem Fall wie ein echter Runensänger, wie ein alter Weiser verfahren. Seine Inspiration ‒ weil wir wohl kaum von seinem Wissen reden können ‒ war richtig. Mit jenen Versen beschrieb er die Geburt des „einzigen, d.h. des einzig geborenen (monogenes) Sohnes Gottes“. Darin erkennt man deutlich das alte Mysterienlied über die Geburt des Logos, die „allein“ geschieht, sowohl in dem Sinne, dass er im Anfang der Zeit die erste und die einzige Manifestation ist, als auch in dem Sinne, dass er in übernatürlicher Weise allein aus der Mutter geboren wurde.
Die Behauptung der Schule Krohn, nach der die Erzählung der Kalevala über die jungfräuliche Geburt des Väinämöinen vom Christentum entlehnt sei, ist weit hergeholt und überflüssig, denn in alten Religionen treffen wir immer auf diese aus den Mysterien entnommene Auffassung über die jungfräuliche Geburt.
In Ägypten war Osiris von der himmlischen Mutter, der Jungfrau Neith, geboren und Horus war der Sohn der Jungfrau Isis. In Babylon war Tammuz, der Sommergott von Eridu, der „einzige Sohn“ der Göttin Ea; die Göttin Ea hat auch die Paralellnamen Ištar, Astarte und Mylitta. In Persien war Zarathustra vom Strahl der göttlichen Vernunft gezeugt, und seine Mutter war Jungfrau. Im alten Mexiko war Quetzalcoatl ebenfalls von der Jungfrau Chimalma geboren, und In Yucatan war Bacab, der als Heiland angebetet wurde, von der Jungfrau Chiribirias geboren. Das Gleiche gilt für den aztekischen Sonnengott Huitzilopochtl. In Indien war Devaki, die Mutter Krishnas, Jungfrau; Maya, die Mutter des Gautama Buddha, ebenfalls, wie auch Jesus Christus von der Jungfrau Maria geboren war. Diese Geschichten sind, wenn es sich um historische Personen handelt, natürlich nur Legenden und entsprechen nicht der Wahrheit; wenn aber die Personennamen symbolisch verstanden werden, als Vertreter der göttlichen Kräfte, dann ist die jungfräuliche Geburt eine treffende und poetische Darstellung der mächtigen Tatsache der Geistwelt. In der christlichen Theologie ist ja auch Christus das gleiche wie der Logos oder das Wort, durch das die Welt erschaffen wurde. Auch in Indien wird Krischna für Avatara, die Verkörperung der zweiten göttlichen Person Vishnu, gehalten; er wird Hari, Retter (aus Sünden), genannt. Seine Mutter Devaki spricht ihn mit den Worten „Du Gott der Götter, der du alles in allem bist“ an. In Ägypten wurden Osiris und Horus der „König der Könige“ und der „Herr der Herren“ genannt; Osiris hieß auch der „Herr des ganzen Landes“. Als historische Person wurde Väinämöinen natürlich wie alle Menschen geboren, doch Väinä­möi­nen als Gott und Sonnenlogos war der Sohn der schönen Lüftetochter.


8. DIE SCHÖPFUNGSARBEIT


Wissenschaftler behaupten oft, dass die Erklärung der Weltentstehung, bevor Kant das Thema auf naturwissenschaftlicher Basis zu ergründen anfing, lediglich auf philosophischen Spekulationen oder Vermutungen beruhte. Nachdem aber der französische Astronom Laplace Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Beobachtungen und Schlussfolgerungen des deutschen Philosophen ergänzt und weiterentwickelt hatte, war auch die Kosmogonie zum wissenschaftlichen Forschungsobjekt geworden und hatte ihren Platz unter den Wissenschaften als einen Zweig der Astronomie eingenommen.
Die Kant-Laplace-Theorie erklärt, wie wir wissen, dass die Sonnensysteme ihren Anfang in der Nebulosa, dem Sternennebel, haben, in denen eine Kreisbewegung um das dichtere Zentrum herum entsteht. Die Sonne ist ursprünglich eine gigantische, sich um ihre Achse drehende Gaskugel, von deren Oberfläche sich kleinere, sich in die entgegengesetzte Richtung drehende kleinere Kugeln ablösen. Diese Kugeln bilden sich zu Planeten, die sich um die Zentralsonne drehen.
Diese während des gesamten vergangenen Jahrhunderts geltende Hypothese, gegen die H. P. Blavatsky in ihrer Geheimlehre vergebens ernsthafte Bemerkungen machte, gilt heute nicht mehr als wissenschaftlich vollkommen richtig. Man hat Beobachtungen gemacht, die einige Punkte der Kant-Laplace-Theorie umwerfen, und man hat neue kosmogonische Erklärungsversuche präsentiert, jedoch ohne dass irgendeine Theorie bis jetzt allgemeine Anerkennung gefunden hätte. Die überheblichen Worte von Laplace an Napoleon, der, nachdem er die Welterklärung des Astronomen gehört hatte, fragte, wo denn Gott seinen Platz finde, „wir brauchen diese Hypothese nicht“, sind in Nichtigkeit versunken. Die Wissenschaftler haben das Welträtsel mit einer rein mechanisch-materialistischen Erklärung nicht lösen können. Gott, der Weltgeist, der Wille, der erste Beweger, ist dennoch notwendig. Die alten Weisen, die das Weltall mit Göttern und lebenden Wesenheiten bevölkerten, liegen der Wahrheit näher als die gelehrten aber geistig blinden Materialisten.
Wir haben keinen Grund, die alten religiösen Weltentstehungslehren der Völker für Kindermärchen zu halten. Deren Form mag uns kindhaft und „unwissenschaftlich“ vorkommen, aber wenn wir das hinter der Form versteckte Mysterienbild erblicken, sehen wir, wie übereinstimmend sie sind, und verstehen, dass sie uns Dinge über die Entstehung der Welten enthüllen, die für die Wissenschaft mit ihren heutigen Methoden unerreichbar sind. Die alten Kosmogonien, anstatt die scheinbar mechanischen Prozesse zu schildern, in denen das Sonnensystem physisch entsteht, enthüllen uns Dinge der unsichtbaren Welt, die diese physische Entstehung hervorrufen. Mit anderen Worten: Sie beschreiben den Anfang und die Entwicklung der Welt vom Standpunkt Gottes, nicht des Menschen aus gesehen. Und wer sonst als ein vom heiligen Geist der Wahrheit erfüllter Weiser würde es wagen, die Tiefen Gottes zu erforschen? Die Entstehung der Welt hat man immer die „Erschaffung der Welt“ genannt. Die Erschaffung ist aktive Tätigkeit und setzt immer einen Akteur, einen Schöpfer, voraus. Der ganze Prozess ist Arbeit eines lebendigen Schöpfers.
Diese Arbeit ist jedoch keine unverständliche oder sinnlose Verzauberung aus dem Nichts. Aus dem Nichts entsteht nichts. Alles Seiende ist gewesen und wird sein. Die Materie als ursprünglich Seiendes ist ebenso ewig wie der Geist oder das Bewusstsein, und beide sind in der nicht geoffenbarten absoluten Gottheit in ihrem Wesen eins. Die Schöpfung ist Arbeit göttlicher, intelligenter Wesen zur Verwirklichung ihrer Ideen und Inspirationen mit Hilfe der Naturkräfte, die wir mit dem Sammelbegriff Materie oder Stoff bezeichnen. Die Schöpfung ist künstlerische Tätigkeit. Lasst uns jetzt betrachten, wie die finnischen Weisen die Schöpfungsarbeit geschildert haben; zugleich sehen wir dann, wie sich die göttliche Dreiheit in der Dreiheit des Schöpfers, des Logos, d.h. in den drei Stufen seiner künstlerischen Schöpfungsarbeit manifestiert.
Wir befolgen den Text der neuen Kalevala und sehen sofort, dass die Schöpfung sich in drei Stufen vollzieht: 1) die Konzeption, 2) die Schwangerschaft und 3) die eigentliche Schöpfungsarbeit. Weil die gesamte Schöpfung Arbeit des Logos, des Väinä­möi­nen, ist, müssen wir beachten, dass die anderen Wesen, die hier vorkommen, nur Parallelnamen des Väinämöinen sind, die verschiedene Aspekte seines Wesens zum Ausdruck bringen. Anstatt Lüftetochter können wir also von Väinämöinen sprechen (vgl. Veen emonen [Wassermutter] > Väinämöinen).
„Einzeln ward auch Wäinämöinen… Von der schönen Lüftetochter, die ihm Mutter war, geboren“, erzählt die Kalevala, und diese Worte enthüllen uns bereits eine ganze Welt des geheimen Wissens. In der alten Kalevala heißt es noch, dass Väinämöinen in der Nacht geboren wurde und am Tag in die Schmiede ging. Väinämöinen, der Logos, war also bereits bei seiner Geburt alt, weise, Kenner des ewigen, geheimen Wissens („Zaubersprecher“). Mit diesen Worten wurde kurz zum Ausdruck gebracht, dass der Schöpfer früher gelebt hatte. Vielleicht hatte er sich in der fernen Vergangenheit entwickelt und weise geworden ‒ in der Vergangenheit vor dem Zustand des Nichtstuns, in dem er jetzt seine Zeit verbrachte. Das geht aus den Anfangsworten hervor:

Piti viikoista pyhyyttä,
Iän kaiken impeyttä,
Ilman pitkillä pihoilla,
Tasaisilla tanterilla.

