17. DER GESANG DES VÄINÄMÖINEN
Eine der schönsten, schwungvollsten und
mächtigsten Schilderungen in der Kalevala ist Väinämöinens Gesang. Sie wird in
der 41. Rune und als eine andere Version in der 44. Rune, Verse 231‒334
wiedergegeben. Daraus geht die Tiefe Ehrfurcht der alten Finnen der Natur
gegenüber deutlich hervor. Für sie war die Natur weder tot noch fremd. Auch die
„leblosen“ Dinge sind voll von Bewusstsein und Gefühl und stehen dem Menschen
gleich nah wie lebende Wesen. Der Mensch ist ja auch nur ein Ring in der großen
Schöpfungskette, gleichwertiger Bruder aller Wesen der Natur. Obwohl in der
Kalevala Beispiele für diesen „die Natur belebenden und personifizierenden“ Anschauung
häufig vorkommen, wird diese Sichtweise in der Beschreibung des Gesangs des
Väinämöinen gleichsam vollkommen vor die Augen geführt. Väinämöinen bezaubert
mit seinem Spiel und Gesang alle Lebewesen der Natur, und selbst wenn F. A.
Hästesko[1]
die Szene für eine „Schöpfung spielerischer und freier Phantasie“[2] hält
und damit die allgemeine Meinung äußern würde, hat diese Beschreibung für
denjenigen, der sie mit Verstand zu lesen vermag, eine zutiefst erhabene
sittliche und wahrheitsgetreue Bedeutung. Tatsächlich öffnet sie uns noch neue
Perspektiven über den geistigen Hintergrund, aus dem die Wahrheitssuche der
Weisen der Kalevala so lebendig hervorgeht.
Der spielende Väinämöinen erscheint hier als ein großer und vollkommener
Wissender. Man kann ihn nicht mehr für einen gewöhnlichen Wahrheitssuchenden
halten. Er steht hoch über der übrigen Menschheit, in einer schwindelnden Höhe,
wo kein Mensch imstande ist, die Saiten seiner Harfe zu berühren (40: 259‒332).
Julius Krohn sagt über diese Überlegenheit des Väinämöinen: „Sein persönliches
Streben nach dem Glück hat er hinter sich gelassen; er hat sein ganzes Leben,
sein gesamtes Denken und Fühlen dem Vaterland gewidmet“ (oder der „gemeinschaftlichen
Angelegenheit“, wie Rafael Engelberg bemerkt).[3] Er –
Väinämöinen – hat beinahe die menschliche Vollkommenheit erreicht, er ist der
Erstgeborene seines Volkes und gleichsam der Vater, wie es auch in der Rune
heißt:
Tehessä isän iloa,
Soitellessa Väinämöisen.
Als der liebe Vater spielte,
Bei den Tönen Wäinämöinen’s. [41. Rune]
An seinem Verhalten der Natur gegenüber und am Verhalten der Natur beim
Zuhören zu ihm, sieht man also, wie die finnischen Weisen das Verhältnis des
idealen Menschen und der übrigen Welt zueinander verstanden – wie sie also aus
eigener Erfahrung wussten, wie dieses Verhältnis war. Die Schilderung an sich
gibt uns eine großartige Lehre. Die mächtigste Eigenschaft eines überlegenen
Menschen ist seine beinahe grenzenlose Macht über die Natur. Er hat, anstatt
mit Gewalt oder furchterregenden Mitteln, durch seine Liebe, durch die Kraft
der Schönheit und Wahrheit, das Herz und das Mitgefühl der Natur für sich
gewonnen. Lebende und leblose Dinge sind von ihm hingerissen, hören ihm zu und
gehorchen ihm aus lauter Freude. Aus der Natur, deren Bewusstsein bis dahin für
das menschliche Bewusstsein unerreichbar war, ist jetzt ein großer Mensch
geworden, dessen Herz vor Freude und Dienstbereitschaft höher schlägt. Mit
grenzenloser Zuversicht wendet sie sich dem Weisen zu, ohne ihre Liebe und
Bewunderung dem Menschen gegenüber, die sie in ihrem Herzen eigentlich immer
empfunden hat, weiter zu verbergen.
Lasst uns das näher betrachten. Die Rune erzählt zuerst, wie sich alle
Tiere um Väinämöinen sammelten, um seinem Spiel und Gesang zuzuhören:
Ei ollut sitä metsässä
Jalan neljän juoksevata,
Koivin koikkelehtavata,
Ku ei tullut kuulemahan,
Iloa imehtimähän…
Mi oli ilman lintujaki,
Kahen siiven sirkovia,
Ne tulivat tuiskutellen,
Kiiätellen kiirehtivät
Kunnioa kuulemahan,
Iloa imehtimähän…
Ei sitä oloista ollut,
Ei ollut ve’essäkänä,
Evän kuuen kulkevata,
Kalaparvea parasta,
Ku ei tullut kuulemahan,
Iloa imehtimähän.
Nicht gab’s zu der Zeit im Walde
Thiere laufend auf vier Füßen,
Die mit langen Stelzen gingen,
Die nicht kamen zuzuhören,
Um bewundernd sich zu freuen…
Alle Vögel in den Lüften,
Alle Schwinger zweier Flügel
Kamen munter da geflattert,
Kamen eiligst angeflogen,
Um die Töne anzuhören,
Um bewundernd sich zu freuen…
Damals gab es keine Wesen,
Keine Thiere in dem Wasser,
Die mit sechs der Flossen wandern,
Keine Schaaren von den Fischen,
Die zum Hören nicht gekommen,
Sich nicht freuten voller Staunen. [41. Rune]
Und die Rune nennt ausdrücklich allerlei Tiere der freien Natur:
Eichhörnchen, Hermeline, Elche, Luchse, Wölfe, Bären, Adler, Habichte, Enten,
Schwäne, Finken, Lerchen, Hechte, Lachse, Schnäpel, Barsche, Stinten. Alle
folgten der Einladung des Weisen, alle Herzen schlugen höher.
Ist das nicht für die Menschen ein merkwürdiger Hinweis? „Schaut her“,
sagt die alte finnische Weisheit, „einige Tierarten habt ihr Menschen gezähmt
und sie zu euren Freunden und Dienern gemacht, doch der Wald, die Luft und das
Wasser sind voll von Lebewesen, gegen die Ihr kämpft oder die ihr zwingt, euch
zu dienen! Wie weit entfernt seid ihr doch noch vom Ziel! Ein vollkommener
Mensch, ein Weiser, steht mit keinem einzigen Tier auf Kriegsfuß; er liebt sie
alle und alle lieben ihn. So müsst auch ihr lernen, alle Tiere zu zähmen, bevor
ihr die Vollkommenheit erreicht.“ Und es sieht tatsächlich so aus, als hätte
ein anderer Weiser, der Christ Paulus, das Gleiche gemeint und auf die gleiche
Zukunft hingewiesen, als er seine bekannten Wörter schrieb: „Denn das
sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes.
Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden, nicht mit Willen,
sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung, daß auch selbst die Schöpfung freigemacht
werden wird von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit
der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und
zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.”[4]
Und eine solche Beschreibung der Zukunft, die in der Kalevala und in der
Bibel zu finden ist, ist nicht aus der Luft gegriffen.[5] Wenn
wir auch nur ein wenig den mittelalterlichen Legenden und Reiseberichten aus
dem Osten Glauben schenken können, stellen wir fest, dass die Wirklichkeit oft
mit den Texten der heiligen Schriften übereinstimmt. In Indien sagt man: Wenn
ein heiliger Jogi meditiert, hat kein einziges Tier Angst vor ihm; Vögel
fliegen frei um ihn herum; auch Raubtiere aus dem Wald fühlen sich von ihm
angezogen; Tiger und Schlangen kriechen zu seinen Füssen und entzücken sich an
der Sonne der Liebe, die aus seinem Herzen strahlt.
Und warum sollten wir Legenden nur für Erzeugnisse der Phantasie halten?
In ihnen liegt ja immer ein Kern der Wahrheit verborgen, um die sie sich
gewoben haben, und man hat oft mehr Wahrheit in sie versteckt als in sogenannte
historische Berichte. Wer kennt nicht die Heiligenlegenden über Franziskus von
Assisi? Lasst uns ein paar davon erwähnen, die zeigen, welch eine wunderbare
Macht er über die Tiere hatte.
Einmal, als er auf der Wiese eine Predigt vor einer großen Menschenmenge
hielt, kam eine Schwalbenschar angeflogen und war so laut, dass die Anwesenden
Franziskus nicht hören konnten. Als Franziskus das merkte, wandte er sich ruhig
an die Vögel und sagte: „Meine lieben Schwestern, ihr habt genug geschrien,
jetzt ist die Reihe an mir, zu sprechen; hört auch ihr zu!“ Und die
Schwalbenschar schwieg sofort und schwebte leise über der Menschenmenge, und
keiner von ihnen flog weg, bevor Franziskus seine Predigt beendet hatte.
Eine andere Legende erzählt von einem Wolf. Franziskus kam einmal in ein
entlegenes Dorf. Dort erzählte man ihm von einem großen, furchterregenden Wolf,
der im Dorf sein Unwesen trieb und sich fast jeden Abend ein Schaf, ein Huhn
oder ein anderes Tier zum Fressen holte. Franziskus ging am Abend aus dem Dorf
hinaus und wartete auf den Wolf. Ein großer, grauer Wolf kam, hungrig und
grausam, ihm entgegen. Doch der große Tierfreund näherte sich ohne zu fürchten
dem Wolf, sprach ihn an und streckte ihm die Hand. Und der Wolf streckte ihm
die Tatze und nickte verständnisvoll den Kopf, als Franziskus ihn mit milden
Worten tadelte: „Du, Bruder Wolf, warum hast du den Wohnort armer Leute zu
deinem Jagdrevier gewählt, und warum jagst du nach ihren Haustieren? Das ist
nicht richtig, das sollst du nicht tun. Versprich mir, dass du das Dorf in Ruhe
lässt.“ Und die Legende erzählt, dass der Wolf sein Versprechen gab und das
Dorf in Ruhe ließ.
Die Kalevala erzählt aber nicht nur von Tieren, die vom Spiel des
Väinämöinen begeistert waren. Auch das Pflanzenreich beteiligte sich an der
gemeinsamen Freude:
Petäjät piti iloa
Kannot hyppi kankahilla.
Fichten waren voller Freude,
Stämme hüpften auf der Heide. [44. Rune]
Und um gleichsam auch zu zeigen, dass das Spiel des Väinämöinen kein
besonderes Ereignis oder kein Einzelfall war, sondern wie ein durchsichtiger
Faden durch sein damaliges Leben hindurch lief, erzählt die Kalevala weiter:
Kun hän kulki kuusikossa,
Vaelti petäjikössä,
Kuusoset kumartelihe,
Männyt mäellä kääntelihe,
Käpöset keolle vieri,
Havut juurelle hajosi.
Kun hän liikahti lehossa,
Tahi astahti aholla,
Lehot leikkiä pitivät,
Ahot ainoista iloa,
Kukat kulkivat kutuhun,
Vesat nuoret notkahteli.
Wandert er im Fichtenwalde,
Gehet er durch Tannenhaine,
Bücken tief sich alle Fichten,
Neigen sich zur Erd’ die Tannen,
Nieder fallen ihre Zapfen,
Zu den Wurzeln ihre Zweige.
Wandelte er durch die Haine,
Oder schreitet er durch Büsche,
Spielten munter gleich die Haine,
Freuten immer sich die Büsche,
Wurden liebevoll die Blumen,
Beugten sich die jungen Reiser. [44. Rune]
Auch das Pflanzenreich wird also als eine lebendige, bewusste Welt
dargestellt, das fühlen und lieben, sich freuen und trauern kann. Und obwohl
wir Menschen im Allgemeinen sehr wenig das Seelenleben der Pflanzenwelt kennen
und obwohl viele von uns bereit sind, auch nur über die Annahme zu lachen, dass
Blumen und Bäume ‒ auf ihre eigene, primitive Art ‒ seelische Wesen wären, so
lasst uns nach der Meinung derjenigen fragen, die viel mit Pflanzen zu tun
haben ‒ Gärtner, Blumenzüchter, Zimmerpflanzenpfleger usw. ‒ und wir werden mit
Sicherheit erfahren, dass das Wesen verschiedener Bäume und Blumen
unterschiedlich ist und dass sie gut oder schlecht gelaunt sein können und sehr
wohl empfinden, ob sie geliebt werden oder nicht, usw. Warum hängt der Mensch
an seinem Geburtsort, warum sehnt er sich nach seiner Heimat zurück?
Eigentümlich für insbesondere den finnischen Charakter ist, dass tief in seiner
Seele eine nagende Sehnsucht nach Hause wohnt. Wenn ein Finne oder eine Finnin im Ausland ist, kann er oder
sie die heimische Natur, deren Fichten und Birken, Berge und Anhöhen, deren
Seen und Flüsse nicht vergessen. ”Das eigene Land Erdbeere ‒ das andere Land
Blaubeere.“ Oder, wie die Kalevala sagt (7: 285‒288):
Parempi omalla maalla
Vetonenki virsun alta,
Kuin on maalla vierahalla
Kultamaljasta metonen.
Besser ist’s im eignen Lande
Wasser aus dem Schuh zu trinken,
Als im fernen fremden Lande
Honigtrank aus goldner Schale. [7. Rune]
Woran liegt es? Liegt es vielleicht nur daran, dass die Eindrücke der
Kindheit am stärksten sind? Nicht nur. Die Eindrücke der Kindheit sind stark,
denn das Herz ist rein und für die Umgebung empfänglich, doch die Liebe liegt
nicht einseitig auf der Seite des Menschen: Auch die Natur liebt das Kind.
Unsere Liebe zur Heimat gründet sich ebenso viel auf die Liebe des Ortes zu uns
wie auf unsere Liebe zu ihm. Die Gefühle sind beidseitig, und wir Finnen haben
die eingeborene Neigung, die Natur zu verstehen. In unserer Liebe gibt es etwas
Stilles, etwas Unerklärliches, etwas, das den stillen Gefühlen der Bäume und
Pflanzen entspricht.
Vom Standpunkt der uralten Weisheit aus gesehen ist das Pflanzenreich
auch kein unbewusster Organismus, sondern gleichsam eine große Schulklasse im
Entwicklungssystem des Bewusstseins. Die Naturreiche vom Steinreich aufwärts
sind mächtige Stufen, auf denen das lebende Bewusstsein langsam emporsteigt, um
Mensch zu werden. Erst in der Gestalt des Menschen individualisiert sich das
Bewusstsein. Bis dahin äußert es sich als Gattungs- oder Gruppenbewusstsein und
strebt bei den höchst entwickelten Tieren nach persönlicher Individualisierung.
Das geheime Wissen hat keinen Zweifel daran, dass die Natur Seele und Gefühle
hat. Wenn ein gedankenloser Junge mit einem Stock auf das Gras und Blumen
schlägt und beim Gehen alles zertrampelt, dann empfindet die Natur schweigend
Schmerzen. Wenn aber der Bauer im Herbst seine reifte Ernte mäht, dann
erzittern die Äcker vor Freude. Der Mensch ist ja berufen, sich an der großen
Erziehungsarbeit der Natur zu beteiligen. Doch er erfüllt seine Aufgabe
schlecht, wenn er sie grausam, kaltblütig oder rücksichtslos behandelt. Möge
jeder Finne und jede Finnin von der Kalevala lernen, in welch ein wunderbares
Verhältnis ein guter und liebevoller Mensch der liebenden, wenn auch stummen
Natur gegenüber gelangen kann.
Und in ihrer tiefen Naturkenntnis beschränkt die Kalevala sich nicht nur
auf die sogenannte lebende Natur: Auch die leblose Natur ist für sie bewusst
und fühlend; auch sie freut sich über das mächtige Spiel des weisen
Väinämöinen:
Vuoret loukkui, paaet paukkui,
Kaikki kalliot tärähti,
Kivet laikkui lainehilla,
Somerot vesillä souti.
Berge springen, Blöcke krachen,
Ganze Felsen selber dröhnen,
Steine bersten auf den Fluthen,
Kies selbst schwimmet in dem Wasser, [44. Rune]
und
Kun hän soitteli kotona,
Huonehessa honkaisessa,
Niin katot kajahtelivat,
Permannot pemahtelivat,
Laet lauloi, ukset ulvoi,
Kaikki ikkunat iloitsi,
Kiukoa kivinen liikkui,
Patsas patvinen pajahti.
Spielte er in seinem Hause,
In der Wohnung, die von Tannen,
Dann ertönte die Bedachung,
Dann erdröhnte oft der Boden,
Sang die Decke, heult’ die Thüre,
Alle Fenster jubeln lustig,
Selbst des Ofens Steine schwankten
Und die Pfeiler selbst ertönten. [44. Rune]
Diese Schilderung ist ästhetisch so natürlich, dass man sagen möchte,
dass der Runensänger lediglich hat aufweisen wollen, wie auch leblose Dinge
sich auf ihre Weise den Tonschwingungen anschließen. Wenn man aber die
Ideenwelt der Kalevala kennt, weiß man sehr wohl, dass die Rune tatsächlich
sagen will, dass die Dächer, Fußböden, Fenster und Türen an der gemeinsamen
Freude teilnahmen. Okkultistisch gesehen ist ein solcher Standpunkt kein Sprung
aus der Wirklichkeit hinaus. Was vorher über die Pflanzenwelt gesagt wurde,
gilt, etwas abgewandelt, auch für die unbelebte Natur. Auch das Steinreich
fühlt, allerdings schwerfälliger und schwächer. Auch leblose Dinge können
lieben und sich freuen, obwohl sie, mehr als die lebende Natur, nur das
Mitgefühl und die Zärtlichkeit reflektieren, die wir ihnen gegenüber empfinden.
Mit wie feinen Banden können wir doch z.B. mit unseren Möbeln, Büchern, Kunstgegenständen,
mit unserer ganzen unbelebten Wohnung verbunden sein! Wenn wir uns liebevoll um
sie kümmern, sie streicheln und sie ansprechen; wenn wir sie wie Kinder oder
Freunde behandeln, sind auch sie gut gelaunt und dankbar, sehen fröhlich aus,
dienen uns gern, trösten uns, wenn wir traurig sind, beraten uns, wenn wir
unsicher sind. Welch einen Freundeskreis kann sich der Mensch doch aus seinen
„unbelebten Gegenständen“ schaffen! Poeten können das, und alltägliche Menschen
sind in ihrer Unwissenheit allzu bereit, solche Schwärmer mitleidsvoll zu
belächeln.
Auch Wissenschaftler haben ja bereits festgestellt, dass Metalle ermüden
können, und jeder Mensch weiß es aus eigener Erfahrung. Kein Rasiermesser ist
nicht immer gleich scharf, obwohl es regelmäßig geschliffen wird; es hat seine
eigenen Launen. Es wird auch erzählt, dass Barbiere zu sagen pflegen: „Dieses
Messer ist müde. Man muss es etwas ausruhen lassen, dann arbeitet es wieder
ausgezeichnet.“ Wir nennen das Phänomen Ermüdung – vielleicht nennen es die
Messer selbst bei ihren psychologischen Nachforschungen mit einem anderen
Namen. Tatsache ist nun mal, dass Metalle bald frisch, bald müde sind.
Und die Maschinen erst! Lasst uns nur die Maschinenführer fragen, ob die
Maschinen tote Gegenstände sind, dann werden wir die Wahrheit erfahren. „Tote
Gegenstände ‒ von wegen! Lebendig sind sie, lebendig und sehr launenhaft. Wenn
ein Fremder meine Maschine anfasst, wird sie sofort beleidigt und will nicht
laufen.“ Lokomotive z.B. verbünden sich immer mit ihren eigenen Führern und
vertragen keine anderen. Auch sie müssen dann und wann ruhen können, sonst
laufen sie schlecht und haben keine Kraft zu ziehen.
Erstaunlich tief hat die Kalevala ins Seelenleben der Natur erblickt. Das
geht auch daraus hervor, dass die finnischen Weisen nicht nur in der sichtbaren
Natur Seele und Bewusstsein erblickt, sondern auch in der unsichtbaren
Seelenwelt Lebensäußerungen und Wesen wahrgenommen haben, die kein physisches
Gegenstück haben. Für den Materialisten sind sie nichts anderes als
Phantasiebilder, für den Wahrheitssuchenden aber nicht, denn es gibt ja heute
Menschen, für die die Bewohner der unsichtbaren Welt ebenso wirklich sind wie
die der sichtbaren Welt.
Eine Kalevala-Rune nennt viele davon, und sie alle scharen sich um
Väinämöinen, um seinem Spiel zuzuhören.