Trug gar lang’ ihr einsam Dasein,
Alle Zeit ihr Mädchenleben
In der Lüfte langen Räumen,
Auf den flachgebahnten Fluren. [1. Rune]

Der Schöpfer, Väinämöinen, hatte, nach der Beendigung einer früheren Arbeit, in der nicht geoffenbarten Welt des reinen Bewusstseins geruht. In diesem Zustand wurde ihm das Leben allmählich langweilig.

Ikävystyi aikojansa,
Ouostui elämätänsä,
Aina yksin ollessansa,
Impenä eläessänsä,
Ilman pitkillä pihoilla,
Avaroilla autioilla.

Einsam ward ihr dort das Leben
Und das Sein gar unbehaglich,
Immerfort allein zu weilen,
So als Jungfrau dort zu wohnen
In der Lüfte langen Räumen,
In der weitgestreckten Öde. [1. Rune]

Der Schöpfungswille erwachte in ihm wieder. Im Herzen des Schöpfers erwachte die Idee zur Schöpfung einer neuen Welt; es geschah eine künstlerische Konzeption des Schöpfers; der sog. „erste Logos“, der Weltwille, wurde geboren.

Jop’ on astuiksen alemma,
Laskeusi lainehille,
Meren selvälle selälle,
Ulapallen aukealle.

Nieder ließ sich da die Jungfrau,
Senkt sich auf des Wassers Wogen,
Auf des Meeres klaren Rücken,
Auf die weitgedehnte Öde. [1. Rune]

Nachdem das Bild der zukünftigen Welt im Augenblick der ersten Inspiration in den Augen der göttlichen Vorstellung erst einmal erschienen ist, vollzieht sich aus der Welt des reinen Bewusstseins der „Abstieg in die Materie“. Der Logos umgibt sich mit dem im Absoluten ruhenden Urchaos,  das die Kosmo­-
gonien oft das „Meer“ nennen.[39] Die in der Welt des Bewusstseins entfachte Idee und die vom Logos gesammelten Bestandteile, die dieser Idee eine Form geben müssen, versetzen den Logos in den Zustand der Schwangerschaft. Er ist jetzt zweifach, spürt Schmerzen in seinem Inneren und versucht, für seine Schöpfungsidee mit Mühe und Not eine Form zu finden. Die inspirierende Idee hat in ihm die Liebe erweckt. Vom Vater, dem Willen, ist die Mutter, das Gefühl, geboren, und die Mutter liegt nun ihrerseits in Geburtswehen.

Vieri impi Väinämöinen,
Uipi iät, uipi lännet,
Uipi luotehet, etelät,
Uipi kaikki ilman rannat,
Tuskissa tulisen synnyn,
Vatsan vaivoissa kovissa;
Eikä synny syntyminen,
Luovu luomatoin sikiö.

Also schwamm als Wassermutter
Bald nach Osten, bald nach Westen,
Bald nach Norden, bald nach Süden,
Sie zu allen Himmels Rändern,
Angstvoll ob der Frucht des Windes,
Bei des Leibes argen Schmerzen,
Ohne daß das Kind geboren,
Daß zum Vorschein es gekommen. [1. Rune]

Welch eine ausgezeichnete Psychologie! Auch ein menschlicher Schöpfer ‒ Dichter, Künstler oder Erfinder ‒ gerät, wenn er seine Vision verwirklichen will, nach der ersten wunderbaren Idee in diesen schmerzlichen Zustand. Manch einer denkt vielleicht in diesem Zustand wie Väinämöinen („Lüftetochter“),

Parempi olisi ollut
Ilman impenä eleä,

„Besser wäre es gewesen,
Wär’ ich Jungfrau in den Lüften, [1. Rune]

und betet zu seinem inneren Gott: „Lös’ das Mädchen von den Qualen, Von den Wehen du die Jungfrau.“ Die schöpferische Stimmung hat sich noch nicht zur schöpferischen Vernunft verwandeln können, und das nennt man den „zweiten Logos“, das Weltgefühl, das seinem Wesen nach männlich-weiblich, Geist und Materie, ist.
Es bedarf Hilfe, und die Hilfe kommt. Die Arbeit beginnt und der Schmerz wird vergessen. Väinämöinen schwebt auf den Wogen der Materie hin und her, und dann

Tuli sotka suora lintu,
Lenteä lekuttelevi,
Etsien pesän sioa,
Asunmaata arvaellen,

Sieh, herbei eilt eine Ente,
Fliegt herbei der schöne Vogel,
Suchet sich zum Nest ein Plätzchen,
Suchet eine Wohnungsstelle. [1. Rune]

Und  

Nosti polvea merestä,
Lapaluuta lainehesta
Sotkalle pesän siaksi,
Asunmaaksi armahaksi.

Da erhob des Meeres Mutter,
Sie, der Lüfte schöne Tochter
Aus dem Meere ihre Kniee,
Aus der Fluth die Schulterblätter,
Wo die Ent’ ein Nest sich bauen,
Wo sie friedlich weilen könnte. [1. Rune]

Die Ente „sieht das Knie des Väinämöinen“, und

Siihen laativi pesänsä,
Muni kultaiset munansa,
Kuusi kultaista munoa,
Rautamunan seitsemännen.

Bauet dort ihr Nestlein fertig,
Legt hinein die goldnen Eier,
Goldner Eier ganze sechse,
Siebentens ein Ei von Eisen. [1. Rune]

Was ist nun die Ente, „der schöne Vogel“, der den Schöpfer seine Schmerzen vergessen lässt? Sie ist das Denken, die Vernunft, oder, genauer gesagt, die Formen erfindende Vernunft. Auch ein schaffender Mensch seufzt vor Erleichterung, wenn er durch intensives Denken darauf kommt, wie er seine Idee verwirklichen kann. Und der erste Gedanke zur Realisierung seines Vorhabens kommt zu ihm, als würde ein Vogel aus den dunklen Tiefen des Universums zu ihm fliegen.
Der Vogel ist kein schlecht gewähltes Symbol für das Denken. Das gleiche Symbol finden wir auch in vielen alten Religionen. In Indien spricht man vom „Schwan der Zeit“[40], und sogar beim christlichen Glauben wird der Heilige Geist in der Gestalt einer Taube dargestellt. Die Ente ist auch der im Weltall schwebende Gedanke des Schöpfers, der arbeitende Intellekt des Väinä­möi­nen, der sog. „dritte Logos“, der Heilige Geist, dessen Aufgabe es ist, das Urchaos zu ordnen.
Was macht die Ente? Sie organisiert den Urstoff zu Atomen. Sie bildet sieben Uratome, sechs goldene für die unsichtbare und ein Eisenatom für die physische Welt.[41] 
Die Eier sind eben Atome, keine Planeten und keine Sonne, denn diese werden erst später geboren. Erst wenn Väinämöinen (die Lüftetochter) „ihr Knie Rührt“ so dass „die Eier ins Wasser, In die Fluth des Meeres stürzen; In der Fluth in Stücke brechen, Und in Splitter sich zerschlagen“, verwandeln sich die Splitter zu Erde, Mond, Sonne und Sternen (Planeten). Erst die Liebe, zusammen mit der Vernunft, baut die Welt. Wir würden heute nicht sagen, dass die Atome sich in Splitter zerschlagen, sondern dass sie sich bei der Erschaffung der Erscheinungswelt zusammenfügen, aber es handelt sich um dieselbe Sache. Nach den neuesten Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der Atomlehre sind die Atome vollkommen organisierte Welten, wie Sonnensysteme in Kleinformat – beinahe eine Art Monaden von Leibnitz – und so gesehen scheint es keinen großen Unterschied zwischen „Klein“ und „Groß“ zu geben. Im Gegenteil, der Kosmos, den wir Menschen wahrnehmen können, ist in Wahrheit nur ein Teil oder ein Stück eines mehrstufigen Sonnensystems, und wir können mit Recht sagen, dass ein Atom, das an sich ein vollkommenes Bild des Kosmos ist, in unserer Welt gleichsam in Stücke zerbrochen ist. Die Weisheit und das tiefe Wissen der alten Weisen scheint also auch in dieser Schilderung hervorzuschimmern.
Es wird ja ganz deutlich erzählt, wie die Schöpfungsarbeit weitergeht.  

Alkoi luoa luomiansa,
Saautella saamiansa…
Kussa kättä käännähytti,
Siihen niemet siivoeli;
Kussa pohjasi jalalla,
Kalahauat kaivaeli;
Kussa ilman kuplistihe,
Siihen syöverit syventi.

Jetzt beginnt bei ihr das Schaffen,
Fängt sie an hervorzubringen…
Wo die Hand nur hin sie wandte,
Da entstanden Landesspitzen,
Wo sie mit dem Fuße ruhte,
Grub gar rasch sie Fischesgruben;
Wo ins Wasser sie sich tauchte,
Senkten sich des Meeres Tiefen. [1. Rune]

Nun müssen wir in der Kalevala zur zweiten Rune übergehen, in der über die große Eiche erzählt wird. Hier geht der Schöpfungsbericht weiter, indem man vom Sonnensystem auf die Erde kommt. Wie im Schöpfungsbericht des 1. Buchs Mose das Wasser sich zum Meer sammelte, so dass die trockene Erde sichtbar wurde, bevor Bäume auf der Erde zu wachsen begannen, so wird auch in der Kalevala erzählt, dass der Schöpfer (Väinämöinen) manche Jahre

Saaressa sanattomassa,
Manteressa puuttomassa

Auf dem wortberaubten Eiland,
Auf der baumentblößten Fläche [2. Rune]

wohnte. Erst danach kommt „Pellerwoinen, Sohn der Fluren“, der z.B. das organische Leben ist, das von woanders hergekommen ist.

Kylvi maita kyyhätteli,
Kylvi maita, kylvi soita,
Kylvi auhtoja ahoja,
Panettavi paasikoita.

Er besä’t das Land gar fleißig,
Wie das Land, so auch die Sümpfe,
Wie der Haine lockern Boden,
So die festen stein’gen Flächen. [2. Rune]

Das Land war fruchtbar und mit allerlei Bäumen bewachsen, doch der „Baum Gottes“, nach dem erst die Landwirtschaft beginnen konnte, fehlte noch. Dieser Baum Gottes, die große Eiche, war, wie Julius Krohn[42] richtig vermutet,[43] eine große Wolke, die die Sonne und den Mond bedeckte und erst von dem kleinen Mann (dem Sonnenstrahl) durchstochen wurde. Bei dieser Schilderung geht es nicht um einen Einzelfall, sondern um die Zeit in der klimatischen Entwicklung der Erde, als in der Natur Feuchtigkeit und ständige Regenfälle herrschten. Erst nachdem diese andauernde Feuchtigkeit verschwunden war und die Sonne anfing zu scheinen,

Kasvoi maahan marjanvarret,
Kukat kultaiset keolle,
Ruohot kasvoi kaikenlaiset,
Monenmuotoiset sikesi.

Beeren wuchsen aus dem Boden,
Goldne Blumen auf den Fluren,
Kräuter mancher Art entstanden
Und Gewächse jeder Weise. [2. Rune]

Erst danach begann der Ackerbau. Väinämöinen „An des mächt’gen Wassers Rande; Fand daselbst der Körner sechse, Sieben schöne Samenkörner“, und fing an zu säen. In den geheimen Traditionen wird ebenfalls erzählt, dass die Weizenkörner ursprünglich von einem anderen Planeten auf die Erde gebracht wurden.
Wir kehren nun zurück auf die erste Rune, die wir noch nicht vollständig behandelt haben, und kommen an eine sehr merkwürdige Stelle. Der Schöpfer, Väinämöinen, ist die ganze Zeit beschäftigt gewesen, aber er ist noch nicht „geboren“.

Jo oli saaret siivottuna,
Luotu luotoset merehen,
Ilman pielet pistettynä,
Maat ja manteret sanottu,
Kirjattu kivihin kirjat,
Veetty viivat kallioihin,
Viel’ ei synny Väinämöinen,
Ilmau ikirunoja.

Schon geschaffen waren Inseln,
Klippen in dem Meer begründet,
Festgestellt der Lüfte Pfeiler,
Flur und Felder schon geschaffen,
Bunt die Steine schon gesprenkelt,
Schön gefurchet schon die Felsen,
Wäinämöinen nur der Sänger
War und blieb noch ungeboren. [1. Rune]

Irreführend ist natürlich, dass in der Kalevala anstatt Väinä­möinen der Name Lüftetochter erscheint. Wenn man aber bedenkt, dass beide dasselbe bedeuten, fragt man sich, warum Väinämöinen erst jetzt zur Welt kommt. In der alten Kalevala ist er auch bereits geboren (und das war, vom Standpunkt der oben geschilderten Bedeutung der Dreiheitslehre aus gesehen, begründet). Ist nun die Rune in der neuen Kalevala im Unrecht, denn Väinämöinen als der dreifaltige Logos ist nach unserer Darstellung bereits erschienen? Darauf antworten wir: Keineswegs, denn in der neuen Kalevala wird auf einen merkwürdigen Umstand, die sog. „zweite Schöpfung“, hingewiesen.
Was fehlt nämlich noch, obwohl die Welten bereits gebaut sind? Es fehlt der Mensch, es fehlt das „Bild Gottes“. Und wir müssen nicht denken, dass es keine Lebewesen gab. Die Welt ist ja voller Leben, und es gibt vielleicht auch menschliche Gestalten dabei. Doch bevor in dieser Gestalt die Kräfte des Schöpfers bewusst geworden sind, hat sich Väinämöinen, der Logos, noch nicht aus dem Bauch seiner Mutter befreien können. Erst wenn im Menschen die Vernunft, der menschliche Intellekt und das Seelenleben erwachen, wird Väinämöinen geboren.
Was ist die Schöpfungsarbeit, wenn nicht das Streben des Schöpfers, sich selbst zu manifestieren? „Ich will mein eigenes Bild sehen.“ Und ein Bild nach dem anderen wird verworfen: „Das bin ich nicht.“ Erst im Menschen fängt der Schöpfer an, sich selbst zu sehen. Und tief in der Seele des Menschen liegt der Wille des Schöpfers, sich selbst in seiner Vollkommenheit zu sehen. Deshalb findet auch der Mensch keine Ruhe, bevor er diese seine innerste göttliche Sehnsucht versteht und anfängt, nach der Vollkommenheit zu streben, für die er geschaffen wurde. Die Stimme Gottes betet in seiner Seele:

Saata maalle matkamiestä,
Ilmoillen inehmon lasta,
Kuuta taivon katsomahan,
Päiveä ihoamahan,
Otavaista oppimahan,
Tähtiä tähyämähän!

”Daß ich auf der Erde wandre,
Wie ein Menschenkind im Freien,
Daß des Himmels Mond ich schaue,
Daß die Sonne ich gewahre,
Daß den Bären ich erblicke,
Daß die Sterne ich betrachte!“ [1. Rune]

Und Gott in der Gestalt des Menschen wird aus eigener Kraft geboren:

Liikahutti linnan portin
Sormella nimettömällä,
Lukon luisen luikahutti
Vasemmalla varpahalla,
Tuli kynsin kynnykseltä,
Polvin porstuan ovelta.

Sprengt der Feste schmale Pforte
Mit dem Finger ohne Namen,
Schlüpfet durch das Schloß, das starre,
Mit des linken Fußes Zehe,
Kriechet mit der Hand zur Schwelle,
Auf den Knieen durch das Vorhaus. [1. Rune]

Seine eigene Dreiheit hat der Schöpfer dem Menschen geschenkt; und das ist die zweite Schöpfung.
Die ganze Entstehung der Welt ist, vom Standpunkt des Weisen aus gesehen, kreative Arbeit eines großen Künstlers. Sie ist Schmerz und Freude und wird in der Kalevala meisterhaft geschildert. Wie wirkungsvoll, wenn auch schlicht und einfach erzählt, ist doch die Schöpfungsgeschichte der Kalevala! Da gibt es keine gewöhnlichen menschlichen Emotionen, sondern größere Gefühle, größere Kraft, göttliche Gedanken und den göttlichen Willen. Edel und majestätisch steht sie vor unseren Augen.