Tapiolan tarkka ukko,
Itse Metsolan isäntä,
Ja kaikki Tapion kansa,
Sekä piiat jotta poiat
Kulki vuoren kukkulalle
Soittoa tajuamahan;
Itseki metsän emäntä,
Tapiolan tarkka vaimo
Sinisukkahan siroikse,
Punapaulahan paneikse,
Loihe koivun konkelolle,
Lepän lengolle levahti
Kanteloista kuulemahan,
Soittoa tajuamahan…
Tuo Kuutar korea impi,
Neiti Päivätär pätevä
Pitelivät pirtojansa,
Niisiänsä nostelivat,
Kultakangasta kutoivat,
Hope’ista helskyttivät
Äärellä punaisen pilven,
Pitkän kaaren kannikalla.
Kunpa saivat kuullaksensa
Tuon sorean soiton äänen,
Jo pääsi piosta pirta,
Suistui sukkula käestä,
Katkesihe kultarihmat,
Helkähti hopeaniiet…
Ahto aaltojen kuningas,
Ve’en ukko ruohoparta
Ve’en kalvolle veäikse,
Luikahaiksi lumpehelle,
Siinä kuunteli iloa…
Itseki ve’en emäntä,
Ve’en eukko ruokorinta
Jopa nousevi merestä,
Ja lapaikse lainehista…
Tuota ääntä kuulemahan,
Soitantoa Väinämöisen…
Se siihen sikein nukkui,
Vaipui maata vatsallehen
Kirjavan kiven selälle,
Paaen paksun pallealle.
Tapiola’s kluger Alter,
Selbst der Hausherr von Metsola
Und das ganze Volk Tapio’s,
Wie die Mädchen, so die Knaben,
Stiegen auf des Berges Spitzen,
Um das Spielen anzuhören;
Selbst die Wirthin von dem Walde,
Tapiola’s kluge Alte
Zog nun an die blauen Strümpfe,
Band sie fest mit rothen Bändern,
Setzt sich auf der Birke Beule,
Auf die Krümmung einer Erle,
Um das Harfenspiel zu hören,
Um die Töne zu vernehmen…
Hielt des Mondes schöne Jungfrau
Und der Sonne schöne Tochter
In der Hand die Weberkämme,
Heben auf die Weberschafte,
Weben an dem Goldgewebe,
Rauschen mit den Silberfäden
An dem Rand der rothen Wolke,
An des langen Bogens Kante.
Als sie aber nun vernahmen
Dieser schönen Harfe Klänge,
Fiel der Kamm rasch aus den Händen,
Rauscht das Schifflein aus den Fingern,
Ging entzwei der goldne Faden,
Riß die Schnur von schönem Silber…
Ahto, König in den Fluthen,
Mit dem Grasbart dieser Alte,
Schleppt sich zu der Wasserfläche,
Schwimmt auf einer Wasserblume,
Lauschte auf die schönen Töne…
Selbst die Wirthin von den Fluthen,
Sie die schilfbedeckte Alte
Hob sich aus des Meeres Tiefe,
Taucht’ bedächtig aus den Fluthen…
Um die Töne anzuhören,
Wäinämöinen’s schönes Spielen…
Fing gar rasch an einzuschlummern,
Sank zum Schlafen dorten nieder,
Auf des bunten Felsens Rücken,
Auf der dicken Klippe Kante. [41. Rune]
Es sind Geister der Erde, der Luft, des Wassers und des Feuers, deren
Existenz für die blinde Kultur Märchen ist, die aber die uralte finnische
Weisheit ebenso gut kannte wie die Tradition aller Völker und Zeiten; sie
kannte sie ebenso gut wie die ursprünglichen Verfasser der mittelalterlichen
Märchen und die Alchimisten und Geheimwissenschaftler des Mittelalters, die in
ihren Schriften Naturgeister nennen und klassifizieren. Paracelsus ist ja der
Vater der modernen Medizin; er war ja Beobachter und vertrat in mancher
Hinsicht den Standpunkt der heutigen Wissenschaft. Trotzdem glaubte er an
Naturgeister und nennt, wie auch die Kalevala, vier Arten davon: Gnome ‒ „Tapios Volk“, die in der Erde
wohnen; Sylphen ‒ „der Lüfte Schöpfungstöchter“
und „der Lüfte Jungfraun“, die in der Luft wohnen; Undinen und Nixen ‒
„Ahtis“, „Sotkotöchter“, die im Wasser wohnen; Salamander ‒ „des Mondes schöne Jungfraun“ und „der Sonne schöne
Töchter“, die im Feuer wohnen.
In alten Zeiten lebten die Menschen auch mit diesen unsichtbaren Wesen in
einer engeren Beziehung als heute. Weil die Naturgeister mehr und
unmittelbarere Macht über die Natur und die Naturgewalten haben als wir Menschen,
ist es natürlich, dass in alten Zeiten Völker und Individuen sie um Hilfe baten,
ihre Gunst suchten, Freundschaften mit ihnen schlossen usw. Die gesamte „auf
Angst und Unwissenheit beruhende Anbetung der Naturgewalten“, wie unsere
Wissenschaftler dieses schöne Verhältnis unserer Ahnen zu den Naturgeistern
nennen, bekommt im Lichte der Tatsachen eine ganz andere Färbung. Eher sind
wir, Kinder der heutigen Zeit, unwissend und abergläubisch, die wir denken,
dass die Erde für uns allein erschaffen wurde, und die wir nicht sehen, dass
dieser wunderschöne Planet Schule und Heimat für Millionen und Abermillionen Wesen
ist, die mit den uns bekannten Naturreichen in keiner direkten Verbindung
stehen.
In diesem Zusammenhang wollen wir
nicht weiter auf die Naturgeister eingehen. Wir wollen nur sagen, dass der
brüderliche, freiheitliche und erhabene Geist der Kalevala unseres Erachtens
auch darin zu sehen ist, dass sie, wenn sie über die Wesen der unsichtbaren
Welt spricht ‒ unabhängig davon, ob sie in der Rangordnung hoch oder niedrig
stehen ‒ sie immer sehr vertraulich
und natürlich, den Menschen und allen Wesen ebenbürtig, als
Brüder und Schwestern in der großen Schöpfung Gottes darstellt.
III
DIE INNERE ETHIK
DER KALEVALA
OKKULTISTISCH-PSYCHOLOGISCHER ODER
PRAKTISCH-SOTERIOLOGISCHER SCHLÜSSEL
18. DER WEG DES WISSENS
Die esoterische Ethik der Mysterienweisheit,
die die Weisen in allen Zeiten gelehrt haben, ist keine exoterische Ethik von
gestern. Die christliche Alltagsmoral schreibt z.B. vor, wie der Mensch leben
und denken (glauben) muss, um in diesem Leben erfolgreich zu sein, um lange zu
leben und im Jenseits die ewige Freude zu erlangen. Sie hat eine recht
bürgerliche und egoistische Prägung. Ihre einzige weitblickende Perspektive ist
die himmlische Glückseligkeit, doch weil diese sich nur darauf beschränkt, um
den Thron Gottes ziemlich unsinnige Freude zu empfinden, bleibt für die
ethische Perspektive als handfestes Ideal nur ein möglichst tadellos,
gesetzestreu und der allgemeinen Meinung gemäß durchgeführtes
gesellschaftliches Leben, insbesondere eine Karriere. Jeder denkende Mensch,
jeder Wahrheitssuchende, hat deshalb erleben müssen, dass die christliche Ethik
ausgerechnet in Bezug auf den äußeren Lebenswandel seine tiefste, persönlichste
Frage: wie soll ich das Leben verstehen? wie soll ich leben? unbeantwortet
lässt.
Anders verhält es sich bei der esoterischen Moral. Sie fängt dort an, wo
die exoterische endet. Erst wenn der Mensch als Wahrheitssuchender fragt, wie
er leben muss, bietet ihm die innere Ethik die Antwort, erst dann kann er die
ethischen Lebensweisheiten der Weisen verstehen. Erst wenn der Mensch mit aller
Kraft seiner Seele nach der Erkenntnis der Wahrheit durstet, hört er, wie ihm
die Mysterienweisheit flüstert: Die wahre menschliche Ethik ist geistige
Entwicklung, sie ist Wandeln auf dem schmalen Weg der Erkenntnis.
Das Ziel der Reise ist die göttliche Erkenntnis der Mysterien des Lebens
und des Todes, der Natur und der Schöpfung, der sichtbaren und der unsichtbaren
Welten, des Guten und des Bösen sowie die mit dieser Erkenntnis Hand in Hand
gehende göttliche Liebe und göttliche Macht. Wie kann man denn zu dieser
Erkenntnis gelangen? Sie ist keine auswendig zu lernende Lektion, keine durch
Lehren von anderen oder allein durch eigenes Denken anzueignende Überzeugung,
sondern eine auf Erfahrung beruhende und wirklich wissenschaftliche Erkenntnis.
Wie kann man also zu einer solchen Erkenntnis z.B. über die unsichtbaren Welten
und die Umstände nach dem Tod gelangen? Unser Wissen gründet sich ja im
Allgemeinen auf Wahrnehmungen. Wir machen Wahrnehmungen durch unsere Sinne; aus
diesen Beobachtungen verschaffen wir uns in verschiedenen psychologischen
Prozessen Vorstellungen, Begriffe und Allgemeinbegriffe. Wie sind nun die
Beobachtungen, auf die sich die Beschaffung der übersinnlichen, der übernatürlichen
und der göttlichen Erkenntnis gründet und wie sollte man solche Beobachtungen
machen?
Um das zu verstehen müssen wir uns von einigen psychologischen Irrtümern
befreien und uns gleichzeitig eine Auffassung über die größeren
Wissensmöglichkeiten der weiter blickenden Seelenkunde bilden.
Die Psychologie macht einen Unterschied zwischen den äußeren und den
inneren Wahrnehmungen. Äußere Wahrnehmungen entstehen durch Reize, die von außen
kommen: Wir sehen, hören, riechen usw. Dinge und Zustände in unserer Umgebung.
Innere Wahrnehmungen entstehen durch Reize von innen, z.B. durch chemische
Änderungen in unserem Körper. Verschiedene innere Sinneswahrnehmungen zusammen
erzeugen wiederum Gefühle von Hunger, Müdigkeit, Munterkeit, Schmerzen usw.
Diese Wahrnehmungen, die in mancher Weise komplizierter und vielfältiger
werden, bilden nach der heutigen Psychologie sozusagen das Versuchsfeld unserer
Seele. Die äußeren Sinne vermitteln uns Erkenntnisse über die objektive Welt,
während die inneren uns den subjektiven Zustand unseres Körpers erkennen lassen
und unsere Vorstellung über die uns umgebende Welt färben.
Das ist natürlich im Grunde genommen wahr, und der Irrtum liegt nur
darin, dass die heutige Psychologie glaubt, dass die inneren Wahrnehmungen sich
nur auf subjektive Dinge beschränken, dass wir also durch die inneren Sinne
keine anderen als nur unseren Körper betreffende Wahrnehmungen machen können.
Dieser Irrtum wiederum rührt daher, dass unsere wissenschaftliche Psychologie
unseren physischen Körper nur als sozusagen Wohnung unseres persönlichen
Seelenlebens sieht und nicht als das dem Makrokosmos entsprechende mikrokosmische
Mysterium, das unser Körper in Wahrheit ist; und auch daher, dass unserer
offiziell anerkannten Anatomie und Physiologie die feinsten ätherischen Teile,
die die unsichtbare Seite unseres sichtbaren Körpers bilden, also die
Eigenschaften und Entwicklungsmöglichkeiten, die in diesem Ätherleib verborgen
liegen, unbekannt sind.
Wenn wir uns hingegen auf den Standpunkt der okkultistischen Physiologie
stellen und annehmen, dass jedes der verschiedenen ‒ sichtbaren wie
unsichtbaren ‒ Organe unseres Körpers je einem bestimmten Bereich des inneren
Mechanismus im physischen Kosmos entspricht, verstehen wir a priori, dass, wenn wir zwischen unserem körperlichen Mikrokosmos
und dem uns umgebenden Makrokosmos eine solche harmonische Korrespondenz
herstellen könnten, der erstere dann Wahrnehmungen über den letzteren
vermitteln könnte, die Erkenntnismöglichkeiten unserer Seele beinahe grenzenlos
gewachsen wären und ihr Versuchsfeld sich bis außer Sichtweite erweitert hätte.
In unserem Körper würden sich gleichsam neue Sinne entwickeln und der Körper
selbst würde von einem störrischen Tier zu einem unparteiischen
Anschauungsmittel verwandeln.
Aus der Sicht der Geheimwissenschaft ist das nicht bloß eine Annahme.
Alle Weisen wissen, dass diese Hypothese eine auf Erfahrung beruhende Tatsache
ist. Die Moral der Mysterienweisheit lehrt ausdrücklich, wie der
Wahrheitssuchende sich innerlich reinigen und vorbereiten muss, damit seine
eigene Persönlichkeit sich zu einem Mittel zur Erlangung der Weisheit
entwickeln könnte. Ihr Verfahren gründet sich auf die psycho-physiologische
Tatsache, dass körperliche und seelische Funktionen parallel laufen, und sie
nutzt die Erkenntnis, dass körperliche Funktionen von der Seele aus beeinflusst
werden können: Wenn wir z.B. in uns ein bestimmtes Gefühl erwecken, erzeugen
wir in unserem körperlichen Zustand eine gewisse Veränderung. Die esoterische
Ethik geht davon aus, dass der Mensch berufen ist, Herr seiner selbst zu sein,
sich zu erziehen und sich zu beherrschen. Deshalb verkündet sie von Anfang an: procul profani – bleibt fern, ihr, die
ihr nicht an eure eigene Kraft glaubt.
Wege zum Ziel gibt es förmlich gesehen viele, obwohl sie im Geiste eins
sind. Jedes Individuum muss gewissermaßen seinen eigenen Weg, je nach seinem
menschlichen Temperament, gehen.
Auch die alten finnischen Weisen scheinen einen gewissen Unterschied
zwischen verschiedenen Temperamenten gemacht zu haben, weil wir in der Kalevala
einen Nachhall von zumindest zwei Temperamenten im Anfangsstadium vorfinden:
dem Lemminkäinen-Temperament, das für einen Gefühlsmenschen kennzeichnend ist,
und dem Ilmarinen-Charakter, der zum Temperament eines Vernunft- und
Tatenmenschen gehört. Wir sprechen nicht von einem besonderen
Väinämöinen-Charakter, weil Väinämöinen, als Vertreter des menschlichen
Willens, hinter allen Wegen steht. Als wir vorher über die Dreiheit des Logos,
also über die Väinämöinen-, Ilmarinen- und Lemminkäinen-Kräfte sprachen, sagten
wir, dass die Väinämöinen-Kräfte erst später in der Geschichte der Menschheit
erscheinen, d.h. erst in der esoterischen Entwicklung des individuellen Menschen.
Wenn wir die Entwicklungspsychologie der Kalevala erforschen, müssen wir also daran
denken, dass wir dabei gleichzeitig die Funktion der Väinämöinen-Kräfte
erforschen. Väinämöinen erscheint auch ständig in diesem Zyklus der Kalevala-Erzählung.
Obwohl z.B. Ilmarinen als aktiver Darsteller auf der Bühne steht, erscheint
Väinämöinen ständig als Anreger, Inspirator, Ratgeber und am Ende auch als
aktiver Darsteller.
Man unterscheidet nämlich auf dem Weg des Wissens zwei Phasen: Die erste
ist die vorbereitende Reinigung und die zweite die Beschaffung des Wissens. Auf
dem Weg der Reinigung bereitet der Mensch seinen körperlichen Mechanismus zu einem
zumindest einigermaßen funktionierenden Zustand vor, um ihn dann auf dem wahren
Weg für die Erforschung der Welt benutzen und weiter entwickeln zu können.
Auch die Kalevala macht einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden
Phasen. Der vorbereitende Weg wird in den Brautfahrts-Runen, der eigentliche
Weg in der Sampo-Episode geschildert. Rafael Engelberg, der den Inhalt der
Kalevala aus ästhetisch-psychologischer Sicht mit großer Sachkenntnis studiert
hat, hat diese Zweiteilung[6] bemerkt
und nennt den ersten Teil der Kalevala (Runen 1 bis 25) „Sampo wird an Pohjola
verloren“, den zweiten (Runen 26 bis 50) „Sampo wird zurückerobert“. Die
Grundlage seiner Einteilung ist natürlich eine andere als unsere, und er hat
nicht einmal ahnen können, was die Kalevala okkultistisch gesehen beinhaltet.
Wir haben die Sache jedoch erwähnt, weil seine Überschriften die zwei Phasen des
geheimen Weges sehr treffend zum Ausdruck bringen. Man kann tatsächlich sagen,
dass man auf dem Weg der Reinigung den „Sampo an Pohjola verliert“. Der Sampo
ist okkultes Wissen und Macht: Auf dem vorbereitenden Weg wird der Mensch sich
dessen bewusst, dass es die geheime Weisheit gibt; es ist, als ob er den Sampo
schmieden würde. Er verliert ihn jedoch sofort, bekommt aber dafür die
Nordlandstochter; d.h., anstatt Wissen oder Macht, erreicht er nur seine eigene
Seele. Sampo wird an Pohjola verloren: Okkultes Wissen wohnt in seinem Körper.
Erst danach beginnt die zweite Phase des Weges: Der Sampo wird zurückerobert
und das Wissen und die Macht, die im Körper verborgen liegen, kommen ans
Tageslicht.
Wenn wir in der Kalevala Hinweise auf die geheimen Wege des Lebens
suchen, öffnen wir den Inhalt der Runen mit einem speziellen, dem sog.
okkultistisch-psychologischen Schlüssel. Wir haben bereits darauf hingewiesen,
dass wir nicht annehmen können, dass Eigenschaftsnamen und Dinge, mit welchem
Schlüssel auch immer die Runen geöffnet werden, unbedingt die gleiche Bedeutung
haben. Im Gegenteil, die Bedeutung kann sich ändern, und es gibt mehrere
Bedeutungen. Als wir über das Mysterienwissen in der Kalevala sprachen,
benutzten wir andere Schlüssel: die kosmischen und die theogonischen Schlüssel.
Hier geht es hingegen um eine individuell-psychologische Sache, und die
Bedeutung der Eigenschaftsnamen ändert sich je nach dem Schlüssel. Ilmarinen
und Lemminkäinen, die im ersten Teil Götter waren, treten nun als Menschen auf
die Erde und stellen Mysterienanwärter dar, die nach der Wahrheit und der
geheimen Weisheit suchen. Väinämöinen hingegen, wie bereits erwähnt, tritt erst
jetzt als Vertreter der göttlichen Väinämöinen-Kräfte auf die Bühne, und wir
können ihn als eine in der Seele des Menschen sprechende Stimme des Geistes
verstehen, aber auch – und insbesondere am Anfang des Weges – als ein
menschliches Wesen (Wissender, Meister), in dem die Väinämöinen-Kräfte
verkörpert sind.
19. JOUKAHAINEN.
Bevor der Mensch den Weg der Reinigung
bewusst antreten kann, muss seine Seele in den geistigen Zustand des Wahrheitssuchenden
gebracht werden. Er muss bereit sein, sich selbst der Wahrheit zu opfern. Die
Kalevala lehrt uns dieses Gesetz des Geistes, indem sie dramatisch und wirkungsvoll
beschreibt, wie unser Seelenzustand nicht sein darf. In dieser negativen
Darstellungseise kommt sie somit näher an unser alltägliches Leben heran, ist
realistischer und vertrauter und lässt uns in keiner Weise im Unklaren darüber,
wie der Seelenzustand des Wahrheitssuchenden sein sollte. Diese Darstellung
steht in der Aino-Episode, im poetischsten Teil der Kalevala-Runen. Sie besteht
aus zwei Teilen, nämlich aus „Joukahainens Wettsingen“ und „Väinämöinens
Werbung“ sowie dem darauffolgenden Selbstmord Ainos.
Olipa nuori Joukahainen,
Laiha poika Lappalainen,
Se kävi kylässä kerran,
Kuuli kummia sanoja,
Lauluja laeltavaksi,
Parempia pantavaksi
Noilla Väinölän ahoilla,
Kalevalan kankahilla,
Kuin mitä itseki tiesi,
Oli oppinut isolta.
Tuo tuosta kovin pahastui,
Kaiken aikansa kaehti
Väinämöistä laulajaksi,
Paremmaksi itseänsä.
Dorten lebte Joukahainen,
Dieser magre Lappenjüngling;
Einst als er zu Gast gegangen,
Hört er wundersame Worte,
Daß man schöner singen könnte,
Bess’re Lieder schaffen könnte
Auf den Fluren von Wäinölä,
Auf den Flächen Kalewala’s,
Als er selbst im Stande wäre,
Als vom Vater er gelernet.