 

9. DIE ERLÖSUNGSARBEIT


Unter dem Begriff Erlösungsarbeit versteht man in der christlichen Lehre die göttliche Tätigkeit, mit der die der Sünde verfallene Menschheit wieder mit Gott in Verbindung gebracht wird. Das geschieht in der Regel durch die Vermittlung der zweiten Person, des Sohnes, der dann für den „Heiland“ der Menschheit gehalten wird, wie z.B. im Christentum Christus, im Hinduismus Krishna (Vishnu), in Ägypten Horus usw. Doch an der Erlösungsarbeit ist natürlich die gesamte göttliche Dreiheit beteiligt. Im Christentum z.B. leitet der Heilige Geist die Kirche und führt einzelne Menschen zum Christus. Der Vater wiederum liebt die Welt so sehr, dass er zur Versöhnung der Sünden der Welt seinen einzigen Sohn sterben lässt.
Diese Lehre über den göttlichen Heiland ist gerade der Lehrsatz, den die gläubigen Christen eifersüchtig lieben und für ihre eigene halten. „So etwas hatten die Heiden nicht. Über Jesus Christus wissen die Naturvölker nichts“, rufen sie erfreut aus. Und wir antworten: Den Heiland namens „Jesus Christus“ haben die Heiden allerdings nicht gekannt, doch eine andere Frage ist, ob sie überhaupt einen Heiland gekannt haben. Die Welt „steht“ viel länger als 6 000 Jahre, und unserer Meinung nach ist es „Gotteslästerung“, wenn man denkt, dass das Leben der Menschheit Hunderte, vielleicht Millionen von Jahren nur Wandern in der Finsternis zur Verdammnis gewesen wäre, bis der liebe Gott vor ein paar Tausend Jahren seinen Blick auf die Erde warf und dachte, dass etwas für die Menschheit getan werden sollte. So ist es nicht. Göttliche Erlösungsarbeit ist keine historische, in einem Augenblick durchgeführte Arbeit, sondern unermüdliche Erziehungs- und Entwicklungsarbeit, die durch unendlich viele Zeitalter und Ewigkeiten hindurch dauert. Finsternis gibt es heute wie vor zehntausend Jahren. Das Licht ist heute dasselbe wie vor einer Million Jahren. Finsternis und Licht gehen Hand in Hand, bis in einem Individuum das Licht siegt. Die Erlösungsarbeit ist nicht von exoterischer, sondern von esoterischer Natur.
Deshalb können wir ohne Weiteres sagen, dass die alten Finnen den göttlichen Erlösungsplan ebenso gut kannten wie die anderen alten Völker, wenn wir nur bedenken, dass die Formen sich ändern, aber der Geist bleibt. Förmlich gesehen hatten die „Heiden“ und die Naturvölker ein anderes Bild über das Leben und die Aufgabe der Menschheit als die Christen, aber mit dem Auge des Geistes gesehen besitzen ein heidnischer wahrer Wissender und ein in christliche Mysterien Eingeweihter die gleiche Lebensweisheit.
Wenn wir uns nun an die Arbeit machen, die Auffassungen der alten Finnen über die Entwicklung und die Erlösung der Menschheit zu betrachten, sollten wir nicht vergessen, dass in den alten Allegorien Namen und Wörter, je nach dem, um welches Thema es sich handelt, in unterschiedlichen Bedeutungen benutzt werden. Diese verschiedenen Bedeutungen sind nicht willkürlich gewählt; der rote Faden ist dabei immer ersichtlich. Es geht vielmehr um sozusagen verschiedene Schattierungen, verschiedene Begrenzungen derselben Bedeutung, als um völlig verschiedene Bedeutungen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass in alten Zeiten Namen und Wörter mit keiner so großen wissenschaftlichen Genauigkeit gewählt wurden als in unseren Tagen. Die ganze Darstellungsweise war, anders gesagt, poetisch.
Wir haben bereits erwähnt, dass in der Mysteriensprache der Name Kaleva wahrscheinlich den Logos bezeichnete. Dann sahen wir, dass in der Schöpfungsrune der Name Väinämöinen für den Logos stand, und ebenfalls sogar die Lüftetochter und die Ente, die letztgenannten allerdings, um bestimmte Arbeitsbereiche des Logos darzustellen. Wir wissen jedoch, dass die Kalevala Väinämöinen an einigen Stellen den „Sohn des Kaleva“, nennt. Das wundert uns nicht, wenn wir bedenken, dass der Logos im Allgemeinen auch „Gottes Sohn“ genannt wird. Das weist aber zugleich darauf hin, dass auch Väinämöinen in einer gewissen Bedeutung nur ein bestimmter Aspekt des Bewusstseins des Logos, des Kaleva, ist.
In einer Sage wird erzählt, dass Kaleva zwölf Söhne[44] hatte. Wenn alle diese Namen einmal herausgefunden werden, dann hat man auch die alten Mysteriennamen für die zwölf Hierarchien gefunden, die die verschiedenen Aspekte des Logos vertreten und deren astrologisches Symbol der sog. Zodiak, der Tierkreis, ist. Sieben von diesen Namen können außerdem die sieben Hauptengel bezeichnen, die dem Thron Gottes am nächsten stehen und dessen astrologische Vertreter die sieben heiligen Planeten sind. Und drei von diesen Namen bezeichnen die drei Bewusstseinsaspekte des Logos, die sein Wesen im Großen und Ganzen manifestieren und deshalb drei Personen, drei „Masken“ seiner Dreiheit genannt werden. Die drei Namen sind uns neben einigen anderen in der Kalevala erhalten geblieben, diese drei jedoch ganz deutlich und sicher.
Wer sind sie? Es sind die drei Haupthelden der Kalevala: Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen.
Wenn wir uns in die Psychologie des Logos vertiefen wollen, müssen wir Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen als Vertreter göttlicher Kräfte betrachten. Diese Kräfte manifestieren sich in der seelisch-geistigen Entwicklung der Menschheit und im inneren Leben des einzelnen Menschen. Wenn wir uns in diese Dinge vertiefen, öffnen sich mächtige Perspektiven vor unseren prüfenden Augen.
 Wir haben bereits erwähnt, dass die psychologische Dreiheit des Logos den drei Aspekten der menschlichen Psyche, der Seele, entspricht, so dass der erste Logos, der Vater, die Gewalt, die Macht (die Krone, Kether) ist, die dem Willen des Menschen entspricht; der zweite Logos, der Sohn, ist die allmächtige Liebe, die Weisheit, die dem menschlichen Gefühl entspricht, und der dritte Logos, der Heilige Geist, ist das schaffende Genie, das Licht der Wahrheit, und entspricht im Menschen dem Wissen, der Vernunft. Wenn wir nun diese Begriffe mit den Bezeichnungen der Kalevala ersetzen, sehen wir, dass Väinämöinen die göttliche Macht des Willens, Lemminkäinen die göttliche Macht der Liebe und Ilmarinen die göttliche Kraft des Denkens darstellen. Mit Hinweis auf diese göttliche Dreiheit wird in der alten Kalevala ausdrücklich von Väinämöinen gesagt:

Min’ olin miesnä kolmantena
Ilman pieltä pistämässä,
Taivaan kaarta kantamassa,
Taivoa tähittämässä.

Als dritter Mann war ich da oben,
Den Rand der Lüfte aufzustellen,
Den Himmelsbogen hoch zu halten,
Den Himmel voll mit Sternen streuen.

Im Folgenden werden wir Lemminkäinen und Ilmarinen einzeln betrachten, doch unsere Behauptung, die auf den ersten Blick vielleicht wie aus der Luft gegriffen klingt, wird sofort glaubhafter und verständlicher, wenn wir uns erinnern, was die Kalevala im Allgemeinen über ihre Haupthelden erzählt. Womit beschäftigen sich in der Kalevala Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen, was ist der Beweggrund und das Ziel ihres Schaffens? Zumindest am Anfang wollen sie die wunderschöne Nordlandstochter für sich gewinnen.
Lasst uns unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Die Helden der Kalevala werben alle um die Nordlandstochter, jeder möchte sie besitzen.
„Was ist denn da göttlich?“, fragt sich der Leser. Und wir antworten: Ausgerechnet darin äußert sich ihre göttliche Funktion.
Die „Werbung“, die „Heirat“ und solche Wörter im Allgemeinen, die die höchste weltliche Sanftmut und Liebe bezeichnen, gehören zur Mysteriensprache, die dem Wissenden große psychologische Wahrheiten enthüllen. Lasst uns nur daran denken, wie im Christentum Christus, z.B. in den Paulusbriefen, als Bräutigam und die Gemeinde, die Kirche oder die einzelne Menschenseele als seine Braut dargestellt werden. Sogar ein so glühend realistisches Gedicht wie das „Hohelied“ ist in diesem Sinne als eine symbolische Schrift interpretiert worden. Bekannt für die Christen ist auch der Satz im Genesis: „Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern.” Und wer kennt nicht das schöne griechische Märchen von Amor (Liebe) und Psyche (Seele)?
Was ist denn die göttliche Wahrheit, die man mit solchen Sätzen zu deuten versucht? Eben das Gleiche, was in den Worten „göttliches Erlösungswerk“ enthalten ist. Man versucht zu deuten und klar zu machen, wie das göttliche Bewusstsein die Menschheit und die Menschenseele liebt und sucht, wie es danach trachtet, sich mit der Seele zu verbinden und die Seele zu sich zu erheben.
Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen wohnen alle in Suvantola, auf den Flächen Kalevalas, wo immer eine sommerliche Stimmung herrscht, d.h. auf den höheren Ebenen der unsichtbaren Welt, und wollen von dort aus um die Nordlandstochter werben.
Nordland wird als kalt und düster dargestellt. Die einzige Herrlichkeit dort ist die Nordlandstochter. Was anderes ist Nordland als dieses Erdenleben, diese physische Welt, dieses „Tal der Sorge und des Leides“? Und was anderes ist die Nordlandstochter als die Menschheit, die Menschheit als seelisches Kollektivbewusstsein? Und vom Standpunkt des Individuums aus gesehen ist Nordland das physische Leben des Menschen, kurz gesagt sein Körper, und die schöne Nordlandstochter die Seele des Menschen, die im Körper wohnt.
Die Helden Kalevalas, die um die Nordlandstochter werben, bezeichnen die göttlichen Entwicklungskräfte, die die Menschenseele erziehen und bestrebt sind, dadurch eine neue Menschheit zu kreieren. Weshalb sollten wir uns der Darstellung der Kalevala schämen, wenn sie auf ihre eigentümliche Weise göttliche Mysterien interpretiert – wir schämen uns ja auch nicht, wenn wir in einer unserer Meinung nach philosophischeren Sprache über die „Liebe Gottes“, die „Liebe Christi zu seiner Braut“ usw. sprechen.
Dass die alten finnischen Weisen nicht von der Sehnsucht der Menschen nach Gott und der Weisheit, sondern von der Sehnsucht Gottes nach Menschen sprechen, zeugt gerade von ihrer wirklichen Weisheit. Alle Menschen wissen ohne Weiteres, dass der Mensch sich nach der Wahrheit sehnen und nach Gott streben kann, doch nur die Weisen wissen, dass die Sehnsucht des Menschen nur ein schwacher Nachgeschmack der göttlichen Sehnsucht und Liebe ist, die die höchsten Bewusstseinswesen zur Menschenseele empfinden. „Also hat Gott die Welt geliebt”, flüstert die Christenheit in heiliger Wahrheitsahnung, und irrt sich nur, wenn sie glaubt, dass Gott nicht bereits seit Anbeginn der Zeit die Menschheit mit Tat und Rat geliebt hätte.
Wie erfolgreich sind denn die Helden der Kalevala in ihrer Werbung; wie gelingt es den göttlichen Geisteskräften, ihre Erlösungsarbeit durchzuführen? Väinämöinen gewinnt weder Aino, noch die Nordlandstochter; auch Lemminkäinen ist erfolglos; nur Ilmarinen gelingt in seinem Vorhaben. Hier sieht man eine scharfe psychologische Einsicht und eine tiefe Kenntnis der Entwicklungsgesetze des Lebens. Denn welche Seite des göttlichen Bewusstseins kann die Menschenseele besiegen und zu sich wenden? Der Wille allein? Nein. Die Menschenseele ist zu voll von Phantasiebildern und Erlebnisdrang, um sich ohne Weiteres „unter den Willen Gottes“ zu beugen. Und das Gefühl an sich? Nein. Die Seele des Menschen ist in ihrer Schwäche zu stolz, um sich mit der „Liebe Gottes“ ‒ verstanden als Gefühl ‒ zu begnügen. Sie braucht, zumindest am Anfang, göttliche Hilfe und Kraft, an deren Standfestigkeit und Fähigkeit sie glauben kann und für die sie sich faszinieren kann. Und diese Kraft ist natürlich der Verstand.
Ilmarinen, der Vertreter des Verstandes und des Genies, ist derjenige, der die Nordlandstochter zu sich holt. Was wäre auch das Schicksal der Menschenseele ohne das Licht des Verstandes, ohne Selbständigkeit, ohne die Möglichkeit zur „Widerspenstigkeit“, zur „Sünde“ und zum „Bösen“, was den Menschen zum Menschen macht. Er wäre wie eine Puppe in den Händen der Götter, ein unbewusstes „Bild Gottes“, vollkommen, doch ohne Verdienst.
Deshalb sind es die Ilmarinen-Kräfte, die im Leben der Menschheit zuerst auf die Bühne treten, und die Väinämöinen-Kräfte erscheinen erst zuletzt. Über den menschlich-göttlichen Willen als allgemeines Phänomen in der Menschheit können wir noch nicht sprechen. Was wir den Willen nennen, ist – wie die modernen Psychologen bemerken – leicht in seine Elemente des Denkens und des Fühlens zu zerlegen. Der wirkliche Wille ist eine esoterische Sache. Er äußert sich erst in wahren Wissenden, in wahren Könnern. In der Kalevala ist ja auch Väinämöi­nen der „einzig ew’ge Zaubersprecher“, der mit der Macht seiner Worte und seines Gesangs mehr zustande bringt als andere durch ihre Taten. Väinämöinen ist der Mächtige par préférence, und seine Aufgabe bei der Erlösungsarbeit ist von individueller, nicht kollektiver Art. Sein Einfluss macht sich somit in den späteren Entwicklungsstadien des Individuums und der Menschheit bemerkbar.


10. DIE LEMMINKÄINEN-KRÄFTE

                         
Die Kalevala-Helden werden in den Werbungsrunen als keine vollkommenen Geschöpfe dargestellt. Obwohl sie – in der Bedeutung, die wir hier erläutern werden – göttliche Kräfte vertreten, erscheinen sie in der Kalevala als durchaus menschliche, ja sogar als schwache Wesen. Väinämöinen, der alt und wahrhaft, weise und erfahren ist und Willen und Macht über die Natur und sich selbst besitzt, erscheint uns, wenn er um ein junges Mädchen zu werben beginnt, merkwürdig unklug und unerfahren. Seine Liebe zur jungen Aino kann in ihrer Schwäche und der offenbaren Sinnlosigkeit nichts anderes als tragisch sein. Lemminkäinen, der schöne Kaukomieli, dessen gesamtes Wesen vor Eifer und Glaube, Poesie und Liebe strotzt, wird gleichzeitig als ein jähzorniger, streitsüchtiger Krieger und leichtsinniger Liebesabenteurer dargestellt. Ilmarinen, „der ev’ge Schmiedekünstler“, der geschickte und geniale Sampo-Schmied, ist gleichzeitig etwas träge, faul, mürrisch, ja sogar beinahe kindisch und einfältig.
Mit der Beschreibung ihrer Helden, die übermenschliche Taten vollbringen, als derart menschliche Geschöpfe stellt die Kalevala sie uns so nahe, dass wir ihre Göttlichkeit beinahe vergessen. Dennoch scheint es uns, als ob die Kalevala die Grundeigenschaften eines jeden ihrer Helden gerade dadurch hätte betonen wollen. „Schaut her“, sagt sie, „was in jedem das Beste ist, das entwickelt sich und wächst weiter. Nur ein Toter bleibt stehen und rührt sich nicht; der lebendige Geist strebt vorwärts.“
Dieses Entwicklungsprinzip läuft als ein roter Faden durch die Geschichte des Lemminkäinen. Lemminkäinen, als Vertreter der im Herzen der Menschheit rasenden Emotionskräfte, zeigt in seinem Lebenslauf verschiedene Entwicklungsstadien dieser Emotionen. Das zeigt sich förmlich auch darin, dass die Lemminkäinen-Runen – wie Prof. K. Krohn beweist[45] – aus verschiedenen Elementen, aus Erzählungen über verschiedene Personen, wie z.B. den Inselländer Ahti, Kaukamoinen, den armen Knaben usw., zusammengestellt sind, die in der Phantasie des Volkes und der Runensänger bereits zusammengehört haben und gleichsam Parallelnamen eines und desselben Wesens waren. Als Kaukamoinen und Inselländer Ahti gerät Lemminkäinen in Liebesabenteuer mit den Insel-Mädchen und nimmt Kyllikki zu seiner Frau; als Lemminkäinen wirbt er um die Nordlandstochter, und die Erzählung über seinen Tod stammt ursprünglich aus der Rune über den armen Knaben.[46] In der neuen Kalevala hat Lönnrot, psychologisch richtig sehend, die Kaukamoinen-Epi­sode in die Jugend des Lemminkäinen, bevor er als Nebenbuhler um die Gunst der Nordlandstochter auftrat, gesetzt, denn die Kyllikki-Rune beschreibt eigentlich eine ältere Periode in der Entwicklungsgeschichte der Lemminkäinen-Kräfte der Mensch­heit.
Als Ahti wuchs Lemminkäinen „im hochgebauten Hause, an der lieben Mutter Seite“ und

Tuli mies mitä parahin,
Puhkesi punaverinen,
Joka päästänsä pätevi,
Kohastansa kelpoavi.

Wurde Mann, der besten einer,
Blühte auf mit rothem Blute,
War am Haupte gar vortrefflich,
Und von Wuchs wohl ausgezeichnet; [11. Rune]

Nur einen Fehler hatte er:

Ain’ oli naisissa eläjä,
Yli öitä öitsilöissä,
Noien impien iloissa,
Kassapäien karkeloissa.