Wurde drob gar weidlich böse,
War die ganze Zeit voll Neides
Ob des Sangs von Wäinämöinen,
Daß er besser sei denn seiner. [3. Rune]
Und Joukahainen beschließt ‒ den Verboten und Warnungen seiner Eltern
trotzend ‒ sich in den „Wettstreit“ gegen Väinämöinen zu begeben. Er spannt
seinen feurigen Ross vor seinen goldenen Schlitten an, setzt sich auf den
Schlitten und fährt auf die Fluren von Väinölä. Auch Väinämöinen ist mit seinem
Schlitten unterwegs. Am dritten Tag begegnet er Väinämöinen, und: „Deichsel
haftet an der Deichsel, Riemen reibet sich am Riemen.“ Väinämöinen fragt, wer
so ungeschickt fährt, und Joukahainen antwortet: „Bin der junge Joukahainen,
Aber sage lieber selber, Woher bist denn du von Hause, Und aus welcher
schlechten Sippe?“
„Kun liet nuori Joukahainen,
veäite syrjähän vähäisen,
Sie olet nuorempi minua!“
„Bist du, Jüngling, Joukahainen,
Nun so weich mir aus dem Wege,
Jünger bist du ja an Jahren.“ [3. Rune]
Auf diese Bemerkung antwortet Joukahainen: „Minder gilt hier Mannes
Jugend“, doch:
Kumpi on tieolta parempi,
Muistannalta mahtavampi,
Sep’ on tiellä seisomahan,
Toinen tieltä siirtyköhön.“
Wer an Wissen höher stehet,
Wer an Weisheit mehr umfasset,
Der nur mag die Bahn behalten
Und der and’re mag ihm weichen.“ [3. Rune]
Und weiter: „Bist du, Alter, Wäinämöinen, Nun so wollen wir an’s Singen,
An die Lieder wir uns machen!“
Väinämöinen zögert zuerst ‒ „Werde wohl nicht viel vermögen, Habe ja mein
liebes Leben Höchstens in der Heimath Fluren Nur den Kuckuck dort vernommen“ –
willigt jedoch ein und bittet Joukahainen zu erzählen, was er mehr weiß als die
anderen.
Joukahainen fängt an, allerlei Gedächtniswissen über die Natur und andere
Wissensgebiete zu zitieren, doch Väinämöinen unterbricht ihn: „Kinderklugheit,
Weiberweisheit… Sage mir der Dinge Ursprung, Und erzähle mir ihr Wesen!“
Jetzt fängt Joukahainen an, Erinnerungswissen über philosophischere Dinge
zu singen, doch wenn er sich erfrecht, über sein eigenes Wissen zu prahlen,
ertappt ihn Väinämöinen bei der Lüge. Darauf greift Joukahainen zu seinem
Schwert und fordert Väinämöinen zum Zweikampf auf, und wenn Väinämöinen sich
weigert, droht er, ihn zu einem Schwein zu singen. Doch jetzt wird Väinämöinen
zornig, schämt sich und fängt an, selber zu singen.
Ei ole laulut lasten laulut,
Lasten laulut, naisten naurut,
Ne on partasuun urohon.
Keine Kinderlieder sang er,
Kinderkram und Weiberwitze,
Sondern Sang des bärt’gen Helden. [3. Rune]
Und arg trifft es nun Joukahainen. Der Gesang des Väinämöinen versenkt
ihn in den Sumpf. Joukahainen
Jaksoitteli jalkoansa,
Eipä jaksa jalka nousta,
Toki toistakin yritti,
Siin’ oli kivinen kenkä.
Wollte seine Füße rühren,
Konnte seinen Fuß nicht heben,
Wollt’ den andern darauf wenden,
Doch er war mit Stein beschuhet. [3. Rune]
Wie lebendig wird uns doch hier der Seelenzustand des mit Joukahainen
dargestellten Menschen geschildert: „Ich habe viel von älteren Menschen
gelernt, ich habe viel gelesen und bin akademisch ausgebildet. Ich kenne mich
in Wissenschaften und in der Welt der Künste aus und kann sagen, dass ich über
alles moderne Wissen auf dem Laufenden bin; was die Bildung bisher erreicht
hat, das ist gleichsam in mir verkörpert. Um ehrlich zu sein – wer kann mich
schon in Gelehrsamkeit und Leistungen übertreffen?“ Und dennoch ist das
Schicksal zu diesem selbstbewussten, eitlen und materialistischen Gemüt gütig
und spricht: „Denke nicht, mein Freund, dass dein Wissen das Höchste und
Umfangreichste ist, was es geben kann! Es gibt auch Wissen anderer Art: Es gibt
altes Wissen, es gibt uraltes Mysterienwissen, neben dem dein Wissen
Kinderweisheit ist. Es gibt geistige Entwicklung, die auf ganz andere Errungenschaften
führt als deine Schulbildung.
Das will die Joukahainen-Seele nicht glauben, aber man sieht zugleich den
Grund, warum das Schicksal anfing, zu ihr zu sprechen. Denn eine
Joukahainen-Seele ist nicht so durch und durch materialistisch, dass sie nur
lachen würde. Die Joukahainen-Seele ist beleidigt: „Wenn es so ist, will ich
den sehen, der gelehrter und weiser ist als ich – dann werde ich es ihm schon
zeigen.“ Ihre eigene Natur flüstert ihr als Mutter zu, dass Vorsicht geboten
ist, denn es könnte schon sein, dass es tieferes Wissen gibt…“, doch die
Joukahainen-Seele bietet dem Schicksal die Stirn: „Das Leben soll es mir bloß
zeigen!“
Und das Leben zeigt es. Joukahainen begegnet Väinämöinen. Neue
Erfahrungen kommen der jungen Seele in demütigender Gestalt entgegen: Sie
lassen sie in den Sumpf sinken, in den Sumpf der Sorgen, Schmerzen und Leiden.
Wo blieb ihr stolzes Wissen, wenn sie von der eisernen Hand des Schicksals
gepackt wurde? Die Welt wird schwarz vor ihren Augen und es sieht so aus, als
würde es keinen Halt geben. „Was ist das Leben, wer ist der Mensch? Gibt es
überhaupt Gott?“
Jo nyt nuori Joukahainen
Jopa tiesi, jotta tunsi,
Tiesi tielle tullehensa,
Matkallen osannehensa,
Voittelohon, laulelohon
Kera vanhan Väinämöisen.
Jetzt wohl mußte Joukahainen,
Mußt’ er merken und begreifen,
Daß er diesen Weg gekommen,
Diese Fahrt er unternommen,
Um zu streiten und zu singen
Mit dem alten Wäinämöinen. [3. Rune]
Und dann demütigt sich die Seele in seiner Not:
Oi on viisas Väinämöinen,
Tietäjä iänikuinen,
Pyörrytä pyhät sanasi,
Peräytä lausehesi,
Päästä tästä pälkähästä,
Tästä seikasta selitä,
Panenpa parahan makson,
Annan lunnahat lujimmat!
„O du weiser Wäinämöinen,
Einzig ew’ger Zaubersprecher,
Wende deine Zauberworte,
Nimm den Zauberspruch zurücke,
Laß mich aus dem Schreckensloche,
Aus der unbequemen Enge,
Zolle dir gar gute Zahlung
Und gelob’ ein kräftig Lösgeld!“ [3. Rune]
Die Menschenseele ist nun bereit, dem Leben etwas zu versprechen: „Ich
verstehe jetzt, dass es Wissen gibt, das ich nicht erlangt habe, Rätsel, die
ich nicht gelöst habe, Fähigkeiten, von denen ich keine Ahnung hatte. Wenn ich
bloß mein vergangenes Glück und Gleichgewicht wieder finde, werde ich gern etwas
abgeben, was mir lieb ist, aber was du, das Leben, mir nicht gönnen möchtest.“
Die Seele ist bereit, ihre kleinen Vergnügungen abzugeben und ihr Leben
ernsthafter in die Hand zu nehmen.
Doch das Leben legt keinen Wert auf kleine Sünden, weder auf Sünden noch
auf Tugenden. Väinämöinen singt Joukahainen immer tiefer in den Sumpf.
„Oi on viisas Väinämöinen,
Tietäjä iänikuinen…
Kun pyörrät pyhät sanasi,
Luovuttelet luottehesi,
Annan Aino siskoseni,
Lainoan emoni lapsen
Sulle…“
„O du weiser Wäinämöinen,
Einzig ew’ger Zaubersprecher…
„Wendest du die Zauberworte,
Nimmst du ab den bösen Bannspruch,
Geb’ ich Aino, meine Schwester,
Geb’ ich meiner Mutter Tochter,
Daß sie dir…“ [3. Rune]
„Ich gebe dir meine einzige Schwester, die andere Seite meines Selbstes,
ich gebe dir mich selbst!“ Und dann antwortet der Geist der Wahrheit: „Jetzt
hast du richtig gewählt, jetzt hast du die richtige Entscheidung getroffen.
Dich will ich, dich selbst, damit ich dich zu meinem Helfer, zum Erben meiner
Weisheit erziehen und entfalten kann.“
Siitä vanha Väinämöinen
Ihastui iki hyväksi,
Kun sai neion Joukahaisen
Vanhan päivänsä varaksi.
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Wurde nun gar froh und munter,
Daß er Joukahainen’s Schwester
Für sein Alter so gewonnen. [3. Rune]
Joukahainen zog sich aus der Klemme, die Seele befreite sich aus der
Bedrängnis und die Väinämöinen-Stimme des Lebens verstummte. Die Seele war
wieder sich selbst – und doch nicht mehr das eigene, alte Selbst. Sie hatte
eine Erfahrung gemacht, und jetzt erwartete das Leben etwas von ihr. „Ich habe
einen Schimmer von der Majestät des Lebens gesehen und ihr in einer schwachen
Stunde versprochen, mich selbst abzugeben. Jetzt muss ich mich ändern, jetzt
muss ich mein bestes Ich dem Dienst an der Wahrheit widmen… Oh weh ist mir.“
Und man sieht, dass die Joukahainen-Seele noch jung und unerfahren ist,
denn
Läksi mielellä pahalla,
Syämmellä synkeällä
Luoksi armahan emonsa,
Tykö valtavanhempansa.
Fährt davon mit trüber Laune,
Mit gar schlechter Herzensstimmung,
Hin zu seiner lieben Mutter,
Hin zu ihr, der greisen Alten. [3. Rune]
In diesem Drama geht es nicht um ein Drama eines einzigen Lebens. In
diesem Joukahainen-Zustand kann die Seele viele Verkörperungen lang bleiben.
20. AINO
Aino ist die beste und edelste Seite der
Joukahainen-Seele, die kindhafte Hilflosigkeit, der jungfräuliche Duft, der
tief in der Seele einer jeden Menschenseele verborgen liegt …
Jetzt wird ein künstlerisch empfindsamer Leser den Kopf schütteln: „Wie
soll man Aino ‒ diese wunderbar natürliche, poetisch entzückende Aino-Sage der
Kalevala ‒ sinnbildlich interpretieren! Sie ist ja ein Bild aus dem Leben, ein
Kunstwerk und kein symbolisierender Mythos. Unsere besten Dichter und Künstler
haben darin Motive für ihre Kreationen gefunden und die Aino-Sage der Kalevala,
der lebendige Beweis für den finnischen, hoch entwickelten Sinn für das Schöne,
sucht ihresgleichen in der Weltliteratur.“
Wir stimmen aus ganzem Herzen damit überein, denn auch wir bewundern
jenes junge, unschuldige Mädchen, in dessen Seele die Liebe noch nicht erwacht
war, das aber seine eigene poetische Vorstellung über die Natur und die
Menschlichkeit so hoch schätzte, dass es vorzog, anstatt sich zu verkaufen,
lieber zu sterben.
Und doch gibt es in der Aino-Episode eine Einzelheit, die uns niemals
ästhetisch gefallen hat. Es geht dabei um das Erscheinen des Väinämöinen als
Freier. Wenn die Rune Aino beschreiben und ihre Charakterzüge hervorheben
wollte, warum wählte sie Väinämöinen zum Freier? Man hätte ja dazu jeden
anderen für Aino unsympathischen und für ihre Mutter angenehmen Freier wählen
können. Warum musste „Väinämöinen, alt und wahrhaft, er, der ew’ge
Zaubersprecher“, in jene unmögliche Situation gebracht werden, die ihn
bedauernswert, ja sogar lächerlich erscheinen lässt? Warum – wenn nicht eine Bedeutung dahinter
stehen würde? Und die unmittelbare Verbindung der Aino-Episode mit dem
Wettsingen des Joukahainen zeigt, dass auch die Aino-Sage ihre eigene Bedeutung
hat…
In Aino erlauben wir uns deshalb, wie gesagt, das heiligste der
Joukahainen-Seele zu sehen. Aino ist nicht das höhere Ich des Joukahainen,
dessen Stimme eher Väinämöinen vertritt, sondern die schönste Seite seiner
Persönlichkeit.
Die Joukahainen-Seele hat hinter den Schleier geschaut. Sie hat einen
Schimmer der Weisheit des Lebens gesehen, sie hat ihre Kraft im Schmerz
empfunden. Trotzend näherte sie sich der Weisheit, von Furcht ergriffen
versprach sie ihr sich selbst, betrübt verließ sie die Weisheit. Vom
Joukahainen-Zustand ging die Seele zum Aino-Zustand über.
Sisar nuoren Joukahaisen
Itse itkullen apeutui,
Itki päivän, itki toisen,
Poikkipuolin portahalla,
Itki suuresta surusta,
Apeasta mielalasta.
Doch die Schwester Joukahainen’s
Weinte selbst gar bittre Thränen,
Weinte einen Tag, den zweiten,
Weinend stand sie an der Pforte,
Weinte ob des großen Kummers,
Ob des bittern Grams im Herzen. [3. Rune]
Doch der Körper (die Mutter) freut sich. Er weiß instinktiv, dass die
spirituelle Entwicklung für ihn eine Erleichterung wäre: Die materiellen
Partikel würden sich reinigen, das Leben würde leichter werden, wie es auch in
der bereits zitierten Bibelstelle heißt: „Denn das sehnsüchtige Harren der
Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes.“ Als eine von innen
kommende Stimme spricht der Körper zur Seele: Wovor hast du Angst, weshalb bist
du traurig? Selbst wenn du das alte Leben verlassen musst, kannst du doch auch
vom neuen Leben Glück erwarten.
Doch die Aino-Seele ist immer noch traurig. Sie erschrickt über die
Weisheit. Für sie ist die Weisheit alt und freudlos, fremd und kalt; das
göttliche Leben ist für sie eine Leere, ein bodenloses Universum, in dem sie
selbst als Seele untergehen würde. Wenn sie ihre eigene Jugend und Schönheit,
alle Perlen und Ringe, Kreuze und Bänder ihrer Begabungen und Tugenden
betrachtet, spricht ihr die düstere Stimme der Weisheit:
„Eläpä muille, neiti nuori,
Kun minulle, neiti nuori,
Kanna kaulan helmilöitä,
Rinnan ristiä rakenna,
Pane päätä palmikolle,
Sio silkillä hivusta!“
„Nicht für andre trag, o Jungfrau,
Nein für mich nur trag, o Jungfrau,
An dem Halse hübsche Perlen,
Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,
Trag für mich die feine Flechte,
Bind für mich das Haar mit Seide.“ [4. Rune]
Darauf wird die Seele von einem solchen Schmerz ergriffen, dass ihr ihre
Begabungen und schönen Dinge nichts mehr bedeuten: Alles, was ihr früher Freude
bereitete und was die anderen bewunderten, verliert jetzt seinen Reiz. Sie
schmeißt ihre Interessen weg und ist bereit, als Nichtsnutz in ihrem Körper zu
leben:
„En sinulle enkä muille
Kanna rinnan ristilöitä,
Päätä silkillä sitaise,
Huoli en haahen haljakoista,
Vehnän viploista valita,
Asun kaioissa sovissa,
Kasvan leivän kannikoissa
Tykönä hyvän isoni,
Kanssa armahan emoni.“
Riisti ristin rinnaltansa,
Sormukset on sormestansa,
Helmet kaulasta karisti,
Punalangat päänsä päältä,
Jätti maalle maan hyviksi,
Meni itkien kotihin,
Kallotellen kartanolle.
„Nicht für dich und nicht für andre
Hänget mir am Hals das Kreuzchen,
Schmücke ich mein Haupt mit Seide,
Brauch’ ja nicht des Schiffes Balken,
Brauche nicht des Bootes Leisten,
Geh’ in einfachem Gewande,
Nähr’ mich von des Brotes Kanten,
Bleib’ bei meinem lieben Vater,
In der Nähe meiner Mutter.“
Warf drauf von der Brust das Kreuzchen,
Von den Fingern fort die Ringe,
Fort vom Halse dann die Perlen,
Von dem Haupt die rothen Faden,
Warf sie unwirsch auf den Boden,
Warf sie in den Busch behende,
Ging dann weinend ihrer Wege
Und mit Heulen fort nach Hause. [4. Rune]
Es sei nebenbei bemerkt, dass der Aino-Zustand der Seele durchaus kein
ungewöhnliches Phänomen ist. Talentierte und künstlerisch begabte Menschen
haben darin Erfahrungen gemacht. Sie haben sich in ihren verschiedenen Leben
schöne Talente angeeignet; als inneren Antrieb hatten sie Ehrgeiz, Gewinnsucht
und den Wunsch, geliebt und bewundert zu werden. Solange sie diesen Götzen
ruhig und zuversichtlich dienten, war ihre Seele glücklich. Doch dann ist der
Tag gekommen, als das Wort der Wahrheit ihnen mittels Erfahrungen oder auf eine
andere Weise zeigte, wie klein und nutzlos, wie selbstsüchtig und kleinkariert
ihre Arbeit ‒ spirituell betrachtet ‒ gewesen ist, und dann wurden sie von
Müdigkeit befallen, von Müdigkeit und Unzufriedenheit. Wenn sie versuchen, sich
selbst zu dienen, verlieren sie bald das Interesse. Wenn sie sich von anderen
geschmeichelt und angespornt anstrengen, verlieren sie den Glauben an sich
selbst. Sie empfinden eine gähnende Leere um sich. Wozu arbeiten? Die Wahrheit
kennen sie nicht, das höhere Selbst ist ihnen fremd. Wem und welchem Zweck sollten
sie dienen? Ihre Seele wandert wie Aino in schmerzhafter Bedrängnis. Sie zeigen
weder sich selbst, noch den anderen, wie es um sie gestellt ist. Nur wenn sie
allein sind, bekennen sie ihrem eigenen Körper die Wahrheit: „Meine Seele ist
zerrissen und unglücklich. Ich weiß nicht, was ich will, und ich will nicht,
was ich wollen sollte. Gott sagte: ‚Sei mein Diener!’ Aber wie könnte ich ihm
dienen? Ich kenne ihn nicht, ich liebe ihn nicht. Mein Leben ist tot.“
Sie sollten einen neuen Reiz finden, damit es ihnen nicht wie Aino
erginge. Sie haben Glück, wenn sie einen Angehörigen, einen Freund oder eine
Freundin haben, die sie lieben können – um dabei Liebe und Dienstbereitschaft
zu lernen. Denn der Weg von einem Talent zum Genie ist lang. Aino hatte nicht
die Kraft, diesen Weg zu gehen, selbst wenn sie von ihrer Natur dazu geraten
wurde.
„Elä itke tyttäreni,
Nuorna saamani nureksi!
Syö vuosi suloa voita,
Tulet muita vuolahampi,
Toinen syö sianlihoa,
Tulet muita sirkeämpi,
Kolmas kuorekokkaroita,
Tulet muita kaunihimpi;
Astu aittahan mäelle,
Aukaise parahin aitta,
Siell’ on arkku arkun päällä,
Lipas lippahan lomassa,
Aukaise parahin arkku,
Kansi kirjo kimmahuta,
Siin’ on kuusi kultavyötä,
Seitsemän sinihamoista,
Ne on Kuuttaren kutomat,
Päivättären päättelemät.“
„Weine nicht, o theure Tochter,
Murre nicht, mein liebes Mädchen,
Iß ein Jahr lang schöne Butter,
Wirst bedeutend schlanker werden,
Iß das zweite Jahr nur Schweinfleisch,
Wirst gar stattlich dann gedeihen,
Und im dritten Schmantgebäcke,
Wirst gar schön dich dann gestalten;
Geh zum Vorrathshaus am Berge,
Öffne dort die beste Kammer,
Kiste stehet dort auf Kiste,
Kasten stehet dort auf Kasten,
Öffne dort die beste Kiste,
Hebe ab den bunten Deckel,
Findest goldner Gürtel sechse;
Sieben schöne blaue Röcke,
Die des Mondes Tochter webte,
Die der Sonne Tochter nähte.“ [4. Rune]
So spricht die Mutter zu Aino, der Instinkt des Körpers zur Seele. „Warum
hast du keinen Mut? Wenn du jetzt deine alten Träume lässt, wenn du mutig jenen
Schritt tust, weg von deiner Selbstsucht, dann erwartet dich eine große
Zukunft. Glaubst du, dass ich in meinem Versteck nichts für dich bereit hätte?