Stets bei Weibern war sein Leben,
Wanderte umher zur Nachtzeit,
Bei der Mädchen muntern Freuden,
Bei dem Tanz der Zopfgeschmückten. [11. Rune]

Die Rune weist auf diese Schwäche des Lemminkäinen mit beinahe spöttischem Lächeln hin, so wie die Kalevala das Leben ihrer Helden oft mit etwas Humor betrachtet. Bei der okkultistischen Interpretation der Kalevala muss diese Besonderheit beachtet werden. Lemminkäinen wird gelobt, seine Kraft und seine Tüchtigkeit werden bejubelt. Er zaubert mit seinem Gesang und seinen Beschwörungsformeln. Die Rune meint jedoch, dass ein kleiner Spott am Platze sei. Wie soll man das verstehen?
Darin spiegelt sich die spätere,[47] kritische Sichtweise der alten finnischen Weisheit. Sie kennt die Tatsachen. Sie weiß, dass das Gefühl – zumindest noch vorläufig – die größte Kraft im Herzen der Menschheit ist, sie weiß, dass das Gefühl, wenn es kindhaft selbstsüchtig und leichtsinnig ist, zu einer erschütternden und magischen Naturkraft wächst, wenn sie sich auf ein bestimmtes Objekt richtet; sie weiß, dass die Menschheit ihre größten Heldentaten und Wunderwerke wirklich durch den Antrieb des Gefühls vollbringt. Und dennoch ist sie gleichzeitig skeptisch, so lange die Menschheit nicht Herr ihrer eigenen Lemminkäinen-Kräfte ist. Wie treffend wird das doch in dem arroganten und verachtenden Verhalten des Lemminkäinen dem Naßhut dem Heerdenhüter gegenüber ausgedrückt! Gerade zur Stunde des Sieges lässt er sich von seinem Gefühl irreführen – und das Ergebnis ist sein tragisches Ende. Die Wurzeln des Gefühls sitzen so tief im materiellen Wesen des Menschen, dass man sie mit gutem Grund fürchten kann, bevor man sein „Herz vollkommen gereinigt“ hat.
Was ist nämlich der Anfang und der Ursprung der Lemminkäinen-Kräfte des geoffenbarten Gefühls? Das sexuelle Wesen des Menschen. Die Möglichkeiten des Gefühls liegen in der Liebesfähigkeit seines Bewusstseins verborgen, doch seine leibliche Sexualität erweckt sie und verleiht ihnen die Ausdrucksform. In der Kalevala heißt es deshalb ganz richtig: Das Gefühl ist eine wunderbare Sache, aber seine Schwäche liegt darin, dass es seine Kraft aus der Sexualität zieht.
Nachdem sich das fröhliche, leichtsinnige und sexuell geprägte starke Gefühl etwas beruhigt hat, richtet sich die Liebe beständiger auf ein bestimmtes Objekt und im Leben des Lemminkäinen beginnt die Kyllikki-Episode. Das Gefühl hat sich aber noch nicht gereinigt ‒ weder in Lemminkäinen noch in Kyllikki. Es verlangt Schwüre und leistet Schwüre (11: 289‒314). Und deshalb muss es untergehen.
Erst wenn Lemminkäinen bei seiner Werbung um die Nordlandstochter allerlei Hindernisse überwinden muss, die nicht nur mit leichtsinniger Gewalt zu lösen sind, und wenn ihm allerlei Heldentaten auferlegt werden, erst dann befreit er sich von seiner Selbstsucht und Eigenliebe und beginnt zu verstehen, was die Liebe ist. So wird das Gefühlsleben im Herzen der Menschen ‒ Schritt für Schritt, im Laufe langer Entwicklungsperioden ‒ gereinigt und veredelt und stolzer Hochmut zu Demut und treuherziger Hingabe verwandelt. Die Kalevala vermeidet ‒ wie es dem finnischen Temperament eigen ist ‒ auch in dieser Schilderung über das Ende des Lemminkäinen jede Sentimentalität und übertriebene Gefühlsäußerungen. Mit ein paar Worten verkündet Lemminkäinen bei seinem Tod sein tiefes Vertrauen auf die Liebe seiner Mutter und drückt gleichzeitig sein eigenes wahres Gefühl ihr gegenüber aus:

Oi emoni kantajani,
Vaivan nähnyt vaaliani!
Tietäisitkö, tuntisitko,
Miss’ on poikasi poloinen,
Tokipa rientäen tulisit,
Avukseni ennättäisit.
Mutter, die du mich getragen,
Die mit Mühsal mich erzogen!
Mögst du wissen und erfahren,
Wo dein Sohn, der Arme, weilet,
Kämest dann herbeigeeilet,
Kämst um rascher mir zu helfen. [14. Rune]

 Und wenn die Mutter ihn aus den Toten erweckt hat, erinnert er sich an seine Liebe zur Nordlandstochter, für die er so viel gelitten hat:

Tuollapa syämmykseni,
Tuolla tuntoni makaapi
Noissa Pohjan neitosissa,
Kaunoisissa kassapäissä,

Dorten ruht mein Herz gar gerne,
Dort verweilen meine Sinne:
Bei des Nordens schönen Jungfraun,
Bei den schöngelockten Mädchen; [15. Rune]

Die Pluralform ist in diesen Worten nur eine Art pluralis modestiae.
Wenn wir uns in die Einzelheiten vertiefen, können wir im Leben des Lemminkäinen drei Hauptperioden vernehmen, welche die drei Entwicklungsstadien des menschlichen Gefühlslebens deutlich darstellen.
1. Die Kindheit des Gefühlslebens, in dem das Gefühl leichtsinnig, unbedacht und oberflächlich ist und von einem Objekt zum anderen flattert. 2. Die Jugend, in dem das Gefühl nach einem Stützpunkt sucht und danach strebt, mit Schwüren und Versprechungen seinem Ideal treu zu bleiben. 3. Das Erwachsenenalter, in dem es versteht, dass nichts ohne entsprechende Anstrengungen und Siege erreicht werden kann.
Eine Periode am Anfang der Entwicklung haben wir noch nicht beschrieben: den Übergang vom tierischen Stadium zum menschlichen, d.h. das Entwicklungsstadium, das dem blinden Instinktleben des Tierreichs am nächsten steht und von dem die geheimen Überlieferungen sprechen. Hat die Kalevala das übersehen?
Unseres Erachtens nicht, obwohl darauf nur im Vorbeigehen hingewiesen wird. Wenn Lemminkäinen alle Männer aus der Stube des Nordlands (12: 443‒473) mit seinem Gesang hinauszaubert, lässt er einen übrig: „Einen schlechten Heerdenhüter, Einen Alten ohne Augen“. Dieser ”Naßhut, jener Heerdenhüter, Nordlands Greis mit blinden Augen” fragt dann nach dem Grund, warum er nicht zusammen mit den anderen aus der Stube hinausgesungen wurde. Lemminkäinen antwortet:

Siksi en sinuhun koske,
Kun olet katsoa katala,
Kurja koskemaisittani;
Vielä miesnä nuorempana,
Karjan paimenna pahaisna
Turmelit emosi tuoman,
Sisaresi siuvahutit,
Kaikki herjasit hevoiset,
Tamman varsat vaivuttelit
Suon selillä, maan navoilla,
Ve’en liivan liikkumilla.

„Deshalb hab’ ich dich verschonet,
Weil du elend bist zu schauen,
Schändlich ohne meinen Zauber,
Hast du doch in jungen Jahren
Als ein Hirte voller Bosheit
Deiner Mutter Beer’ verletzet,
Deine Schwester du geschändet,
Alle Pferde du verdorben,
Alle Füllen abgemattet
Auf den Sümpfen, auf den Feldern,
Auf dem Boden voller Schwankung.“ [12. Rune]

Der blinde Heerdenhüter steht als Symbol für die Zeit, in der die neugeborene Menschheit Unzucht mit Tieren trieb und von der z.B. H. P. Blavatsky in der Geheimlehre spricht. Das Licht der Vernunft war in den Menschen noch so schwach, dass sie nichts Besseres wussten, als es den Tieren nachzumachen und sich Hals über Kopf dem Sexualtrieb hinzugeben. Dieser ursprüngliche Sündenfall, auf den die Paradieserzählungen hinweisen, hat auch den Grundstein für die späteren Leiden der Menschheit gelegt. Der Sexualtrieb war schon immer für die Menschheit eine verhängnisvolle Geißel, die ihr viel Leid gebracht hat. Die gleiche Menschheit, die heute zum Teil die Rolle des Inselländers Ahti, zum Teil die des schönen Kaukomieli spielt, hat früher als von seinem Trieb geblendeter Heerdenhüter auf der Bühne gestanden und erntet jetzt in ihrer Lebenstragödie die karmischen Folgen ihrer ursprünglichen „Sünde“.
Wer mit der theosophischen Literatur vertraut ist, weiß, dass die Geheimwissenschaft über die Wurzelrassen der Menschheit spricht. Die zwei ersten waren überphysisch und erst die dritte war die erste Menschenrasse, die mit dem physischen Körper versehen war und deren Wohnsitz ein in die Tiefe des Stillen Ozeans versunkener Kontinent war. Der Naturforscher P. L. Sclater hat diesen Kontinent Lemurien genannt.
Die vierte war die atlantische, rote und gelbe Rasse, die auf dem in den Atlantik versunkenen Kontinent („Atlantis“) wohnte. Platon erzählt von der Insel Poseidonis[48], dem letzten Überrest des Atlantis, und in der Kalevala gehören der Inselländer Ahti und die auf der Insel wohnende Kyllikki ‒ sowohl dem Namen als dem psychologischen Inhalt nach ‒ eigentlich zur atlantischen Entwicklungsstufe. (Ahti/Wellamo weist auch auf die Gefühlswelt, die „Astralebene“, hin, als deren Symbol immer das Wasser steht.)
Nach der Geheimlehre lebt die Menschheit heute in der fünften, der arischen Wurzelrasse, und die beste Minderheit der Menschheit steht in seinem Gefühlsleben deshalb auf der Stufe des eigentlichen Lemminkäinen, doch der Großteil lebt immer noch das Leben des Kaukamoinen.
Die noch ungeborenen Wurzelrassen, die sechste und die siebente, werden die Lemminkäinen-Kräfte der Menschheit so weit läutern, dass die Menschen anfangen, Christus-Liebe in ihrem alltäglichen Leben zu verstehen und zu verwirklichen.
Die göttliche Erlösungsarbeit zeigt sich in der sich stufenweise vollziehenden Gefühlsentwicklung. Deren Spitze wird erreicht, wenn die persönlichen Gefühle, die „guten“ wie die „schlechten“, in den großen Ozean der göttlichen Liebe versinken. Lemminkäinen vertritt also, in seiner höchsten und tiefsten Bedeutung, die Christus-Kräfte der Menschheit.










[1]  [H. P. Blavatsky, The National Epic of Finland (Review), Collected Writings, Volume X,   S. 143–148 – J.M.]
[2]  [Maria Ramstedt (1852‒1915), finnische Theosophin, Journalistin und Übersetzerin. Sie benutzte als Authorin den Männernamen Martti Humu. – J.M.] ]
[3]  [Herman Hellner, Kämmerer (1848‒1945), finnischer Theosoph. . ‒ J.M.]
[4]  [Perm nannte man in den alten russischen Texten aus dem Mittelalter das Gebiet zwischen dem Weißen Meer und dem Ural. Die Einwohner waren Komi-Syränen und Udmurten (Wotjaken). Manchmal wurden Perm und die Permjaken mit Bjarmland der norwegisch-isländischen Sagen identifiziert, womit die um das Weiße Meer liegenden Gebiete gemeint sind, dessen Einwohner vermutlich karelische oder wepsische Handelspartner der Syränen waren. Lönnrot vermutete, dass die Kalevala-Volksdichtung in den südöstlichen Gebieten um das Weiße Meer oder in dem um den Onega- und Ladogasee liegenden Gebiet während der „permischen Vorherrschaft“ entstanden seien und dass die Karelen, bei denen die Runen erhalten geblieben sind, möglicherweise Nachkommen der Permjaken waren.‒ J.M.]
[5]  [Henrik Gabriel Porthan (1739‒1804), Vater der finnischen Folkloristik, Herausgeber von De poësi fennica (1766‒1778).
Kristian Erik Lencqvist (1761‒1808), Forscher der finnischen Geschichte, der Mythologie und der finnischen Sprache. Hat 1782 seine Dissertation De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica herausgegeben.
Christfried Ganander (1741‒1790), Pfarrer und Sammler der finnischen Volkstradition. Herausgeber der Werke Nytt Finskt Lexicon (1787) und Mythologia Fennica, ein Nachschlagewerk über die finnische Mythologie (1789).
Reinhold von Becker (1788‒1858), Lönnrots Lehrer an der Universität Turku. Hat 1820 in der Zeitschrift Turun Wiikko-Sanomat eine Abhandlung herausgegeben, in der er die Volksgedichte über Väinämöinen in eine bestimmte Reihenfolge gebracht hat.
Topelius Senior (1781‒1831), Kreisarzt und Sammler der Volksdichtung. Herausgeber von Suomen Kansan Runoja ynnä myös Nykyisempiä Lauluja (Gedichte des finnischen Volkes sowie neuere Gesänge) (1822‒1831)
      ‒ J.M.]
[6]  [Eino Leino (1878‒1926), Schriftsteller und Journalist. ‒ J.M.]
[7]  Suomalaisia kirjailijoita (Finnische Autoren), Helsinki 1909, Otava, S. 24.
[8]  [Kaarle Leopold Krohn (1868‒1933), Professor für finnische und vergleichende Folkloristik. Herausgeber des deutschsprachigen Werkes Kalevalastudien I‒VI, Folklore Fellows Communications, Helsinki 1924 – 1928. ‒ J.M.]
[9]  Suomalaisten runojen uskonto (Die Religion der finnischen Runen), Helsinki 1915, Suom. Kirj. Seura, S. 360.
[10]  Das finnische Wort runo (Gedicht) ist das gleiche wie das schwedische runa, ein altes gotisches Wort, das ursprünglich die Bedeutung „Geheimnis, geheimes Wissen“ und „Beschwörungsformel“ hat, obwohl es später die Bedeutung Runenschrift bekam.
[11]  Im Buch Jeesuksen salakoulu [Deutsche Übersetzung, Die Geheimschule Jesu, Ihmisyyden tunnustajat, Mänttä 2008 ‒ M.H] haben wir versucht, möglichst deutliche Hinweise darauf zu geben.
[12]  [“The National Epic of Finland (Review)”, H. P. Blavatsky, Collected Writings, Volume X, S. 143–148. ‒ J.M]
[13]  Op. cit. S. IV.
[14]  [Nach Matti Kuusi, Folklorist (1914‒1998), ist der Kalevala-Versmaß um 1000‒500 v. Chr. entstanden.  Aus dieser Zeit stammen viele Entstehungsrunen, wie z.B. „Die Entstehung der Welt“, „Die große Eiche“ und „Die Entstehung des Feuers“. Die verschiedenen Versionen der epischen, mit Kalevala-Vers­maß verfassten Runen wurden jedoch erst frühestens am Anfang des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet; älter sind nur die ältesten Aufzeichnungen einiger Beschwörungsformeln. ‒ J.M.]
[15]  Allan Menzies, Maailman uskonnot (Die Weltreligionen),   S. 5. [History of Religion. A Sketch of Primitive Religious Beliefs and Practices, and of the Origin and Character of the Great Systems, 1895. ‒ J.M.]
[16]  [Mikael Agricola (1510‒1557), Bischof von Turku, Reformator und Vater der finnischen Literatursprache. – J.M.]
[17]  [Carl Axel Gottlund (1796‒1875), Sammler der Volksdichtung, der erste, der den Gedanken vorbrachte, dass aus den alten Runengesängen eine systematische Einheit wie Homeros, Ossian und das Nibelungenlied zusammengestellt werden könnte. ‒ J.M.] 
[18]  [Karl Collan (1828‒1871), Komponist und Literaturwissenschaftler. Übersetzte die Kalevala ins Schwedische 1864‒1868. ‒ J.M.]  
[19]  [Mathias Alexander Castrén (1813‒1852), Philologe und Ethnologe. Zwischen 1853 und 1862 erschien in deutscher Sprache die von der Russischen Akademie der Wissenschaften von Franz Anton Schiefner herausgegebene zwölfbändige Publikationsreihe A. Castréns nordische Reisen und Forschungen I‒XII. ‒ J.M.]  
[20]  [Donner, Otto (1835‒1909), Senator und Professor für Sanskrit und vergleichende Sprachforschung. ‒ J.M.]
[21]  [Johan Reinhold Aspelin (1842‒1915), Archäologe, a.o. Professor für nordische Archäologie an der Universität von Helsinki 1878−1885. ‒ J.M.]
[22]  [August Ahlqvist (1826‒1889), Dichter, Forschungsreisender und Philologe. ‒ J.M.]
[23]  [Die heutige Forschung vertritt den Standpunkt, dass die Kalevala-Gestalten rein mythische Personen sind. ‒ J.M.]
[24]  Dass unter dem Volk noch die Erinnerung an das göttliche Wesen des Väinämöi­nen und seine beinahe sinnbildliche Bedeutung immer noch erhalten geblieben ist, sieht man z.B. an dem folgenden Auszug aus der Zeitschrift „Kotiseutu“, März 1909: „Im vergangenen Winter hörte ich in Niemelä, im Dorf Juntusranta, Suomussalmi, ganz zufällig und zusammen mit anderen Sachen, eine recht bedeutende Beschreibung. Der alte Kleinbauer Jaakko Heikkinen, der sie mir gab, war bereits 83 Jahre alt, geboren am Ort, kannte zahlreiche alte Geschichten und besaß viel Wissen. Er erzählte: Väinämöinen hatte kein Fleisch und Knochen wie wir, sondern, wenn Zauberer und Runenmänner die Kraft aus Erde und Wasser und Mond und Sonne und aus allem beziehen, so ist das, was aus all dem entsteht, Väinämöinen.“
[25]  J. Krohn, Suomen suvun pakanallinen jumalanpalvelus (Heidnische Gottesanbetung des finnischen Völkerstammes), Helsinki 1894, S. 80.
[26]  Kalevala  (1835), Vorwort zur alten Kalevala, S. XI.
[27]  [Der Ortsname Kalevala erscheint in der Volksdichtung nur selten. Die Bezeichnung Kalevan poika, der Sohn Kalevas, kommt hingegen häufig vor. Lönnrot verfasste aus den Versionen der Volksgedichte über den Sohn Kalevas die Kullervo-Episode der Kalevala. In finnischen Dialekten erscheint kaleva als ein Kraft- oder Bestärkungswort. Es hat außerdem die Bedeutungen frech, stark, rüstig, ausgezeichnet und Wetterleuchten; in Karelien rüstig, energisch und ungezogen. In den alten westfinnischen und estnischen Erzählungen waren die Söhne Kalevas Riesen. ‒ J.M.]
[28]  Vgl. Gedicht „Eessä Isä Jumalan, Kengän kau’oilla Kalevan.“ („Vor dem Antlitz Vater Gottes, vor den Füssen des Kaleva.“)
[29]  Die moderne Psychologie lehnt den Willen ab, weil sie, indem sie in ihren Forschungen den empirisch-induktiven Weg geht, von Natur aus zum Materialismus neigt und also, philosophisch gesehen, deterministisch ist. Sie sieht nirgendwo den Willen, weil sie nirgendwo die Freiheit sieht. Die Manifestationen des menschlichen Willens sind keine Manifestationen des freien Willens, sondern notwendige Folgen der vorhergehenden Bewusstseinszustände, Gedanken und Gefühle. Der Wille, in analysierter Form, ist Gefühl oder Denken; den Willen an sich gibt es nicht. Hierbei handelt es sich um modernen Determinismus, und man kann dazu sofort bemerken, dass man sich sehr wohl einen Bewusstseinszustand vorstellen kann, der keine Tätigkeit verursacht; ein harmonischer und bewegungsloser Bewusstseinszustand würde sich nicht manifestieren; die vollkommene Seligkeit und das vollkommene Glück würden zu keiner Tätigkeit führen. Die heutige widersprüchliche Welt ist die conditio sine qua non des Determinismus, der allerdings eine Vorstellung über das Seelenleben der Menschen bis hin zum heutigen Entwicklungsstand gibt, aber weder tief genug noch hoch genug geht. Anders gesagt: in seinen Erfahrungsbereich ist kein Wesen geraten, das den Willen besessen hätte. Die spiritualistische Sichtweise gründet sich auf das Wissen, dass es freie Wesen gibt.
[30]  Diese Dinge haben wir auch im Heft Kirkonopin teosofia, I luku (Die Theosophie der Kirchenlehre, Kapitel I) erklärt.
[31]  [Rafael Zacharias Engelberg (1882‒1962), Schriftsteller und Meinungsführer. ‒ J.M.]
[32]  Kalevalan sisällys ja rakenne (Inhalt und Aufbau der Kalevala), Helsinki 1914, S. 106.
[33] [Siehe Fussnote 37 – M.H.]
[34]  [Prof. Kaarle Krohn wurde als Entwickler der folkloristischen „geographisch-historischen Methode“ (The Finnish Research Method) bekannt. Mit dieser Methode werden die Frühstadien der Runen, deren Verwandlungen und der Übergang von einem Ort zum anderen erforscht. Diese Methode gründet sich auf den Vergleich der Paralleltexte einer und derselben Rune. Durch die Analysierung der geographischen Verbreitung der Paralleltexte versuchte Prof. Krohn die früheren Runenversionen bis hin zur wahrscheinlich ursprünglichen Version zu rekonstruieren. Der Urheber dieser Methode war ursprünglich sein Vater Julius Krohn. Die Methode gilt als die erste wissenschaftliche Methode der Folkloristik. ‒ J.M.]
[35]  Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), Helsinki 1903, Suom. Kirj. Seura,  S. 357ff.
[36]  [Die im Jahr 1835 herausgegebene erste Version der Kalevala wird die Alte Kalevala genannt. Im Jahr 1849 veröffentlichte Lönnrot eine erweiterte und einheitlichere Version. Diese heißt  die Neue Kalevala und wird heute als die einzig richtige anerkannt. Die Schöpfungsgeschichte folgt in der Alten Kalevala den Paralleltexten der Volksgedichte, in denen Väinämöinen der Hauptheld ist. Die Handlung der Neuen Kalevala wurde von Lönnrot zusammengesellt. Um sich einen Einblick in die Weltentstehungsgeschichte der Alten Kalevala zu schaffen, empfiehlt sich das Lesen der folgenden Verse in dieser Reihenfolge: 6:1‒230, 7:1‒42 ja 1:177‒280. ‒ J.M.]
[37]  Hier muss es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der neuen und der alten Kalevala-Ausgabe geben. Der Parallelname „Veen   emonen“ („Wassermutter“) der Ilmatar (Lüftetochter) kann in der Rune mit gutem Grund „Väinämöi­nen“ gewesen sein.
[38]  Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), 357ff. [Die in Frage kommenden Verse lauten in der ursprünglichen Form: „Yksin meillä yöt tulevat, yksin päivät valkeavat, yksin meillä seppä syntyi, päivällä meni pajaah.” (”Einzeln nahen uns die Nächte, Einzeln leuchten uns die Tage, Einzeln ward der Schmied geboren, Ging am Tage in die Schmiede“). Mit diesen über Ilmarinen erzählenden Versen begann Martiska Karjalainen (1768‒1839) die Rune „Das Schmieden der goldenen Jungfrau“. ‒ J.M.]