Was sind schon deine bisherigen Talente und Gaben, verglichen mit denen, die du
noch von mir bekommen wirst! In meinen geheimen Verstecken liegen alle
Möglichkeiten verborgen. Als ich wuchs und mich entwickelte und du noch nicht
in mir wohntest, schenkten mir die Götter all ihre Geheimnisse und Herrlichkeiten.
Die werde ich dir geben, die werden dir alle zur Verfügung stehen, wenn du nur
nach ihnen suchst. Stehe also auf, mache dich an die Arbeit und sei mutig.“
Doch die Aino-Seele hört nicht auf ihren eigenen Instinkt. Sie lebt
lieber in ihren Träumen. Sie will weder ihre Schwäche noch die Möglichkeiten
ihrer Kraft erkennen. Sie philosophiert auf ihre eigene Weise – und die
Weisheit der Kalevala ist duldsam und sanftmütig: Kein Wort des Vorwurfs. Im
Gegenteil: Die seltsame Poesie und Lieblichkeit des Aino-Zustandes kommt in dieser
Beschreibung vollkommen zur Geltung.
Ei tytär totellut tuota,
Ei kuullut emon sanoja,
Meni itkien pihalle,
Kaihoellen kartanolle,
Sanovi sanalla tuolla,
Lausui tuolla lausehella:
„Miten on mieli miekkoisien,
Autuaallisten ajatus?
Niinp’ on mieli miekkoisien,
Autuaallisten ajatus,
Kuin on vellova vetonen,
Eli aalto altahassa;
Mitenpä poloisten mieli,
Kuten allien ajatus?
Niinpä on poloisten mieli,
Niinpä allien ajatus,
Kuin on hanki harjan alla,
Vesi kaivossa syvässä…
Parempi minun olisi,
Parempi olisi ollut
Syntymättä, kasvamatta,
Suureksi sukeumatta,
Näille päiville pahoille,
Ilmoille ilottomille;
Oisin kuollut kuusiöisnä,
Kaonnut kaheksanöisnä.“
Nicht beachtet sie die Worte,
Hört nicht auf der Mutter Rede,
Ging um auf dem Hof zu weinen,
Eilte hin mit raschen Schritten,
Sprach dort Worte solcher Weise,
Ließ sich also dort vernehmen:
„Wie wohl ist der Sinn der Sel’gen,
Wie die glückbegabte Seele?
Also ist der Sinn der Sel’gen,
So der glückbegabten Seele,
Wie das Wasser, das da fluthet,
Wie die Woge in dem Troge.
Wie der Sinn der Unglücksel’gen,
Wie der Sinn der grauen Ente?
Also ist der Armen Stimmung,
So der Sinn der grauen Ente,
Wie das Eisstück an dem Dache,
Wie das Wasser in dem Brunnen…“
„Besser wär’ es mir gewesen,
Besser wär’ ich nicht geboren,
Wär’ ich nicht herangewachsen,
Wär’ ich nicht so alt geworden
Während dieser bösen Tage,
In dem freudenleeren Zeitraum;
Wär’ ich doch nach sechs der Nächte,
In der achten schon gestorben.“ [4. Rune]
Und Ainos persönliche Größe liegt darin, dass sie lieber stirbt…
In diesem Zusammenhang müssen wir uns an eine andere Jungfrau erinnern,
die sich nicht weigerte, einen älteren Mann zu heiraten: an Maria, die Josef zu
ihrem Mann nahm und Jesu Mutter wurde.
Doch der Maria-Zustand der Menschenseele ist auch hoch und erhaben, weit
entfernt von Aino!
Auf Grund der Aino-Legende können wir uns jedoch ein Bild von den
Bedingungen machen, die uns bei der Suche nach der geheimen Wahrheit gestellt
werden. Die Wahrheit darf man nicht wie Joukahainen mit Hochmut suchen, um ihr
nicht wie Aino mit Furcht zu nähern. Mit Demut und reinem Herzen muss man nach
der Wahrheit suchen, mit Liebe muss man sich ihr nähern ‒ mit Liebe und
Hingabe.
21. LEMMINKÄINEN
Lemminkäinen ist also ein Wahrheitssuchender.
Er ist ein gefühlvoller und aufbrausender Idealist. Zumindest in seinen
früheren Inkarnationen ist er ein leidenschaftlicher Liebhaber, ja sogar ein
Casanova gewesen. Allmählich ist in seiner Seele das Ideal einer treuen Liebe
entstanden, einer Liebe, die nicht täuscht, nicht zweifelt und deren Wort
absolut zuverlässig ist ‒ und eines Objekts der Liebe, das, statt Langeweile
oder Müdigkeit zu erwecken, mit seiner Frische immer entzücken würde. Eine
solche Geliebte, eine solche Liebe, würde reinigend und erzieherisch wirken,
würde den Menschen in seiner Freiheit erheben! Und wenn er unter dem
winterlichen Himmel mit Kyllikki in seinem Schlitten fährt, glaubt er, das
Ideal seiner Liebe gefunden zu haben.
Siitä vannoivat valansa,
Laativat ikilupansa
Eessä julkisen Jumalan,
Alla kasvon kaikkivallan,
Ei Ahin sotia käyä,
Eikä Kyllikin kyleä.
Also schwuren sie die Eide,
Legten ab ein stark Gelübde
Vor dem offenkund’gen Gotte,
Unter ihm, dem Allmachtsvollen,
Ahti, daß er nicht zum Kriege,
Kylli nicht zum Dorfe wolle. [11. Rune]
Wie bitter ist dann die Enttäuschung, wenn die Wirklichkeit dem Ideal
nicht entspricht: Lemminkäinen hielt sein Gelübde, Kyllikki brach das ihre. Die
Enttäuschung ist scheinbar klein, aber innerlich ausschlaggebend. Lemminkäinen
verliert seinen Glauben und sein Vertrauen. Erklärungen und Entschuldigungen
nützen nichts. Lemminkäinen bricht jetzt zum Krieg auf; seine alte Natur ist
erwacht, jetzt aber männlicher und entschlossener.
Und der Krieg ist kein gewöhnlicher Krieg. Es geht dabei nicht um Gier
nach Materie.
„Jos markan soasta saanen,
Parempana tuon pitelen,
Kun kaikki kotoiset kullat,
Auran nostamat hopeat.“
„Hol’ mir Silber aus dem Kriege,
Halte dieß bei weitem höher,
Als das ganze Gold zu Hause,
Als das ausgepflügte Silber;“ [12. Rune]
Es geht um den Kampf um das Ideal, denn Lemminkäinen hat von Wundern
gehört und hat eine Vorahnung von etwas Wunderbarem.
„Mieleni minun tekevi,
Aivoni ajattelevi,
Itse korvin kuullakseni,
Nähä näillä silmilläni,
Onko neittä Pohjolassa,
Piikoa Pimentolassa,
Jok’ ei suostu sulhosihin,
Mielly miehi’in hyvihin.“
„Dorthin treibt mich
das Gelüste,
Dorthin denken meine Sinne,
Will mit eignen Ohren hören,
Seh’n mit meinen eignen Augen,
Giebt’s im Düsterland ein Mädchen,
Eine Jungfrau in dem Nordland,
Die sich nicht um Freier kümmert,
Nicht den Männern Beifall spendet.“ [12. Rune]
Lemminkäinen hat gehört ‒ wie die Weisen behaupten und sein eigenes Wesen
ihm zuflüstert ‒ dass die Sehnsucht nach Liebe im Grunde genommen das Gleiche ist
wie die Suche nach seinem Selbst. „Solange du nicht verstehst, dass du das
Selbst in dir suchen musst, suchst du es bei den anderen und dein Weg führt von
einer Enttäuschung zur anderen. Fange also an, an dich selbst, anstatt an
andere, zu glauben. Wenn du dein Selbst findest, findest du die ewige Liebe.“
Dieses Selbst ist die Nordlandstochter, die im eigenen Körper verborgen liegt.
Die Lemminkäinen-Seele hat längst ihren Aino-Zustand samt Angst und
Zweifel hinter sich gelassen. Sie braucht keine Ermahnung oder Aufmunterung von
seiner Mutter, d.h. seinem Körper. Im Gegenteil, der Körper verbietet und
warnt: „Die Reise ist mit vielen Gefahren verbunden; wie wagst du, mein Sohn,
ohne Wissen und Können den Weg nach Pohjola anzutreten?“ (12: 129‒142). Doch
Lemminkäinen zögert keine Sekunde. Er weiß, dass er keine Ruhe und kein Glück
mehr im Leben finden kann: Jetzt oder nie muss er das Selbst finden und die
Wahrheit wissen. Und er rüstet sich für die Reise.
Lasst uns erinnern: Diese Reise ist keine weltliche Reise; sie ist
Erforschung seiner selbst, sie ist Vertiefung in sein eigenes Wesen, sie ist
Suche nach dem ewigen Leben in sich selbst. Der Suchende muss gut gerüstet
sein: ehrlich und aufrichtig zu sich selbst, ins eiserne Hemd der Wahrheit
gekleidet und mit dem feurigen Schwert der klaren Worte gerüstet. Er muss Anweisungen
der Alten, Lehren der früheren Suchenden kennen, um sich nicht in Trugbildern
und Lügen zu verirren. Und wer würde ihn bei seiner Arbeit unterstützen, wer
würde ihm bei der Not helfen, wenn nicht Gott selbst, der alte himmlische
Vater! Vor dem Antritt der Reise richtet er seine Gedanken und sein Gebet zu
Gott (12: 217‒296).
Nun beginnt die Reise nach Pohjola. Lemminkäinen besucht zwei Häuser (12:
311‒368), bevor er zum Ziel kommt. Wenn er im ersten Haus fragt, ob er
vielleicht hier sein Reiseziel erreicht hat, „Sprach ein Kindlein von dem
Boden, Von der Schwelle da ein Knabe: ‚Niemand ist in dieser Stube, Der die
Brustbedeckung lösen...’ “
Was ist dieses Haus? Es ist das Wachbewusstsein des Wahrheitssuchenden.
„Kann ich mit diesem alltäglichen Wachbewusstsein mein höheres Selbst sehen und
begreifen? Ist mein Verstand so aufgeklärt, dass er dazu imstande sei?“ „Nein,
nein“, antwortet die Erfahrung, „ich bin erst nur ein Kind und mein Verstand
ist Kindesverstand. Du findest keine Wahrheit, wenn du dich schon jetzt auf
mich stützt.“
Und die Reise geht weiter ins nächste Haus. „Kann hier jemand meine
Brustbedeckung lösen?“ fragt Lemminkäinen. Und ein Weib, das am Herd steht,
antwortet: „Ja, in diesem Haus gibt es sogar Hunderte davon. Man fährt dich so
geschwind hinaus, dass du bereits vor Sonnenuntergang zu Hause bist.“
Dieses andere Haus ist das phantasierende Traumbewusstsein. „Kann der
Suchende nicht sein höheres Selbst in Träumen und Erscheinungen finden? Ein
Drittel seines Lebens verbringt er in der Welt der Träume; sein Bewusstsein
geht in eine andere Sphäre, in eine für Gedanken und Gefühle empfindsamere und
empfänglichere Welt; könnte man nicht durch die Erforschung dieser Welt an sein
Selbst herankommen? Dieser Zustand wäre sonst eine vergeudete Zeit, und auch
die Weisen sagen ja, was man von dieser Welt alles lernen kann!“ „Noch nicht,
noch nicht, antwortet die Erfahrung, „siehst du nicht, dass ich eine alte Hexe
bin? Was hast du bisher in dieser Welt erfahren? Nur unnütze und hässliche Dinge.
Wenn du in deinem Wachbewusstsein dich selbst vor dir selbst verdeckt hast, so
bist du in deinem Traumbewusstsein ungehindert dein eigenes niederes Ich
gewesen. Schau, wie ich bin: Zu so etwas hast du mich gemacht. Und du glaubst,
dass ich dein höheres Selbst, die wunderschöne Nordlandstochter, werden könnte!
Du irrst dich gewaltig. Du kannst hunderte von Trugbildern sehen – die gibt es
hier in Hülle und Fülle – aber die Wahrheit siehst du nicht.“ Und richtig tut
der Suchende, wenn er sagt:
„Oisi akka ammuttava,
Koukkuleuka kolkattava.“
„Todt sollt’ man die Alte schießen,
Sie, die Wackelkinn’ge schlagen.“ [12. Rune]
Erst jetzt erreicht er Pohjola. Heimlich muss Lemminkäinen in die Stube
kommen, den Hund muss er mit einer Beschwörungsformel zum Schweigen bringen,
und auf dem Hof angekommen:
Lyöpi maata ruoskallansa,
Utu nousi ruoskan tiestä,
Mies pieni u’un seassa;
Sepä riisui rinnuksia,
Sepä aisoja alenti.
Schlug er mit der Peitsch’ die Erde,
Aus dem Boden stieg ein Nebel,
In dem Nebel stand ein Männlein,
Löste rasch die Brustbedeckung,
Senkte dann die Deichselstangen. [12. Rune]
Jetzt lauscht Lemminkäinen heimlich und schaut in die Stube. Die Stube
ist voll von Sängern, Spielern, Weisen, die „lauter Hiisi-Weisen schrillten“. Dann steigt
Lemminkäinen durch die Wand in die Stube. Die Wirtin von Pohjola selbst geht
auf dem Fußboden hin und her und wundert sich, wie der Gast „von dem Hunde
ungehöret“ hereingekommen ist. Lemminkäinen erklärt, dass auch er ein Weiser
sei, und fängt an zu singen und zu zaubern. Sein Gesang ist so kraftvoll, seine
Beschwörung so mächtig, dass das Volk aus der Stube verschwindet; nur Naßhut
der Heerdenhüter bleibt, denn um ihn kümmert sich Lemminkäinen nicht. Und
nachdem er seine Kraft gezeigt hat, bittet er die Wirtin von Pohjola, ihm ihre
Tochter zu bringen.
Was ist nun dieses dritte Haus? Es ist die verborgene Seite des
menschlichen Bewusstseins, manchmal Unterbewusstsein manchmal Überbewusstsein
genannt. Es ist die große, unerforschte Welt der inneren Wahrnehmungen. Es ist
Pohjola, das Nordland, in dem die wunderschöne Tochter, das höhere Selbst des
Suchenden, verborgen liegt. Unerwartet und plötzlich hat das Bewusstsein der
Lemminkäinen-Seele im Trancezustand mit dieser geheimen Welt in Berührung
gekommen. Seine äußeren Sinne sind erstarrt – der Hund bellt nicht – und der
Nebel, der die verschiedenen Bewusstseinszustände voneinander trennt, steigt
wie durch einen Peitschenschlag vor ihm auf. Doch selbst wenn seine Erfahrung
eine Anfängererfahrung ist – wie ein kleiner Mann – weiß er jetzt, dass er am
richtigen Ort angekommen ist – seine Brustbedeckung wird gelöst. Er hat früher
seine materialistische Wachvernunft wie auch seine schwärmerische und
unzuverlässige Traumvernunft besiegt, und jetzt steht ihm eine klarere
Vernunft, ein schärferer Blick, ein klarer sehendes Auge zur Verfügung. Er
erlebt das Bewusstsein, in dem das höhere Selbst verborgen liegt, obwohl er
dessen Blick noch nicht begegnet. Und er sieht, dass in diesem Bewusstsein viel
Wissen steckt, dass es eine Vergangenheit hinter sich hat, obwohl es noch von
derselben „zähnearmen Wirthin Pohjolas“ beherrscht wird, die auch in dem
anderen Bewusstsein war. Diese von Zeitaltern geschaffene menschliche Bosheit
und Unwissenheit, der er seinen Körper anvertraut hat, kommt jetzt dem mutigen
Suchenden entgegen und gleichsam fragt, was er hier zu tun hat. Und dann zeigt
der Suchende, dass er Recht hat, dass er am richtigen Ende angefangen hat. Er
zuckt nicht zusammen und erschrickt nicht. Er sammelt die ganze Kraft seiner
Seele und singt aus ganzem Herzen ein Lied über seine ewige Sehnsucht. Mächtig
ist sein Gesang. „Ich bin ein Mensch, ich bin, was ich bin. Weg mit aller
Schwäche, Unsicherheit und Sünde!“ Sein ganzes Bewusstsein reinigt sich. Das
Volk von Hiisi geht weg. Das Böse verschwindet von seinem Gedächtnis. Als ein
Held steht er da, als ein Sieger, als ein Weiser. Was kümmert ihn ein armer
Teufel? Was ist diese niedere Untugend? Er kann sich nicht erinnern, dass es so
etwas in ihm gäbe. Verachtenswert und verwerflich ist es. Mit Abscheu wendet er
seinen Blick davon. Und siegessicher ruft er in einem Zustand der Verzückung
aus: Jetzt will ich mich selbst sehen.
Auch Ilmarinen ist eine Seele, die nach der
Wahrheit sucht, obwohl sein selbstbewusster Wille zur Wahrheitssuche später
erwacht als bei Lemminkäinen. Er ist ein tatkräftiger, vernünftiger Mann, ein
Realist, frei von Sentimentalität und Eitelkeit. Die Arbeit ist für ihn immer
eine Freude gewesen, sein edler Ehrgeiz bestand immer darin, gut zu arbeiten.
Andere Ideale hat er nicht, und deshalb fehlt es ihm an eigener Initiative; für
neue Unternehmungen muss er von außen ermutigt werden, aber dann erweist er
sich als tüchtig und geschickt.
Endlich bricht für ihn der Tag des Schicksals an. Väinämöinen kommt zu
ihm und erzählt von der wunderbaren Welt, in der unser unsterbliches Selbst
wohnt:
„Onp’ on neiti Pohjolassa,
Impi kylmässä kylässä,
Jok’ ei suostu sulhosihin,
Mielly miehi’in hyvihin,
Kiitti puoli Pohjan maata,
Kun onpi kovin korea:
Kuuhut paistoi kulmaluilta,
Päivä rinnoilta risoitti,
Otavainen olkapäiltä,
Seitsentähtinen selältä.“
„Eine Jungfrau ist im Nordland,
In dem kalten Dorf ein Mädchen,
Das sich keinem Freier füget,
Das den besten Mann verschmähet;
Wohl das halbe Nordland preiset
Sie als wunderschöne Jungfrau:
Von den Schläfen strahlet Mondlicht,
Von den Brüsten Licht der Sonne,
Von den Schultern Licht des Bären,
Von dem Rücken sieben Sterne.“ [10. Rune]
Und dann bittet er Ilmarinen, die Jungfrau zu holen:
„Kun saatat takoa sammon,
Kirjokannen kirjaella,
Niin saat neion palkastasi,
Työstäsi tytön ihanan.“
„Wenn den Sampo du ihr schmiedest,
Du den bunten Deckel zierest,
So hast du zum Lohn das Mädchen,
Für das Werk die schöne Jungfrau.“ [10. Rune]
Väinämöinen weist hier auf das Schmieden des Sampo hin, und wir
verstehen, wenn wir die Kalevala mit dem okkultistisch-psychologischen
Schlüssel öffnen, dass diese Worte jetzt eine persönlichere Bedeutung haben;
später werden wir ausführlich die Bedeutung des Sampo in der geheimen
Entwicklung des Menschen erklären. In diesem Zusammenhang, von dem jetzt die
Rede ist, bedeutet das Schmieden des Sampo eindeutig, dass man imstande ist,
sich selbst ohne fremde Hilfe aus dem Wachbewusstsein zu lösen und sich bewusst
in die Welt des Innenbewusstseins zu versetzen. Lemminkäinen war dazu nicht
imstande. Sein Bewusstsein geriet in den Trancezustand von alleine und
unerwartet (wie es am Anfang immer geschieht). Schafft es nun Ilmarinen? Aus
der Rune zu beurteilen, kaum. Doch Ilmarinen hat gehört, dass die Sache nicht
ungefährlich ist, dass es dem Menschen schaden kann, wenn er versucht, in die
geheime Welt seines Bewusstseins einzudringen. Deshalb verspürt er keine Lust
zum Werben um die Nordlandstochter und antwortet Väinämöinen beinahe spöttisch:
„Ohoh vanha Väinämöinen,
Joko sie minun lupasit
Pimeähän Pohjolahan
Oman pääsi päästimeksi,
Itsesi lunastimeksi!