[39]  Das Meer heißt z.B. auf Lateinisch mare, in Plural maria. Maria ist der Name der Mutter Christi (des Logos). Mutter ist auf Lateinisch mater, Materie ist auf Lateinisch materia. Es besteht also zwischen diesen innerlich gleichbedeutenden Wörtern sowohl der Form als auch dem Klang nach eine Ähnlichkeit: mater, materia, maria.
[40]  [Der „Schwan der Zeit“, in Sanskrit Kalahamsa, ist Brahma selbst. Eigentlich bedeutet Hamsa „Streifengans“ (Anser indicus), aber in der indischen Dichtung steht das Wort in ästhetischer Bedeutung für den Schwan. Bei einigen Versionen der Schöpfungsrunen der Kalevala steht, anstatt der Ente, die Gans. ‒ J.M.]
[41]  Die Zahlen können zwischen drei und acht variieren, denn die „Ebenen“ oder „Welten“ können auf verschiedene Weise definiert werden.
[42]  [Julius Krohn (1835‒1888), Folklorist und Professor für finnische Sprache und Literatur. Vater des Kaarle Krohn und Urheber der sog. „geographisch-historischen Methode“. ‒ J.M.]
[43]  J. Krohn, Suomalaisen kirjallisuuden historia, I, (Die Geschichte der finnischen Literatur, I), S. 290ff.
[44]  [Probst Johan Andreae Cajanus (1626‒1703) erzählt in seiner Beschreibung über die Gemeinde Paltamo von einem Riesen namens Calawa, der 12 Söhne hatte. Als Namen dieser Söhne werden Soini, Hiisi, Väinämöi­nen, Ilmarinen und Kihavanskoinen (Kihovauhkonen) genannt. „Mit diesen Söhnen des Calawa hat der finnische König ganz Russland erobert, worüber hier die alten Finnen immer noch singen.“(Om Paldamo, Tidningar utgifne af et sällskap i Åbo 1777). ‒ J.M.]
[45]  Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), S. 507ff.
[46]  [Der Volksdichtung über Kaukamoinen entsprechen in der Kalevala die Runen 20 und 27‒29. Das Gedicht  über den Inselländer Ahti findet man in den Runen 11, 12, 30. Dem eigentlichen Gesang des Lemminkäinen entsprechen die Runen 12, 14, 15, 20, 23, 24, 26, 27. ‒ J.M.]
[47]  Das wird am Ender dieses Buches erklärt.
[48]  [Der Name Poseidonis wurde ursprünglich von dem stoischen Philosophen Poseidonios (ca. 135–50 v. Chr.) für das Atlantis gegeben. Platon erzählt in seinem Dialog Kritias, dass der Meeresgott Poseidon sich in die auf dem Atlantis lebende Jungfrau Kleito verliebte. Ahti ist in Finnland der am häufigsten vorkommende Name für den Wassergeist. ‒ J.M.]