En sinä pitkänä ikänä,
Kuuna kullan valkeana
Lähe Pohjolan tuville,
Sariolan salvoksille,
Miesten syöjille sioille,
Urosten upottajille.“
„O du alter Wäinämöinen,
Hast mich ja bereits versprochen
Nach dem nimmerhellen Nordland,
Um dein eignes Haupt zu lösen,
Um dich selber zu befreien!
Gehe nicht, so lang’ ich lebe,
Nicht, so lang’ das Mondlicht leuchtet,
Nach des Nordlands Wohnungsstätten,
Nach den Häusern Sariola’s,
Wo die Männer man verzehret
Und in’s Meer die Helden senket.“ [10. Rune]
Doch Väinämöinen gibt nicht auf. Denn durch ihn vollzieht sich das
Schicksal des Ilmarinen. Er tut, als würde er vom Thema abweichen und erweckt
die Neugier des Ilmarinen.
„Viel’ on kumma toinen kumma,
Onp’ on kuusi kukkalatva,
Kukkalatva, kultalehvä
Osmon pellon pientarella;
Kuuhut latvassa kumotti,
Oksilla otava seisoi.“
„Giebt noch ein viel größres Wunder,
Eine Ficht’ mit Blüthenkrone,
Blüthenkron’ und goldnen Zweigen
An dem Rand des Osmofeldes,
In dem Wipfel leuchtet Mondlicht,
Und der Bär weilt auf den Zweigen.“ [10. Rune]
Wenn Ilmarinen es nicht glauben will, fängt Väinämöinen an, Beweise
vorzubringen und erweckt die Phantasie des Ilmarinen. Nachdem es dem Weisen
gelungen ist, das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit des Ilmarinen in den
Zustand der Konzentration und zugleich in seine Hand zu bringen, fällt es ihm
ziemlich leicht, sie durch einen „Wirbelwind“ für einen Augenblick aus der
physischen Umgebung in die innere Welt zu versetzen. Wenn Ilmarinen dann das
Bewusstsein wiedererlangt, bemerkt er, dass er sich auf dem Hof von Pohjola
befindet. Es ist ihm wie Lemminkäinen ergangen: Die Hunde haben nicht gebellt.
Louhi kommt ihm entgegen und wundert sich, wer er wohl sei, den die Hunde nicht
anbellen, und Ilmarinen, sehr verblüfft und verwirrt, kann nur antworten, dass
er auch nicht gekommen ist, um von Hunden angebellt zu werden. Doch wenn es
beim Gespräch klar wird, wer Ilmarinen ist und wenn Louhi ihn respektvoll
behandelt, kehren sein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zurück und er
sagt, dass er sehr wohl imstande ist, den Sampo zu schmieden. Es ist, als ob
Ilmarinen denken würde: Wenn das Schmieden des Sampo nicht schwerer ist, dann
kann ich es schon.
Und er darf die Nordlandstochter sehen.
Wir sehen den Unterschied zwischen Ilmarinen und Lemminkäinen.
Lemminkäinen ist eine Feuerseele; er sucht leidenschaftlich, er reißt den
Himmel mit Gewalt an sich, er will und begehrt und geht unter, weil er sich
nicht vorbereitet hatte. Ilmarinen hingegen ist kühl; er ist von Natur aus
uneigennütziger, er verlangt für sich selbst nichts, was er seiner Meinung nach
nicht verdient hat, und deshalb sorgt das Schicksal dafür, dass er, wenn es so
weit ist, das bekommt, was ihm zusteht.
Auch Ilmarinen kam nicht ohne Hilfe nach Pohjola, sondern die Tatsache,
dass das Schicksal Ilmarinen in der Gestalt des Väinämöinen half, beweist, dass
Ilmarinen sich vorbereitet hatte; dass seine Zeit gekommen war. Lemminkäinen
raubte sich das, was Ilmarinen geschenkt wurde, und deshalb konnte er ‒
Lemminkäinen ‒ es nicht behalten. Dass Ilmarinen, geistig gesehen, auf die neue
Erfahrung vorbereitet war, sieht man auch daran, dass er, obwohl er den Sampo
nicht in seinem Wachbewusstsein schmiedete, jedoch im Trancezustand so tat, als
würde er es tun. In seinem geheimen Innenbewusstsein macht er sich klar, was
der Schlüssel zur Welt der inneren Sinne ist, bringt aber das Wissen nicht zu
seinem Wachbewusstsein über. Wenn Väinämöinen nach seinem Erwachen ihn fragt,
ob der Sampo geschmiedet ist, antwortet Ilmarinen auf Grund seiner Erinnerung,
dass er geschmiedet sei und sich in einem geheimen Versteck in seinem Körper
verborgen liege, aber dass er ihn nicht bei sich habe (18: 495‒510).
Die Nordlandstochter hat Ilmarinen auch nicht bekommen. In dieser
Hinsicht ist er in derselben Lage wie Lemminkäinen, obwohl er die Tochter
gesehen hat. Und Ilmarinen vergisst jetzt seine schicksalhafte Erfahrung für
eine lange Zeit. Erst später erwacht in ihm die Sehnsucht wieder – die
Sehnsucht, die nicht erlöschen kann, bevor das Ziel erreicht und das höhere
Selbst gefunden ist – und dann begibt er sich aus eigener Initiative auf die
Reise nach Pohjola, mit der Absicht, um die Nordlandstochter zu werben. Aber
selbst wenn es ihm gelingt, nach Pohjola zu kommen, willigt die wunderschöne
Tochter nicht sofort ein. „Zuerst musst du Aufgaben erfüllen, damit ich sehe,
ob du mich liebst.“ Die „Aufgaben“ sind – aus der Sicht des praktischen Okkultismus
gesehen – gewissermaßen das gleiche wie das Sampo Schmieden Lernen. Doch sie
haben zugleich eine weitere und vielseitigere Bedeutung. Bevor nämlich das
höhere Selbst seine Einwilligung zum ewigen Bündnis mit dem niederen Ich gibt,
muss das niedere Ich sich vorbereiten und reinigen und damit beweisen, dass es
das Bündnis für heilig halten wird. Von Ilmarinen wird das Gleiche gefordert
wie von Lemminkäinen!
Zu beachten ist jedoch, dass Ilmarinen derjenige ist, der die Aufgaben
erfüllt. Ursprünglich ist wohl auch nicht erzählt geworden, dass Lemminkäinen
alle Aufgaben bewältigt hätte.[7]
Weil die Rune mit der Person des Lemminkäinen einen Suchenden darstellt, dem es
nicht gelingt, die himmlische Braut zu gewinnen, ist es anzunehmen, dass
Lemminkäinen sich, seinem feurigen Charakter gemäß, sofort an die Arbeit an der
schwierigsten Aufgabe macht und dabei untergeht, wie es auch zu seinem
Schicksal, seinem Karma, gehört. Die Kalevala erzählt allerdings, dass auch
Lemminkäinen bei den ersten zwei Aufgaben erfolgreich ist, hat aber zugleich
den Unternehmungen des Lemminkäinen, in denen sein unruhiger und trotziger
Charakter die ganze Zeit ins Auge sticht, eine treffende Färbung gegeben (13:
31‒270 und 14: 1‒372).
Ilmarinen wiederum, ohne zu hetzen oder zu zögern, erledigt ruhig und
ehrlich alle Aufgaben und bekommt dann seinen Lohn dafür.
Jetzt bleibt es unsere Aufgabe zu erforschen, was diese „Aufgaben“ sind.
23. DIE AUFGABEN
Den Freiern werden drei Aufgaben gestellt:
Ilmarinen muss ein Schlangenfeld ackern, den Bär von Tuonela zügeln und den
großen Hecht aus dem Fluss von Tuonela holen; Lemminkäinen muss den Elch von
Hiisi (Teufel) fangen, Hiisis Ross zügeln und den Schwan im Fluss von Tuonela
erschießen. Die Aufgaben sind für beide gleich und bedeuten, wie bereits
gesagt, die Reinigung des niederen Ichs oder der Persönlichkeit sowie die
„Vorbereitung auf die Hochzeit“. In diesem Ich gibt es, wie bereits
festgestellt, drei „Häuser“ oder Bewusstseinszustände: das Wachbewusstsein, das
Traumbewusstsein und das Innenbewusstsein. Diese drei müssen gereinigt werden ‒
und darin bestehen die Aufgaben.
Die erste ist die Reinigung des Wachbewusstseins. Wie geht es vor sich?
Indem man den Elch von Hiisi fängt oder das Schlangenfeld ackert, antwortet die
Kalevala. Was symbolisiert das? Das verstehen wir, wenn wir bedenken, was die
wichtigste, sozusagen selbstbewussteste, uns am nächsten stehende Eigenschaft
unseres Tage- oder Wachbewusstseins ist: Was anderes könnte sie sein, als
unsere Vernunft, unser Verstand, unser Denken! Und unser Denken ist sicherlich
wie der Elch von Hiisi; unser logischer Verstand ist sicherlich, von höherer
Sicht betrachtet, wie ein Schlangenfeld.
„Den Elch von Hiisi fangen“ bedeutet, dass man lernt, sein Denken zu
zügeln. Der Elch von Hiisi ist schnellfüßig – was ist wohl schneller als der
Gedanke? Er muss gefangen werden, skilaufend, also in winterlicher Landschaft –
wie kalt und gleichgültig, wie unabhängig vom Herzen kann der Gedanke sein! Er
ist auch der Elch von „Hiisi“, weil der Gedanke geneigt ist, dem Bösen und der
Selbstsucht zu dienen. Wie Lemminkäinen erfahren konnte, kann man ihn nicht im
ersten Anfall von Enthusiasmus überwinden (13: 31‒270). Erst wenn er demütig
wird, die Natur und Gott um Hilfe bittet und anfängt „langsam zu laufen“, fügt
sich der Gedanke und lässt sich unterordnen (14: 1‒270).
Die erste Aufgabe wird Ilmarinen von der Wirtin von Pohjola mit folgenden
Worten aufgetragen:
„Kun sa kynnät kyisen pellon,
Käärmehisen käännättelet
Ilman auran astumatta,
Vaarnojen värisemättä;
Senpä Hiisi ennen kynti,
Lempo varsinki vakoili
Vaarnaisilla vaskisilla,
Auralla tuliterällä,
Oma poikani poloinen
Heitti kesken kyntämättä.“
„Wenn ein Schlangenfeld du ackerst,
Du ein natterreiches pflügest,
Ohne daß die Pflugschar schreitet,
Ohne daß der Holzpflock bebet;
Hiisi hat es einst gepflüget,
Lempo mit dem Roß durchfurchet,
Mit der kupferreichen Pflugschar,
Mit dem Eisen voller Feuer,
In der Hälfte ließ mein Söhnlein,
Ungeackert es einst liegen.“ [19. Rune]
Das „Schlangenfeld“ ist der logische Verstand, denn ihn hat „Hiisi einst
gepflüget“; er hat am Anfang im Dienst der Selbstsucht und des Bösen gestanden
und seine Wachstumskraft daraus gezogen; dann hat ihn allerdings das „eigene
Söhnlein“ von Pohjola, das persönliche Ich des Menschen „gepflügt“, also versucht,
ihn zum Nützlichen und Guten zu erziehen, aber die Arbeit liegen lassen, weil
es nicht imstande war, sie zu beenden. Dieses Feld muss nun also, „ohne daß die
Pflugschar schreitet“, gepflügt, d.h. der Verstand muss geläutert werden, ohne
sichtbare Spuren zu hinterlassen; die Kraft muss also von oben gezogen werden.
Ilmarinen ist nicht ratlos. Er ist seinem höheren Ich begegnet; er kann
darauf berufen, wie ein Mensch, der glaubt und weiß, dass er in seinem Geist
mit seinem Gott reden kann; er fragt sofort die Nordlandstochter: Wie soll ich
nun das Schlangenfeld pflügen? Wir müssen ja nicht unbedingt denken, dass seine
eigene Intuition den Rat allein findet. Er hat vielleicht davon von den Weisen
gehört. Doch seine erwachte Intuition sagt ihm sofort, dass dieser Rat gut ist
und befolgt werden muss. Er lautet:
„Ohoh seppo Ilmarinen,
Takoja iänikuinen!
Aura kultainen kuvoa,
Hopeinen huolittele!
Sillä kynnät kyisen pellon,
Käärmehisen käännättelet.“
„O du Schmieder Ilmarinen,
Du, der ew’ge Schmiedekünstler!
Schmiede eine goldne Pflugschar,
Schmück sie aus mit schönem Silber!
Wirst das Schlangenfeld dann ackern,
Wirst das natterreiche pflügen.“ [19. Rune]
„Schmiede eine goldne Pflugschar“, d.h. mache dir durch Denkarbeit und
Meditation aus den besten Gedanken und Kenntnissen, die du dir beschaffen
kannst, ein klar umrissenes Weltbild. Auf diese Weise reinigst du den
gedanklichen Inhalt deines realistischen Ichs, und wenn du in der Meditation
mit dem goldenen Pflugschar deines Glaubens dein Verstandesfeld pflügst, kannst
du zu deiner Überraschung sehen, wie viel „Schlangen“, wie viel „Nattern“
gehoben werden müssen. Doch kleide dich zugleich ins eiserne Hemd der
Ehrlichkeit und in den Stahlgürtel der Wahrheit, um nicht mit dir selbst in
Konflikt zu geraten und so nicht von Illusionen und Lügen gefangengenommen zu
werden; und spann den feurigen Ross deiner Eifer und deiner Tüchtigkeit an, um
nicht zu ermüden und die Meditation nicht zu unterbrechen (19: 59‒74).
Ilmarinen, an Gedankenarbeit gewöhnt, führt die schwierige Aufgabe mit
Erfolg durch. Er sieht, dass er seinen Geist gereinigt und Herr seiner Gedanken
geworden ist. Und die Wirtin von Pohjola überträgt ihm eine andere Aufgabe:
„ Kun sa tuonet Tuonen karhun,
Suistanet suen Manalan
Tuolta Tuonelan salosta,
Manalan majan periltä;
Sata on saanut suistamahan,
Tullut ei yhtänä takaisin.“
„Wenn du Tuoni’s Bären bringest,
Wenn Manala’s Wolf zu zügelst
Aus dem Hain des Todtenreiches,
Von den Gränzen von Manala;
Hundert gingen ihn zu zügeln,
Keiner ist zurückgekehret.“ [19. Rune]
„Wenn du Zügel hast dem Rosse, Angelegt dem rothen Renner, Hiisi’s
schaumbedecktem Füllen, Auf des Hiisifeldes Gränzen“, lautet die gleiche
Aufgabe für Lemminkäinen.
Das bedeutet nun die Reinigung und Überwindung des anderen „Hauses“, d.h.
des Traumbewusstseins. Weshalb wohl heißt es „großer feuriger Ross“ und „Bär“
oder „Wolf“, der viele getötet hat? Deshalb, weil das Traumbewusstsein das
Bewusstsein der Phantasie und der Gefühle ist, dessen Kraft fürchterlich groß
ist. Dazu muss der Teil des Bewusstseins gezählt werden, den unsere
Wissenschaftler das Unterbewusstsein nennen, nämlich der, den ein gebildeter
Mensch im Zaume hält, oder zumindest vor der Welt verbirgt, der aber beim
Schlafen ungehindert seinen freien Lauf nimmt. Daran sieht man, okkultistisch
gesehen, den sittlichen Zustand des Menschen; und wie viele Menschen gibt es
wohl, die, wie die Kalevala erzählt, daran gestolpert sind. Die Leidenschaften
des Menschen sind wirklich wie reißende Raubtiere. „Schlag den Bären nicht mit
Rute“, heißt es auch in einem Spruch, und wir könnten noch hinzufügen: „wenn er
schläft“. Und doch sind für denjenigen, der den inneren Weg geht, die Reinigung
und die Beherrschung dieses Bewusstseins notwendig. Wer regelmäßig meditiert,
der überwindet auch Gefühle und Leidenschaften ziemlich leicht, denn er hat
bereits bei der Ausübung der Meditation seine Phantasie gelenkt und gereinigt.
Wenn Ilmarinen seine Jungfrau um Rat bittet, antwortet diese ohne zu
zögern:
„Ohoh seppo Ilmarinen,
Takoja iänikuinen!
Teräksestä tehkös suitset,
Päitset rauasta rakenna
Yhellä vesikivellä,
Kolmen kosken kuohumilla,
Niillä tuonet Tuonen karhut,
Suistanet suet Manalan.“
„O du Schmieder Ilmarinen,
Du, der ew’ge Schmiedekünstler!
Schmied aus Stahl dir gute Zügel,
Mache Riemen du aus Eisen
Dir auf einem Stein im Wasser,
In dem Schaum von dreien Strömen,
Damit bringst den Bären Tuoni’s,
Zügelst du den Wolf Manala’s.“ [19. Rune]
Wer diese Dinge kennt, versteht, wie gut dieser Rat ist. Man muss sich
ein Gedankenbild von einem reißenden Strom, einem Gefühl in voller Wallung,
machen, und sich dann, mitten in diesem Strom auf einem Stein sitzend[8],
stählerne Zügel machen, das heisst, dass man den vernünftigen Gedanken sehen
lernen muss, der das ausgedachte Gefühl besänftigt. Wenn man sich daran gewöhnt
hat, eingebildete Gefühle mit solchen stahlklaren und stahlharten
Wahrheitsgedanken zur Ruhe zu bringen, fangen sie von alleine an, auch
wirkliche Gefühle zu zügeln. Und wenn man die Methode vor dem Schlafengehen
durch einen festen Entschluss in den Bereich des Schlafzustandes versetzt,
bewahrt das Bewusstsein seine Standfestigkeit auch in der Traumwelt und lernt
auch dort, Raubtiere im Zaume zu halten, ohne dass sie etwas Böses ahnen, wie
man von Ilmarinen erzählt (19: 135‒143).
Dann muss man nur noch das dritte Haus erobern, d.h., man muss Herr über
das Innenbewusstsein werden. Diese dritte Aufgabe für Lemminkäinen
lautet:
„Kun ammut joutsenen joesta,
Virrasta vihannan linnun,
Tuonen mustasta joesta,
Pyhän virran pyörtehestä,
Yhellä yrittämällä,
Yhen nuolen nostamalta.“
„Wenn den Schwan im Fluß du schießest,
In dem Strom den starken Vogel,
In des Tuoni schwarzem Flusse,
In des heil’gen Stromes Wirbeln,
Darfst es einmal nur versuchen,
Einen Pfeil darfst du nur senden.“ [14. Rune]
Für Ilmarinen lautet die gleiche Aufgabe:
„Kun saat suuren suomuhau’in,
Liikkuvan kalan lihavan
Tuolta Tuonelan joesta,
Manalan alantehesta
Ilman nuotan nostamatta,
Käsiverkon kääntämättä;
Sata on saanut pyytämähän,
Tullut ei yhtänä takaisin.“
„Wenn den großen Hecht gefangen.
Du den fetten Fisch mir bringest
Aus dem Flusse von Tuoni,
Aus den Tiefen von Manala,
Ohne daß ein Garn du stellest,
Ohne daß ein Netz du ziehest;
Hundert wollten ihn schon fangen,
Keiner ist zurückgekehret.“ [19. Rune]
Das ist nun die letzte Aufgabe. Wer sie erfolgreich bestanden hat, hat
sozusagen gelernt, den Sampo zu schmieden und kann mit der wunderschönen
Nordlandstochter getraut werden.
24. DER SCHWAN VON TUONELA
Die Erschießung des Schwans von Tuonela
erwies sich für Lemminkäinen als verhängnisvoll. Um das zu verstehen und um
zugleich zu verstehen, warum Ilmarinen in seinem Vorhaben erfolgreich war,
möchten wir das geheime Bewusstsein der inneren Sinne und dessen Verhältnis zu
unserem physischen Körper etwas näher betrachten.
In der okkultistischen Psychologie werden die seelischen Phänomene in
drei Kategorien eingeteilt: 1) vorübergehende Gedanken und Gefühle, 2)
wechselhafte, aber beständigere Gefühle, Launen, Stimmungen, Vorstellungen,
Ideen, Ideale und 3) beständige und charakteristische Instinkte, Triebe,
Gewohnheiten, Fähigkeiten, Eigenschaften und Leidenschaften. Diese Einteilung
wird mit der vorgenannten Bewusstseinseinteilung nach folgendem Schema in
Verbindung gebracht: 1) die vorübergehenden Gedanken und Gefühle gehören
hauptsächlich zum Wachbewusstsein, obwohl die unter 2) und 3) genannten Manifestationen
des Seelenlebens ‒ wie aus der Meerestiefe herausgestiegene Göttinnen oder
Ungeheuer ‒ natürlich Einfluss auf das Wachbewusstsein ausüben; 2) zum
Traumbewusstsein gehören hauptsächlich Gefühle, Stimmungen, Geisteszustände
usw., obwohl natürlich auch die von den Sinneseindrücken des Wachbewusstseins
hervorgerufenen Gedanken und Gefühle darauf reflektiert werden und die
Gewohnheiten und Instinkte des Innenbewusstseins darauf Einfluss einüben; und
3) normale Instinkte, Fähigkeiten usw. gehören im Wesentlichen zum Innenbewusstsein,
auf das der Einfluss der anderen Bewusstseinszustände sehr gering ist.
Diese Bewusstseinszustände stehen zugleich mit dem (formalen) Ich des
Menschen und seinem Körper natürlich wie folgt in Verbindung: 1) dem
persönlichen Ich am nächsten steht das Wachbewusstsein, und die Macht des Ichs
ist somit am direktesten über die Gedanken und Gefühle, die im Wesentlichen zum
Wachbewusstsein gehören; das Wachbewusstsein steht zugleich am entferntesten
vom Körper und ist gleichsam am wenigsten vom Körper abhängig; 2) das
Traumbewusstsein steht dem persönlichen Ich einen Schritt weiter und die Macht
des Ichs darüber ist relativ kleiner, während das Traumbewusstsein dem Körper
einen Schritt näher steht; 3) das Innenbewusstsein steht dem persönlichen Ich
am entferntesten und ist gleichsam unabhängig davon, während es, seiner
Funktion gemäß, im Ätherleib verborgen liegt und somit dem Körper am nächsten
steht. Deshalb ist es dem Menschen beinahe unmöglich, seine Gewohnheiten,
Charaktereigenschaften, Fähigkeiten usw. zu ändern, denn er hat – zu Recht –
das Gefühl, als müsste er Änderungen in seinem eigenen Körper zustande bringen.
Und wenn wir sagen, dass das Wachbewusstsein durch das Großhirn, das
Traumbewusstsein durch das Kleinhirn, das Rückenmark und das sympathische
Nervensystem und das Innenbewusstsein durch die geheimen Kraftzentren des
Körpers funktionieren, ist es klar, dass wir sozusagen immer tiefer in unseren
Körper eindringen müssen, wenn wir wollen, dass unser Wachbewusstsein sich bis
in die Tiefen unserer Innenbewusstseine erstreckt.
Und doch wird dies durch die Reinigungsarbeit geschehen, natürlich nicht
vollkommen, nicht so, dass dem Menschen übersinnliche und magische Kräfte
seines Innenbewusstseins zur Verfügung stünden – durchaus nicht, denn sie gehören erst zum Weg
des geheimen Wissens ‒ sondern so, dass er seinen Körper von gefährlichen
Gewohnheiten und körperlichen Instinkten, vor allem von Hass, Lieblosigkeit,
Gleichgültigkeit, Herzenskälte, Gefühllosigkeit, Selbstsucht und anderen
auffallenden Merkmale des Egoismus gereinigt hat.
Dies ist in den Kalevala-Runen die dritte Aufgabe, die ohne die Hilfe der
anderen Heldentaten gar nicht durchführbar ist. Wir haben bereits darauf
hingewiesen, dass die in der Meditation durchgeführte Reinigung der Gedanken
und Gefühle Einfluss auf die beständigen Geisteszustände von alleine ausübt,
und wir können jetzt hinzufügen: also auch auf Instinkte und Gewohnheiten,
obwohl man dafür viel Zeit braucht. Bei der dritten Aufgabe muss man nur sozusagen
eine positive Grundlage finden, um die Ergebnisse der Meditationsarbeit der Tagesarbeit
zu übergeben.
Man muss den Schwan von Tuonela erschießen, sagt die Kalevala, „in des
Tuoni schwarzem Flusse, In des heil’gen Stromes Wirbeln“. Mit diesen Worten,
die vielleicht frei erfunden und weit hergeholt klingen ‒ denn was haben wohl
unsere Neigungen und Gewohnheiten mit dem Tuoni, d.h. mit dem Tod, zu tun? ‒
zeigt die Rune eigentlich, dass sie tiefes okkultes Wissen besitzt. Erstens
sind unsere Gewohnheiten, insbesondere die schlechten, sehr eng mit dem Tod
verbunden, weil sie – abgesehen davon, dass sie selbst, aus der Sicht der
geistigen Entwicklung, zum Tode verurteilt sind – auch uns zum Tode und zur
Wiedergeburt führen. Zweitens sind sie auf eine ganz besondere Weise mit dem
Fluss von Tuonela verbunden, wie wir gleich sehen werden.
Was ist nämlich der „schwarze Fluss von Tuonela“? Er ist, wie der
griechische Styx, eine Grenze und Trennlinie zwischen zwei Welten: der Welt der
Lebenden und der Welt der Toten. Die Toten wohnen in der unsichtbaren Welt, die
wir mit unseren physischen Sinnen nicht wahrnehmen können, mit der wir aber
durch unsere inneren Sinne in Verbindung treten können. Wie uns unser
Wachbewusstsein mit der uns umgebenden physischen Welt verbindet, so verbindet
uns unser Innenbewusstsein mit der uns umgebenden unsichtbaren Welt. Der „Fluss
von Tuonela“ ist also zugleich die
Grenze und die Trennlinie zwischen unserem Wachbewusstsein (und dem Traumbewusstsein)
und dem Unterbewusstsein; er ist „schwarz“, weil er dunkel, unbewusst ist. Wenn
wir z.B. aus unserem Wachbewusstsein ‒ aus einem äußeren oder inneren Grund ‒
plötzlich zum Innenbewusstsein stürzen, sagt man, dass wir „bewusstlos“ sind
und uns beim Aufwachen an nichts erinnern; und auch, wenn wir im Schlaf zum
Innenbewusstsein übergehen, heißt es, dass wir uns in einem tiefen traumlosen
Zustand befinden. (Ausnahmen sind natürlich z.B. ekstatische Zustände, prophetische
Visionen im wachen Zustand und wahrsagende Träume.) Unser Zustand selbst war
natürlich nicht bewusstlos – nur die Reise, der Durchgang vom Innenzustand zum
wachen Zustand geht normalerweise im Zeichen der Bewusstlosigkeit, d.h. durch
den „schwarzen Fluss von Tuonela“.[9]
Weil nun die Gewohnheiten und Neigungen, die Schwächen und Fehler unseres
Charakters sowie seine Tugenden und Fähigkeiten in unserem Innenbewusstsein
wohnen, sind sie von unserem bewussten Ich getrennt und gleichsam vor uns
selbst geschützt. Für unsere guten Eigenschaften ist es vorteilhaft – wir
können sie nicht ohne Weiteres beflecken oder töten, doch schwieriger ist es,
wenn wir versuchen, uns von unseren bösen Gewohnheiten und Eigenschaften zu
befreien. Unmittelbar ändern, verbessern oder töten können wir sie auch nicht.
Wir sind anscheinend gezwungen, nur z.B. die Meditationsmethode zu benutzen,
die unsere Gewohnheiten und unseren Charakter allmählich von alleine veredelt.
Doch in der Kalevala heißt es: Du musst den Schwan von Tuonela erschießen, aber „Darfst es einmal
nur versuchen, Einen Pfeil darfst du nur senden“; und weiter: Du musst den
großen Hecht fangen, „Ohne daß ein Garn du stellest, Ohne daß ein Netz du
ziehest“. Hiermit weist die Kalevala anscheinend darauf hin, dass man ein
Mittel finden muss, mit dem man die im Körper verborgenen Gewohnheiten und
Instinkte erziehen und ändern und außerdem sein Bewusstsein bewusst in die innere
Welt versetzen könnte. Und die Kalevala weist nicht nur darauf hin, dass man
unbedingt so ein Mittel finden sollte, sondern nennt auch das Mittel
ausdrücklich. Und es fällt uns nicht schwer zu verstehen, welches Mittel in der
Kalevala gemeint ist.
Weshalb scheiterte nämlich Lemminkäinen bei seiner Aufgabe? Natürlich
deshalb, weil er dieses Mittel nicht fand. Und wenn wir über seine Geschichte
genauer nachdenken, sehen wir auch den Grund für sein Scheitern. Lemminkäinen
wird am Fluss von Tuonela von „Naßhut dem Heerdenhüter“ getötet, den er bei
seiner Ankunft nach Pohjola aus der Stube nicht hinausgesungen hatte und den er
mit seinen Worten beleidigt hatte und der seitdem auf Rache an Lemminkäinen
gesinnt hatte. Welche Eigenschaft wurde also für Lemminkäinen so verhängnisvoll?
Der Stolz, der Hass und die Verächtlichkeit seines Herzens. Wie könnte man auch
denken, dass Lemminkäinen seinen Charakter ändern, seine Instinkte und
Gewohnheiten so erziehen und reinigen könnte, dass sie der himmlischen Braut würdig
wären, bevor er sein eigenes Herz gründlich gereinigt hätte? Und selbst wenn er
das könnte, was würde es nützen, wenn in seinem Herzen noch Neigungen zu Stolz,
Hass und Arroganz wohnen würden?
Lemminkäinens Scheitern zeigt, wie bereits erwähnt, dass er auch die zwei
ersten Aufgaben nicht wirklich durchgeführt hatte. Er hätte ja sonst verstehen
müssen, dass das Erschießen des Schwans von Tuonela gerade irgendeine auf das
Herz hin zielende Methode bedeutete, die das Neuschaffen des Charakters in
Zukunft ermöglicht und ihm ein Mittel in die Hand gegeben hätte, sich in seinem
Bewusstsein in die innere Welt zu versetzen. Jetzt verstand er es nicht, denn
in seinem Herzen gab es immer noch kein Mitleid und keine mitfühlende Liebe.
Wir können verstehen, was jene Methode ist. „Den Schwan von Tuonela
Erschießen“ bedeutet: sein Bewusstsein ins Herz zu versenken und das im Herzen
verborgen liegende Kraftzentrum und den vom Herzen ins Gehirn führenden
Kraftkanal zu beleben. Wenn das getan ist, ist das Herz des Menschen neu und
der ganze Mensch wie neugeboren: Er ist gut, er ist mitleidend, er ist
mitfühlend. Für einen Lemminkäinen-Charakter wäre es eine leichte Aufgabe
gewesen, wenn nicht in demselben Herzen sein größter Feind gewohnt hätte. Wie
schön schildert die Kalevala trotzdem sein Schicksal. Um allen Suchenden ‒
insbesondere den Feuerseelen ‒ Mut zu machen, hebt sie die große Wahrheit der
Wiedergeburt hervor. Wir haben ja alle, so wie Lemminkäinen, die Mutter Natur,
die mitfühlend und liebevoll ist und uns aufs Neue versuchen lässt. Wenn wir im
Kampf fallen, weckt uns die Mutter wieder auf, gibt uns einen neuen Körper und
eine neue Persönlichkeit; und wir machen uns ‒ sogar noch besser ausgerüstet
wie vorher ‒ aufs Neue an die Arbeit, das Rätsel des Sphinx zu lösen.
Bei der Aufgabe des Ilmarinen bedeutet der „Hecht“ ebenfalls das Herz.
Ilmarinen sieht ein, um was es geht und macht sich schnell auf den Weg, mit der
Absicht, bei der Nordlandstochter Rat zu suchen. Und die Braut hilft ihm:
„Ohoh seppo Ilmarinen,
Ellös olko milläskänä!
Taop’ on tulinen kokko,
Vaakalintu valke’inen!
Sillä saanet suuren hau’in,
Liikkuvan kalan lihavan
Tuonen mustasta joesta,
Manalan alantehesta.“
„O du Schmieder Ilmarinen,
Sei doch nimmer solcher Stimmung!
Schmiede einen Aar aus Feuer,
Einen großen Flammenvogel!
Dieser wird den Hecht dir fangen,
Dir den fetten Fisch erhaschen
Aus dem schwarzen Fluß Tuoni’s
Aus den Tiefen von Manala.“ [19. Rune]
Ist das nicht, als ob sein höheres Selbst ihn beraten und trösten würde:
„Hab’ keine Angst, dass dein Herz dir Schaden zufüge. Du bist ein tatkräftiger
Mann. Führe nur weiter solche Taten aus, die dir in einer kritischen Stunde
hilfreich sein werden. Führe Taten der Liebe und Barmherzigkeit aus, sei
hilfsbereit und bereit zu dienen. Für deine Natur ist es nicht schwer.“
Ilmarinen befolgt den Rat und eilt mit den Flügeln seiner guten Taten zum
Tor zu seinem eigenen Herzen. Sein gutes Karma – wie die Buddhisten sagen –
hilft ihm, Schwierigkeiten zu überwinden und verflüchtigt sich dann zu Gott in
den Himmel, doch es ist Ilmarinen selbst gelungen, sein Herz zu beleben, das
nach seiner bescheidenen Einschätzung nur einen Hechtkopf wert ist (19:
185–318).
Ilmarinen hat jetzt alle Aufgaben erfüllt. Deshalb fängt man jetzt an,
seine Hochzeit mit der wunderschönen Nordlandstochter zu feiern.
25. DIE HOCHZEIT IN POHJOLA
Der prachtvollen Hochzeit und der Heimkehr
von Ilmarinen mit seiner jungen Frau werden in der Kalevala ganze sechs Runen
(20‒25) gewidmet, doch es ist offensichtlich, obwohl die mystische Erfahrung,
die hier gemeint ist, allumfassend und großartig ist, dass der Grund für die
ausfühliche Beschreibung einfach darin liegt, dass die Rune äußerliche
Völkertraditionen darlegen will, die in keiner direkten Verbindung mit dem
mystischen Inhalt der Rune steht.[10]
Deshalb scheint es uns, dass die einzige Stelle, die mit der Beschreibung der
mystischen Ehe in Verbindung gebracht werden kann, diejenige ist, die über die
Hochzeitsvorbereitungen (20. Rune)
erzählt, insbesondere die folgenden Verse:
Silloin Pohjolan emäntä
Pani kutsut kulkemahan,
Airuhut vaeltamahan,
Ise tuon sanoiksi virkki:
„Ohoh piika pikkarainen,
Orjani alinomainen!
Kutsu rahvasta kokohon,
Miesten joukko juominkihin,
Kutsu kurjat, kutsu köyhät,
Sokeatki, vaivaisetki,
Rammatki, rekirujotki,
Sokeat venehin soua,
Rammat ratsahin ajele,
Rujot re’in remmätellös!
Kutsu kaikki Pohjan kansa,
Ja kaikki Kalevan kansa,
Kutsu vanha Väinämöinen
Lailliseksi laulajaksi,
Elä kutsu Kaukomieltä,
Tuota Ahti Saarelaista!“
Darauf ließ Pohjola’s Wirthin
Überall zur Hochzeit laden,
Sandte Boten um zu bitten,
Redet selber diese Worte:
“O mein liebes, kleines Mädchen,
Dienerin, die mir gehöret!
Ruf’ die Leute nun zusammen,
Zum Gelag’ die Männerschaaren,
Bitte Arme, bitte Dürft’ge,
Bitte Blinde, Mühbeladne,
Bitte Lahme, bitte Krüppel,
Bring’ die Blinden du in Böten,
Bring’ zu Rosse her die Lahmen,
Schlepp’ die Krüppel her im Schlitten!
Lade ein das ganze Nordvolk,
Lade ein das Volk Kalewa’s,
Bitt’ den alten Wäinämöinen,
Daß er hieselbst kunstvoll singe,
Bitte nur nicht Kaukomieli,
Nicht den Inselländer Ahti!“ [20. Rune]
Es sind seltsame Verse, denn sie erinnern uns automatisch an das
Gleichnis Jesu von der Hochzeit des Königssohnes. Wie die Wirtin von Pohjola
die Einladung rund um die Gegend schickt, weil es auf der Hochzeit keinen
„wohlerfahrnen Sänger, der gehörig preisen könnte“, gibt, so wird auch der
König zornig, weil die geladenen Gäste nicht zur Hochzeit kommen. Er sagt seinem
Diener: „Gehe aus schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die
Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein“, und weiter: „Gehe aus auf die
Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf das mein Haus
voll werde.“[11] Und
wie die Wirtin von Pohjola Lemminkäinen zur Hochzeit nicht einladen will, so
bittet auch der König, den Gast hinauszuwerfen, der kein hochzeitliches Kleid
an hat.[12] Die
Übereinstimmung ist so auffallend, dass man sofort versteht, dass hinter diesen
beiden Gleichnissen die gleiche mystische Wahrheit steht.
Auf der Hochzeit von Pohjola geht Ilmarinen, der Wahrheitssuchende, den
heiligen Bund mit der Nordlandstochter, seinem höheren Selbst, ein. Das „höhere
Selbst“ des Menschen ist das Ichbewusstsein seines gottgeborenen Selbstes, von
dem das „niedere“ oder das „persönliche Ich“ eine Reflektion ins Gehirn ist.[13] Der
gewöhnliche, „nicht wiedergeborene“ Mensch kennt dieses Selbst seines
Innenbewusstseins nicht; er ist nur ein sterbliches, persönliches Wesen; das
höhere, das „individuelle“ Selbst hingegen ist unsterblich. Erst auf dem
vorbereitenden Weg kann der Wanderer oder der „Brautfahrer“, wie ihn die Kalevala
nennt, manchmal die Anwesenheit des göttlichen Selbstes in seiner Seele spüren
– nämlich dann, wenn der Einfluss aus dem Innenbewusstsein für eine Weile in
das Wachbewusstsein einfließt. Doch erst der Brautfahrer, der, gleich
Ilmarinen, in allen Aufgaben erfolgreich ist, wird untrennbar mit seinem
inneren Selbst getraut. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch als ein
wachbewusstes Wesen seitdem sein unsterbliches Ich mit all seinen Eigenschaften
und Fähigkeiten vollkommen kennen würde; im Gegenteil, man kann beinahe sagen,
dass er sein eigentliches Selbst noch gar nicht kennt. Aber zwischen dem
Höheren und dem Niederen ist eine unzerbrechliche Brücke gebaut worden, eine „ewige
Verbindung mit Gott“ ist hergestellt worden, durch die es ihm jetzt möglich
ist, wahrhaftig „die Tiefen des göttlichen Geistes zu erforschen“, in die
tiefsten Geheimnisse der Ozeane seines eigenen Selbstes einzutauchen. Erst
jetzt, wie gesagt, öffnet sich ihm der Weg des Wissens und der Macht – und
zugleich der Weg der ungeahnten Irrtümer und Sorgen.
Lasst uns noch einmal erklären, was die praktische Bedeutung der Ehe mit
dem Höheren Selbst ist, was also Ilmarinen als Wahrheitssuchender auf der Hochzeit
in Pohjola gewinnt.
Vor dieser Einweihung glaubt der Mensch leicht irrtümlicherweise, dass
sein physischer Körper oder seine vielen Gefühle und Gedanken, also das „reale
Ich“, von dem die Seelenkunde spricht, sein wahres Selbst sei. Doch auf dem Weg
der Reinigung lernt er, sich Schritt für Schritt von seinen körperlichen
Gewohnheiten und Neigungen, Gefühlen und Gedanken zu trennen; als Brautfahrer
lernt er, aus seinem realen Ich hinauszusteigen; er lernt zu sehen, dass
Gedanken, die er leiten und lenken kann, nicht er selbst sind; er lernt, dass
Leidenschaften und Begierden, Gefühle und Launen, die er beherrschen kann,
nicht er selbst sind; er lernt, dass Gewohnheiten und Neigungen, die er ändern
und schulen kann, nicht er selbst sind. So entwickelt sich in ihm das „formale
Ich“ von einem Subjektbegriff zu einem lebendigen, abwartenden Wesen, das in
der Einweihung seinen Inhalt bekommt.
Vor der Einweihung kann sich der Mensch allerlei Theorien über das Leben
beliebig zusammenstellen; in seinem Wesen können Egoismus und Bosheit wohnen,
von denen er keine Ahnung hat, die aber in einem kritischen Moment auf die
Bühne treten können; er kann an die Kraft der Liebe glauben und sie bewundern,
aber auch Hass kann in seinem Herzen wohnen. Wie anders ergeht es doch dem
Wahrheitssuchenden, wenn er mit seinem höheren Selbst getraut ist! Jetzt ist
ihm der Sinn des körperlichen Lebens klar geworden: Er weiß, dass das einzige
göttliche Lebensgesetz die Liebe ist; was in ihm Böses ist, darf vor seinen
Augen nicht verdeckt bleiben, es muss ans Tageslicht kommen und er muss es
besiegen; in seinem Herzen, das voller Mitgefühl und Liebe zu allen Lebenden
ist, hat Hass keinen Platz. All das hat er sich als Brautfahrer erkämpft und
all das hat er auf der Hochzeit in Pohjola als seinen Siegeskranz errungen.
Wie könnte also Lemminkäinen zur
Hochzeit eingeladen werden? Wie könnte auf der Hochzeit des Königssohnes ein
Gast dabei sein, der nicht in ein hochzeitliches Kleid gekleidet ist? Auch alle
Erinnerungen an misslungene Anstrengungen, an eigene Windschlösser und kleine
Theorien werden gelöscht. Doch Arme und Dürftige, Blinde, Mühebeladene und
Krüppel werden zur Feier eingeladen, denn es gibt keinen, der kunstvoll singen
könnte, und die zuerst geladenen Gäste kommen nicht. Alte Vorstellungen über
ein anständiges Leben, auswendig gelernte Frömmigkeit, Tadellosigkeit und
Tugendhaftigkeit, die der Mensch durch Religion, Bildung und Wissenschaften
geschenkt bekommen hat und die man auf der Hochzeit erwarten würde, sind alle
nicht anwesend, denn unter ihnen gibt es niemanden, der das wahre Lied des
Lebens singen könnte. Die Sünden und Schwächen des Menschen hingegen, seine
Fehler und Unzulänglichkeiten freuen sich mit auf der Hochzeit, denn die überströmende
Barmherzigkeit und Liebe seines Herzens kleidet sie für eine Weile in
hochzeitliche Kleider und lässt ihn die Lektion verstehen, die diese ihm
erteilt haben. Und alle in den Augen der anständigen Leute verrückt und
unsinnig scheinenden Lebensauffassungen, alte Aberglauben und Ideale werden zur
Hochzeit eingeladen, denn in ihnen verbirgt sich im Grunde genommen Wahrheit
und sie können zuhören, wenn der alte Väinämöinen, die uralte Weisheit, das
Hochzeitslied singt:
Siinä lauloi Väinämöinen,
Pitkin iltoa iloitsi,
Naiset kaikki naurusuulla,
Miehet mielellä hyvällä
Kuuntelivat, kummeksivat
Väinämöisen väännätystä,
Kun oli kumma kuulianki,
Ime ilmankin olian.
Sang der alte Wäinämöinen
Zu der Freud’ des langen Abends,
Daß die Weiber alle lachten,
Froh der Männer Laune wurde,
Daß sie lauschten, daß sie staunten,
Ob der Weisen Wäinämöinen’s,
Welche Staunen allen Hörern,
Staunen auch den Müß’gen brachten. [21. Rune]
Man kann wohl kaum die Glückseligkeit und Freude in Worte fassen, von der
die Menschenseele überwältigt wird, wenn er mit seinem höheren Selbst eins wird
und die grenzenlose Kraft und Weisheit der göttlichen Liebe erfahren kann. Er
hört in seinem Wesen die Stimme des Meisters, die Stimme der Weisheit, so
demütig und zugleich so bezaubernd und mächtig, dass er fühlt und weiß, dass auch
er einmal ein Schöpfer werden kann, auf dessen Worte die in ihm wohnenden
Kräfte des Seins und die Wesen der Weltenräume hören, so dass alles sich zum Guten
und Nützlichen wenden wird. Wie bescheiden und wirkungsvoll wird doch diese
Stimmung in den Schlussworten des Hochzeitlieds des Väinämöinen ausgedrückt:
„Mitäpä minusta onpi
Laulajaksi, taitajaksi,
En minä mitänä saata,
En kuhunkana kykene;
Oisi luoja laulamassa,
Suin sulin sanelemassa,
Luoja laulun lauleleisi,
Lauleleisi, taiteleisi.
Laulaisi meret mesiksi,
Meren hiekat hernehiksi,
Meren mullat maltahiksi,
Suoloiksi meren someret,
Lehot laajat leipämaiksi,
Ahovieret vehnämaiksi,
Mäet mämmikakkaroiksi,
Kalliot kanan muniksi.
Lauleleisi, taiteleisi,
Saneleisi, saatteleisi…
Annap’ ainaki Jumala,
Toisteki totinen luoja,
Näin näissä elettäväksi…
Näissä Pohjolan tuvissa…
Jotta päivin lauleltaisi,
Illoin tehtäisi iloa
I’ällä tämän isännän,
Elinajalla emännän!“
„Bin als Sänger nicht bedeutend,
Bin es nicht als Zaubersprecher,
Kann nicht viel als solcher leisten,
Habe nur ein schwach Vermögen;
Wenn der Schöpfer singen wollte,
Mit dem Munde Worte sprechen,
Würd’ er kräftig Lieder singen,
Würd’ er zauberkräftig sprechen.
Säng’ des Meeres Fluth zu Honig,
Seinen Sand zu schönen Erbsen,
Meeres Kies zu gutem Malze,
Säng’ zu Salz des Meeres Steine,
Säng’ zu Kornland breite Haine,
Laubwald rasch zu Weizenfluren,
Berge bald zu süßen Kuchen,
Steine schnell zu Hühnereiern.
Würde singen, würde zaubern,
Würde reden, würde sprechen…
Gott, gewähre du beständig,
Gieb, o Schöpfer voller Wahrheit,
Daß auf diese Art man lebe,…
Auf dem Schmause von Pohjola…
Daß die Tage man hier singe,
An dem Abend freudig lärme
In der Lebenszeit des Wirthen
Und so lang’ die Wirthin lebet!“ [21. Rune]
Wenn der Wahrheitssuchende einmal die umwälzende Hochzeitserfahrung in
Pohjola gemacht hat, kann er danach weder den Sinn des Lebens noch seinen Gott
bezweifeln. Er hat seine eigene Göttlichkeit erfahren und weiß, dass die
gleiche Göttlichkeit in der Seele eines jeden Menschenkindes verborgen liegt.
Doch seine Vernunft kann vom Nebel verhüllt werden und er kann vergessen, dass
er mit seinem göttlichen Selbst eins ist.
26. DIE GOLDENE JUNGFRAU
Wenn der Wahrheitssuchende den heiligen Bund
mit seinem höheren Selbst eingegangen ist, wird er in den hinduistischen
heiligen Schriften „heimloser Wanderer“ (parivrajaka)
genannt. Das erinnert uns an die Worte Jesu: „Die Füchse haben Gruben, und die
Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er
sein Haupt hin lege.“[14] Diese Stelle
wird in den theosophischen Schriften so interpretiert, dass der Mensch, der
eine Ehe mit seinem höheren Selbst eigegangen ist, wirklich wie ein Heimloser
auf Erden ist, denn sein eigentliches Zuhause ist bereits im himmlischen
Zustand seines göttlichen Selbstes und in seinem irdischen Leben ist er nur wie
ein Abgesandter, der „den Willen seines himmlischen Vaters erfüllt“. Er hat
hier kein „bleibendes Zuhause“, und er will auch keines haben, denn sein
Zuhause ist überall dort, wo er der Menschheit dienend den Willen Gottes
erfüllen kann. Die hinduistische Bezeichnung und die Worte Jesu sind also keine
Klage, sondern ein Hinweis auf die Regel.
So wahr es auch ist, kann man die Sache auch von einer anderen Sicht
betrachten, und unserer Meinung nach enthält die Erzählung auch andere Aspekte
zur Psychologie des eingeweihten Menschen. Die Kalevala erzählt, wie das junge
Brautpaar nach der Hochzeit in Pohjola zu Ilmarinen fährt, wo für die
Nordlandstochter ein bleibendes Zuhause eingerichtet wird. Obwohl also, anders
ausgedrückt, der Bund zwischen dem Höheren und dem Niederen in Pohjola, d.h. im
Innenbewusstsein, geschlossen wird, wird dem Höheren ein eigentliches Zuhause
oder eine Bleibe im Wachbewusstsein des Ilmarinen eingerichtet. In seinem
Wachbewusstsein muss der Mensch natürlich imstande sein, mit seinem höheren
Selbst eins zu sein. So ist es auch am Anfang. Die erste Zeit nach der
Einweihung lebt der Mensch in einem Zustand der Seligkeit und fühlt sich verborgen,
wie ein Mensch, der für sich ein eigenes Zuhause eingerichtet hat. Doch dann
erfolgt eine Katastrophe: Das höhere Selbst verschwindet aus dem Blickfeld.
Das geschieht entweder in dem einen Leben oder zumindest dann, wenn der
Mensch wieder auf Erden geboren wird. Wenn der Mensch wiedergeboren wird, hat
er in seinem neuen Wachbewusstsein keine selbstbewusste Erinnerung an seine
Einweihung; er hat nur eine unsagbare Wehmut und Sehnsucht, ein tiefes
Mitgefühl zu allen Leidenden und ein Gefühl, dass er etwas verloren hat, das er
wiederfinden müsste. Die Kalevala hat dieses Ereignis mit dem Tod der
Nordlandstochter und der dadurch hervorgerufenen Trauer des Ilmarinen dargestellt.
Wir können mit gutem Grund sagen, dass die Rune 37 für Ilmarinen ein neues
Blatt im Buch des Lebens bedeutet, dass es sich also dabei um seinen neuen
Inkarnationszyklus handelt:
Se on seppo Ilmarinen
Naista itki illat kaiket,
Yöt itki unettomana,
Päivät einehettömänä,
Aamut aikaisin valitti,
Huomeniset huokaeli,
Kun oli kuollut nuori nainen,
Kaunis kalmahan katettu;
Eipä kääntynyt käessä
Vaskinen vasaran varsi,
Kuulunut pajasta kalke,
Yhen kuuhuen kululla.
Weint’ der Schmieder Ilmarinen
Alle Abend nach dem Weibe,
Weinte schlaflos alle Nächte,
Alle Tage ohn’ zu essen,
Klagte früh schon an dem Morgen,
Seufzet in des Tages Frühe,
Weil gestorben ihm die Eh’frau,
Weil die Schöne hingesunken;
Nicht ward in der Hand geschwungen
Seines Hammers Schaft von Kupfer,
Nicht zu hören war das Hämmern
In dem Laufe eines Monats. [37. Rune]
In dieser Situation befindet sich der Mensch wirklich in einem seltsamen
Zustand. Er ist eine neue Persönlichkeit, die von der alten nichts weiß, doch
sein in seinem Innenbewusstsein wohnendes individuelles Selbst hat die große
Einweihung der Liebe erlebt und strebt jetzt ständig danach, sich am Wachbewusstsein
seiner neuen Persönlichkeit zu beteiligen. Das erweckt eine unüberwindliche
Sehnsucht nach der göttlichen Wahrheit, einen festen Glauben, dass die Wahrheit
im eigenen Selbst des Menschen zu finden ist, und den Willen zur ständigen, unermüdlichen
geistigen Arbeit und Anstrengung. Obwohl der Suchende sich nicht weit vom Weg
seines Gottes verirren kann, so führt ihn seine eigene Eifer und Sehnsucht auch
zu Irrtümern, aus denen er durch Leid und Sorgen lernen kann.
Wir fragen auch zu Recht: Stellt also die Natur den Menschen nicht in die
Lage des Brautfahrers zurück, in der er sich befand, bevor er auf den Weg der
Reinigung trat? Geht es hier nicht um den Rückwärtsgang in der Entwicklung? Ist
es nicht, menschlich gesehen, unrecht? Wozu alle Anstrengungen und Errungenschaften,
wenn deren Früchte aus den Händen des Menschen dennoch verschwinden?
Wir wollen die Natur keineswegs blindlings verteidigen. Äußerlich gesehen
verliert der Mensch immer etwas im Tod, d.h. im Zustand der Ruhe. Was der
Schlaf für die Persönlichkeit ist, das ist der Tod für das Individuum. Wenn
z.B. ein Künstler an einem größeren Kunstwerk arbeitet, muss er seine Arbeit immer
wieder für eine Ruhepause unterbrechen, und nach der Pause findet er den Faden
nicht so leicht wieder. Je geschickter er ist, desto schneller kann er den
Faden wiederfinden; doch im Leben und in der Natur herrscht das Gesetz der
zyklischen Zeitabläufe und der Periodizität, was der Mensch nicht ändern kann.
Auch die Kalevala hat diese Tatsache deutlich gezeigt. Um die Nordlandstochter
für sich zu gewinnen, muss der Mensch eine bestimmte Arbeit durchgeführt haben:
Er hat den mystischen Sampo geschmiedet. Es bedeutet, dass es ihm gelungen ist
– entweder vor der eigentlichen Reinigung oder parallel zu seinen Aufgaben ‒ in
einem wach- oder selbstbewussten Zustand in sein Innenbewusstsein, also in die
unsichtbare Welt, einzudringen, so ähnlich wie Ilmarinen zuerst mit Hilfe des
Väinämöinen, später durch sein eigenes Können nach Pohjola kam. Das Schmieden
des Sampo ‒ in dieser mystisch-psychologischen Bedeutung ‒ ist vor der
Einweihung notwendig.
Doch wenn Ilmarinen nach dem Ende seiner glücklichen Ehe wieder auf die
Bühne tritt, ist der Sampo trotz allem in Pohjola geblieben! Ilmarinen muss
also entweder vergessen haben, wie das Schmieden vor sich ging, oder er ist auf
Erden wiedergeboren und aus natürlichem Grund verhindert, sich zu erinnern.
Ist das nun seitens der Natur Unrecht, oder können wir die Sache aus
einer anderen Sicht betrachten? Es gibt tatsächlich auch eine andere Sichtweise.
Selbst wenn er einmal eingeweiht wurde, steht ihm eine Arbeit bevor, die
er auch selber noch nicht kennt: das Holen des Sampo aus Pohjola, oder, wenn
wir so sagen wollen, das Schmieden des Sampo in seinem Wachbewusstsein noch einmal.
Das bedeutet, anders ausgedrückt, das Wachbewusstsein nach innen zu erweitern,
oder, besser gesagt, das Innenbewusstsein dem Wachbewusstsein immer mehr
bewusst zu machen.
Das kann man nun leicht falsch verstehen: Man könnte glauben, dass das
Innenbewusstsein, wenn es bei der Einweihung als das höhere Selbst ins
Wachbewusstsein hineingetreten ist, sich durch diesen Schritt ganz
ausgeschöpft, d.h. sich dem wachbewussten Ich vollkommen enthüllt hätte; man
könnte auch glauben, dass das Innenbewusstsein als das „göttliche“ Selbst ein
unveränderlicher Faktor sei, der sich weder entwickelt noch wächst. Diese
Annahme ist falsch. Bei der Einweihung personifiziert sich nur ein Teil des
Innenbewusstseins ins Wachbewusstsein, denn das göttliche Selbst ist
grenzenlos. Und weit gefehlt, dass das höhere Selbst sich nicht entwickeln könnte;
es ist ja im Wesentlichen dieses Innenbewusstsein, das die Früchte aller
Entwicklung erntet: Als unsterbliches Wesen stehen ihm grenzenlose
Entwicklungsmöglichkeiten bevor. Der Eingeweihte darf bei seiner
Selbsterziehung dem freien Wachstum des inneren Selbstes keine Grenzen setzen,
was der Fall wäre, wenn er durch das Wachbewusstsein nur das ausdrücken wollte,
was er sich bei der Einweihung von dem inneren Selbst aneignen konnte. Deshalb
ist es notwendig, dass das höhere Selbst sich vor dem Wachbewusstsein
versteckt, damit der Mensch gezwungen wäre, es zu suchen und zugleich seine
Kenntnisse davon zu erweitern. Dies ist beinahe die allgemeine Regel, weil es
dem Eingeweihten sehr schwer fällt, diese Dinge im Voraus allein zu verstehen.
Nur im Beisein eines großen und weisen Lehrers kann die Entwicklung schnell vor
sich gehen. Doch die Regel ist, dass bei diesen Anstrengungen eine Verkörperung
nach der anderen vergeht und das Gesetz der Entwicklung somit erfordert, dass
der Eingeweihte sich seiner Einweihung nicht mehr bewusst ist und auf Erden
wiedergeboren wird ‒ dass Ilmarinen die Nordlandstochter durch den Tod
verliert…
Zuerst versteht also Ilmarinen nicht einmal, dass ihm eine große Aufgabe
‒ den Sampo zu schaffen ‒ bevorsteht. Er hat in Wirklichkeit keine Ahnung von
einem Sampo. Er lässt sich nur von seiner Trauer und Sehnsucht, von einem
Gefühl der Einsamkeit, des Mitleids und der Sorge um die Welt überwältigen. Aber
nicht für sehr lange Zeit:
Seppo naisetta elävi,
Puolisotta vanhenevi;
Itki kuuta kaksi, kolme,
Niinpä kuulla neljännellä
Poimi kultia mereltä,
Hopeita lainehilta;
Keräsi kekosen puita,
Kolmekymmentä rekoista,
Puunsa poltti hiililöiksi,
Hiilet ahjohon ajeli.
Weiblos lebte nun der Schmieder,
Alterte so ohne Gattin;
Weinte zwei, ja drei der Monde,
Eben so auch in dem vierten,
Sammelt Gold dann aus dem Meere,
Silber aus des Meeres Fluthen;
Stapelt Holz in großen Haufen
Dreißig ganze Schlittenfuder,
Brennt das Holz dann ganz zu Kohlen,
Thut die Kohlen in die Esse. [37. Rune]
Bald erwacht in Ilmarinen der Tatendrang. Trauernde gibt es ja auch
anderswo. Die Welt ist voller Leiden. Vielleicht könnte er seine eigene Trauer
vergessen, wenn er sich an die Arbeit machen würde, wenn er etwas schaffen
würde. Vielleicht würde er seine Ruhe wiederfinden, wenn er für seine Sehnsucht
eine Gestalt geben würde, wenn er sein Ideal aus sich selbst heraus kreieren
würde:
Otti noita kultiansa,
Valitsi hopeitansa
Syksyisen uuhen verran,
Verran talvisen jäniksen,
Työnti kullat kuumentohon,
Ajoi ahjohon hopeat,
Pani orjat lietsomahan,
Palkkalaiset painamahan.
Orjat lietsoi löyhytteli,
Palkkalaiset painatteli
Kintahattomin kätösin,
Hatuttoman hartioisen;
Itse seppo Ilmarinen
Ahjoa kohentelevi,
Pyyti kullaista kuvaista,
Hopeista morsianta.
Nimmt darauf von seinem Golde,
Nimmt ein Stück von seinem Silber,
Gleich an Größe einem Herbstlamm
Oder einem Winterhasen,
Stößt das Gold, damit es schmelze,
Steckt das Silber in die Esse,
Stellet Knechte hin zum Blasen,
Tagelöhner zu dem Blasbalg.
Kräftig blasen da die Knechte,
Drücken rasch die Tagelöhner
Mit den Händen ohne Handschuh,
Mit den Schultern ohne Hüte;
Selbst der Schmieder Ilmarinen
Rühret fleißig um das Feuer,
Will aus Gold sich ein Gebilde,
Eine Braut aus Silber schaffen. [37. Rune]
Und nun erfolgt in der Kalevala die seltsame und bekannte Erzählung über
das Schmieden der goldenen Jungfrau.
Sie erinnert uns natürlich an die griechische Sage von Pygmalion, dem
Bildhauer, der sich aus Marmor eine wunderschöne Frauenstatue, Galatea,
meißelte. Pygmalion verliebte sich in ihre Galatea, und weil die Marmorstatue
kalt und leblos war, betete er zu Göttern, sie mögen ihm helfen und seine
Statue lebendig machen. Die Götter willigten ein, Galatea wurde lebendig und
Pygmalion überglücklich.
So erging es jedoch Ilmarinen und seiner goldenen Braut nicht, aber wir
werden gleich sehen, dass die Beschreibung der Kalevala psychologisch richtig
und mit dem mystischen Gesamtinhalt vollkommen übereinstimmend ist, was die
griechische Sage in diesem Zusammenhang nicht wäre.
Die goldene Jungfrau wird nicht sofort fertig. Beim ersten Mal dringt aus
der Esse nach der neuen Kalevala ein Schaf, nach der alten ein Schwert hervor;
beim zweiten Mal entsteht nach großer Anstrengung ein Fohlen bzw. ein Hengst.
Erst beim dritten Mal entsteht die goldene Jungfrau. Nach den ersten Versuchen
freuen sich die anderen, Ilmarinen selbst aber nicht; der letzte Versuch
erschreckt die anderen, während Ilmarinen selbst zufrieden ist.
Hier handelt es sich unserer Meinung nach um die Arbeit eines kreativen Genies
aus dem Bereich der Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik, usw. Der Mensch
zieht zum Kampf gegen das Unrecht der Welt oder schafft z.B. ein wunderbares
Kunstwerk. Er erntet Anerkennung und Ehre seitens der Welt, doch sein liebendes
Herz bleibt leer, denn es wird von der Welt nicht verstanden. Schließlich
glaubt er, ein Mittel gefunden zu haben, womit er sein Herz befriedigen kann:
Er muss aus seiner eigenen Persönlichkeit ein vollkommenes Menschenwesen schaffen,
das das geheime Ideal widerspiegelt und von der ganzen Welt geliebt werden
kann. Der Drang zur Vollkommenheit erwacht in ihm: „Ich will eine vollkommene,
fromme Persönlichkeit sein.“ Und er macht sich an die gewaltige Arbeit:
Siitä seppo Ilmarinen
Takoi kullaista kuvoa,
Takoi yön levähtämättä,
Päivän pouahuttamatta;
Jalat laati neitoselle,
Jalat laati, käet kuvasi:
Eipä jalka nousekana,
Käänny käet syleilemähän.
Takoi korvat neiollensa,
Eipä korvat kuulekana;
Niin sovitti suun sorean,
Suun sorean, sirkun silmät,
Saanut ei sanoa suuhun,
Eikä silmäin suloa.
Darauf schmiedet Ilmarinen,
Er, der Schmieder, das Gebilde,
Schmiedet Nächte ohn’ zu ruhen,
Tagelang ohn’ anzuhalten;
Füße gab er wohl der Jungfrau,
Füße ihr und bildet’ Hände,
Doch nicht taugt der Fuß zum Gehen,
Nicht die Arme zum Umarmen.
Schmiedet Ohren wohl der Jungfrau,
Doch nichts hören konnten diese;
Meisterhaft schuf er den Mund ihr,
Schön den Mund, die Augen lebhaft,
Leider war der Mund ihr wortleer,
Ohne Anmuth auch das Auge. [37. Rune]
Das Ergebnis der Arbeit befriedigt ihn nicht. Die Braut ist schön, aber
leblos. Ilmarinen bemerkt bald, dass sein Herz leer bleibt, selbst wenn seine
eigene Persönlichkeit tadellos schön gestaltet ist und alle sittlichen Tugenden
besitzt:
Siinä seppo Ilmarinen
Heti yönä ensimmäisnä
Kyllä peitettä kysyvi,
Vaippoja varustelevi,
Kahet, kolmet karhuntaljat,
Viiet, kuuet villavaipat
Maata kera puolisonsa,
Tuon on kultaisen kuvansa.
Se oli kylki kyllä lämmin,
Ku oli vasten vaippojansa;
Ku oli nuorta neittä vasten,
Vasten kullaista kuvoa,
Se oli kylki kylmimässä,
Oli hyyksi hyytymässä,
Meren jääksi jäätymässä,
Kiveksi kovoamassa.
Darauf frägt Schmied Ilmarinen
Gleich schon in der Nächte ersten
Nach gehör’ger Zahl von Decken,
Sorgt für eine Menge Tücher,
Zwei, ja drei der Bärenfelle,
Fünf, ja sechs der wollnen Decken,
Um bei seiner Ehehälfte,
Bei dem goldnen Bild zu schlafen.
Warm genug war eine Seite,
Die die Decke gut verhüllte,
Die der Jungfrau zugewandte,
Die am Goldgebilde ruhte,
Diese Seite war voll Kälte,
War vor lauter Frost erstarret,
Drohte gar zu Eis zu werden
Und zu Stein sich zu verhärten. [37. Rune]
Ilmarinen hatte sich also gewaltig geirrt. Und was war sein Irrtum? Der,
den wir bereits nannten: Er versuchte, eine Form, eine endgültige Form für den
lebendigen Geist seines eigenen inneren Bewusstseins zu schaffen, also dessen
prächtiges Wachstum zu begrenzen. Er verfiel der Sünde, von der im Gebot
gewarnt wird: Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, denn ich bin dein Gott.
Alle von Menschen geschaffenen Vollkommenheitsbilder sind Einschränkungen,
Götzen. Das Leben selbst sucht seine Formen, ohne dass der Mensch etwas daran
rührt.
Ilmarinen erschrak: Ich kann ja mit dieser meiner tadellosen
Persönlichkeit nichts anfangen. Was, mein Gott, muss ich machen?
Viepi neien Väinölähän;
Sitte sinne tultuansa
Sanan virkkoi, noin nimesi:
„Oi sie vanha Väinämöinen,
Tuossa on sinulle tyttö,
Neiti kaunis katsannolta“
Führt die Jungfrau nach Wäinölä;
Redet, als er hingekommen,
Worte solcher Weise sprechend:
„O du alter Wäinämöinen,
Nimm da hin ein hübsches Mädchen,
Eine Jungfrau schön von Aussehn.” [37. Rune]
Und der Weise, dessen Stimme mit dem eigenen inneren Gefühl des Ilmarinen
übereinstimmt, sagt:
„Oi on seppo veikkoseni;
Tunge neitosi tulehen,
Tao kaikiksi kaluiksi‚…
Ei sovi minun su’ulle,
Ei minullen itselleni
Naista kullaista kosia,
Hopeista huolitella.“
„O du Schmied, mein lieber Bruder!
Wirf die Jungfrau in das Feuer,
Schmied’ draus allerlei Geräthe…
Nimmer ziemt es meinem Stamme,
Niemals ziemte es mir selber
Eine goldne Braut zu wählen,
Eine silberne zu suchen.“ [37. Rune]
Äußerlich vollkommene Persönlichkeiten braucht weder das Leben, noch der
Gott des Lebens. Götzenbilder sind da, um zerstört zu werden.
Kylmän kulta kuumottavi,
Vilun huohtavi hopea.
Kalt nur ist der Glanz des Goldes,
Frost nur hauchet aus das Silber. [37. Rune]
27. DIE JÜNGERE SCHWESTER DER NORDLANDSTOCHTER
Ilmarinen verfiel jedoch noch einem anderen
Irrtum, der für ihn ebenfalls lehrreich und nützlich war.
In seinem Streben nach der persönlichen und sittlichen Vollkommenheit,
bei dem er, ohne es zu wissen, Aufgaben des Reinigungsweges erneut erfüllte,
fing Ilmarinen an, seltsame Beobachtungen über sein Traumleben zu machen. Wie
es ihm als Brautfahrer ergangen war – obwohl er sich natürlich nicht daran
erinnerte – so begannen auch jetzt seine Träume erstaunlich lebendig und
inhaltsreich und sein Traumbewusstsein klarer zu werden. Außerdem gab es in den
Träumen regelmäßig etwas, was Ilmarinen am meisten überraschte: Zuerst fühlte
er, dass er im Schlaf sich selbst war, genauso wie am Tage; er konnte
Beobachtungen machen, denken, sich beherrschen, Taten durchführen und
Beschlüsse fassen, genauso wie beim Wachen. Und dann bemerkte er allmählich,
dass er, wie am Tage, einen Körper besaß, der zwar nicht sein physischer Körper
war. Diesen seinen schlafenden Körper konnte er nämlich manchmal auch sehen;
doch der neue Körper, den er benutzen konnte, war leicht und so fein, dass er
darin sogar durch die Wände gehen konnte. Dieser Nachtkörper ähnelte seinem
normalen Körper, bis auf die Kleider.
Ilmarinen dachte nicht viel darüber nach, solange er andere Dinge im Sinn
hatte. Er zog nur aus seiner Erfahrung den Schluss, dass wohl die Hexen und
Schamanen in einem solchen feinen Nachtkörper „nach Lappland gingen“, dass sie
wohl einen solchen Bewusstseinsträger benutzten, wenn sie in Trance gerieten.[15]
Doch nachdem Ilmarinen des Strebens nach sittlicher Vorbildlichkeit
überdrüssig geworden war und bemerkt hatte, dass es nichts nützte, wandte er
seine Aufmerksamkeit auf seine nächtlichen Beobachtungen und fing an, darüber
nachzudenken. „Weil es in meinem Wesen solche geheimnisvolle Möglichkeiten
gibt, möchte ich anfangen, sie zu erforschen und zu entwickeln. Auf diesem Weg
werde ich das Leben der Wahrheit, die Ruhe Gottes, finden, nach der ich mich
sehne.“
Die Kalevala erzählt nichts von diesem Zwischenspiel, von diesen
Beobachtungen des Ilmarinen, weil es realistische Erzählungsweise wäre, sondern
will die Wahrheit mit dem Schleier der Sinnbilder verhüllen. Heilige Schriften
sollte man so lesen, dass man weiß, was zwischen den Zeilen weggelassen wurde.
Die Kalevala stürzt sofort mitten in ein neues Abenteuer und fängt an zu
erzählen, wie Ilmarinen versuchte, Lebensinhalt in seinem Innenbewusstsein
durch die „jüngere Schwester“ des Innenbewusstseins, d.h. durch das
Traumbewusstsein zu suchen, anders gesagt, wie Ilmarinen sich auf den Weg nach
Pohjola machte, mit der Absicht, um die jüngere Tochter der Wirtin von Pohjola
zu werben.
Tuop’ on seppo Ilmarinen,
Takoja iän ikuinen
Heitti kultaisen kuvansa,
Hopeisen neitosensa;
Pisti varsan valjahisin,
Ruskean re’en etehen,
Itse istuvi rekehen,
Kohennaikse korjahansa.
Lähteäksensä lupasi
Sekä mietti mennäksensä
Pyytämähän Pohjolasta
Toista Pohjolan tytärtä.
Darauf ließ Schmied Ilmarinen,
Dieser ew’ge Schmiedekünstler,
Bald in Stich das Goldgebilde,
Seine Braut aus blankem Silber;
Spannt das Roß in die Geschirre,
Spannt es vor den braunen Schlitten,
Setzt sich selber in den Schlitten,
Hebt sich auf dem Sitz des Schlittens,
Und gelobt nun fortzuziehen,
Hat die Absicht bei dem Gehen
Nun in Pohjola zu freien
Um des Nordlands zweite Tochter. [38. Rune]
Wie es in der Rune 38 berichtet wird, erinnert sich Ilmarinen jetzt sehr
wohl an seine Heirat mit der Nordlandstochter. Wenn die Wirtin von Pohjola Ilmarinen
sieht, fragt sie zuerst, wie es ihrer Tochter, der Frau des Ilmarinen, „Bei dem
Mann als Schwiegertochter, Bei der Schwäherin als Hausfrau“ geht. Doch lasst
uns erinnern, dass die Kalevala die Ereignisse scheinbar so darstellt, als
wären sie nur in einem Leben des
Ilmarinen geschehen, und deshalb erfordert der ästhetische Gesamteindruck
einiges, was bei einer realistischen Darstellung weggeblieben oder anders
dargestellt wäre. Wir können also in der Rune die Stellen ignorieren, die von
der früheren Frau des Ilmarinen berichten, und bei der Haupthandlung selbst
bleiben.
Wenn Ilmarinen die Wirtin von Pohjola um die Hand ihrer jüngeren Tochter
bittet, lehnt sie ab; und wenn er sich an das Mädchen selbst wendet, singt ein
„Kindlein von dem Boden“:
„Neitonen, sinä sisari,
Elä sulho’on ihastu,
Elä sulhon suun pitohon,
Eläkä jalkoihin jaloihin!
Sulholl’ on suen ikenet,
Revon koukut kormanossa,
Karhun kynnet kainalossa,
Veren juojan veitsi vyöllä,
Jolla päätä piirtelevi,
Selkeä sirettelevi.“
„Mädchen, du, o liebe Schwester,
Freu’ dich nicht ob dieses Freiers,
Nicht ob seines Munds Gestaltung,
Nicht ob seiner edlen Füße!
Hat das Zahnfleisch eines Wolfes,
Hat verborgen Fuchses Klauen,
Bärenkrallen an den Armen,
Blutbegierig ist das Messer,
Womit er die Köpfe ritzet,
Rücken aufzuschlitzen pfleget.“ [38. Rune]
Die Jungfrau selbst antwortet Ilmarinen:
„En lähe minä sinulle,
Enkä huoli huitukoille…
Onpa tässä neitosessa
Paremmanki miehen verta,
Kaunihimman varren kauppa,
Korkeamman korjan täysi,
Paikoille paremmillenki,
Isommille istuimille,
Ei sepon sysi sioille,
Miehen tuhmaisen tulille.“
„Werde dir gewiß nicht folgen,
Nicht beacht’ ich solche Wichte…
Wohl verdienet dieses Mädchen
Einen Mann von besserm Werthe,
Einen Leib von schönerm Wuchse,
Daß sie fahr’ in hübscherm Schlitten
Hin zu einem bessern Sitze,
Hin zu einer größern Wohnung,
Nicht zur Kohlenstätt’ des Schmiedes,
Zu des dummen Mannes Feuer.“ [38. Rune]
Doch Ilmarinen lässt nicht locker. Da er sich sonst nicht zu helfen weiß,
greift er zur Gewalt:
Saa’utti tytön samassa,
Käärälti käpälihinsä,
Läksi tuiskuna tuvasta,
Riepsahti rekensä luoksi,
Työnnälti tytön rekehen,
Koksahutti korjahansa,
Läksi kohta kulkemahan,
Valmistui vaeltamahan,
Käsi ohjassa orosen,
Toinen neien nännisillä.
Schreitet rasch, erreicht das Mädchen,
Fasset sie mit seinen Fäusten,
Gehet stürmend aus der Stube,
Stürzet eilends zu dem Schlitten,
Setzt die Jungfrau in den Schlitten,
Schleudert sie dahin zum Sitze,
Macht sich auf davon zu fahren,
Schickt sich an davon zu reisen,
Eine Hand hat er am Leitseil,
An der Mädchens Brust die andre. [38. Rune]
Diese Gewalttat bringt Ilmarinen jedoch keine Freude. Das Mädchen weint
und klagt, schimpft und flucht während der ganzen Fahrt, und Ilmarinen muss
sich wirklich anstrengen, um die Schmähworte des Mädchens ruhig zu beantworten.
Wenn sie in der Nacht ins Dorf kommen, ist der Mann müde und sinkt in einen
tiefen Schlaf; und während er schläft:
Toinen naista naurattavi
Mieheltä unekkahalta.
Lachen macht das Weib ein andrer
Ob des Mannes, der verschlafen. [38. Rune]
Wenn Ilmarinen am Morgen aufwacht, sieht er, dass ihre Braut untreu
gewesen ist. Weil er sie auch selber noch nicht besessen hatte, wird er auf so
ein „garstiges Weib“, böse und singt die Braut zu einer Möwe, die nun „auf des Wassers
Klippen lärmt“. Selber fährt er betrübt und traurig in seine Heimat zurück.
In all ihrem scheinbaren und eindrucksvollen Realismus ist dies eine
treffende Darstellung der psychischen Anstrengungen des Ilmarinen.
Wenn er auf dem psychischen Weg, den ihm das Traumbewusstsein gewiesen
hat, beginnt, die in seinem Körper schlummernden geheimnisvollen Fähigkeiten
und Kräfte zu erwecken, gibt er sich einem Spiel hin, vor dem die Weisen die
Menschenkinder immer gewarnt haben. Ilmarinen ist ‒ wie das „Kindlein von dem
Boden“ singt ‒ in dieser Hinsicht noch wie ein Bär; er hat weder die Vernunft
noch das Wissen, um jene neuen Kräfte beherrschen zu können. Und ohne eine
menschliche, weise Führung sind die psychischen Fähigkeiten wirklich wie die
jüngere Nordlandstochter; böse, eigenmächtig und trügerisch. Sie versprechen
viel: „Wir heißen Klar- und Weitsichtigkeit, Gewalt über Naturkräfte und
Menschen; wir führen dich zu den heimlichen Zusammentreffen mit Göttern und
geben dir alles, was du auf Erden begehrst.“ Doch wenn der Mensch sie nicht
beherrschen kann, führen sie ihn zum Untergang.
Ilmarinen erweckt in seinem physischen Körper z.B. den hellseherischen
und hellhörigen Sinn. Dieser äußert sich folgendermaßen: Vor ihm öffnet sich
die Unterwelt, in der die Verstorbenen sehnsuchtsvoll oder Schmerzen leidend
ihr Dasein fristen; diese stürzen nun alle auf ihn zu und bitten um seine
Hilfe; der eine hat irgendetwas auf Erden zu erledigen und bittet Ilmarinen um
Hilfe; der andere möchte noch körperliche Freuden erleben und kniet sich vor
Ilmarinen, damit er ihm auch nur für einen Augenblick seinen Körper zur
Verfügung stelle; jemand hat es schwer in der Unterwelt und bittet, dass
Ilmarinen ihm helfen würde, von dort wegzukommen. Den ganzen Tag lang sammeln
sich Unglückliche um ihn herum und geben ihm keine Ruhe. Sein Herz ist voller
Mitgefühl und er versucht, den Armen zu helfen, muss aber bald einsehen, dass
es unmöglich ist: erstens wegen der großen Anzahl der Hilfesuchenden, zweitens
deshalb, weil sein eigenes Gerechtigkeitsgefühl mit den Forderungen der
Leidenden oft in Konflikt gerät. Und wenn er ihnen nicht hilft, kommt es öfters
vor, dass sie ihn verfluchen und versuchen, ihn in mancherlei Weise zu belästigen!
„Wo bin ich bloß hingekommen“, fragt er sich, „sicherlich zum Teufel! Was
muss ich tun!“ Und dann versteht er, dass der Fehler in seiner eigenen
hellseherischen Fähigkeit liegt. Er versucht, sich mit der ganzen Kraft seiner
Seele davon zu befreien, sie von sich weg zu zaubern – und es gelingt ihm auch.
Ilmarinen kann die Fähigkeiten, die er selbst erweckt hat, nicht
beherrschen, befreit sich aber aus deren Fängen. Weshalb? Auf Grund seines
inneren Wahrheits- und Gerechtigkeitssinns. Diesen inneren Sinn hat ihm seine
Einweihung als eingeborenes Erbe hinterlassen. Ilmarinen rettet sich und
vermeidet die „Gefahr des Psychismus“ auf Grund dessen, dass er früher eine
große spirituelle Einweihung erlebt hat, die den Geist der Liebe in sein Herz
eingepflanzt hat. Wie anders ergeht es machen, die ohne den Hintergrund dieser
geistigen Erfahrung versuchen, übersinnliche Kräfte in sich zu erwecken![16]
lmarinen, dessen Seele der Liebe
eingeweiht ist, kann nicht vom Bösen überwältigt werden. Er kann sich irren,
und auch diese Erfahrung ist bitter, aber zur Stunde der Not wird er durch
seine Intuition gerettet. „Soll ich euch töten?“ denkt er zuerst, nachdem er
seine Augen geöffnet hat. „Nein“, antwortet er zu sich selbst, „mit dem Schwert
der Wahrheit keine Gewalt. Ich werde euch nur aus meinem Bewusstsein und
Gedächtnis hinaussingen“ (38: 262‒286). Er lässt die Verlockungen des Traumbewusstseins
und kehrt in sein altbekanntes Wachbewusstsein zurück.
Auf dem Heimweg kommt ihm Väinämöinen entgegen und fragt ihn mit feiner
Ironie:
„Veli seppo Ilmarinen!
Minne heitit naisen nuoren,
Kunne kuulun morsiamen,
Kun sa tyhjänä tuletki,
Aina naisetta ajelet?“
„Bruder, du Schmied Ilmarinen!
Wo hast du dein Weib gelassen,
Wo die weitberühmte Jungfrau,
Daß du also leer erschienen,
Ohne Weib kommst angefahren?“ [38. Rune]
Doch Ilmarinen antwortet verärgert, dass er das „garstige Weib“ zu einer
Möwe gesungen hat, die jetzt „auf des Wassers Klippen lärmt“.
Und nun ist es, als würden wir zwischen den Zeilen auch etwas anderes
lesen. Väinämöinen, der Weise, der Meister, kommt endlich zu der kämpfenden
Seele und spricht zu ihr, nicht mit Spott, sondern mitfühlend: „Oh, du Seele,
glaubst du immer noch, dass du allein wanderst? Kannst du nicht endlich die
Augen aufmachen und sehen, dass die richtige Nordlandstochter bereits dein
eigen ist? Kannst du dich nicht erinnern, dass du in Pohjola deine Hochzeit
gefeiert hast? Weißt du nicht, dass du mit deinem höheren Selbst bereits eins
bist? Siehe: du warst ja schon in Pohjola, du hast ja bereits den Sampo geschmiedet!“
Und Väinämöinen fragt Ilmarinen:
„Veli seppo
Ilmarinen,
Mit’ olet pahoilla mielin,
Kahta kallella kypärin
Pohjolasta tullessasi?
Miten Pohjola elävi?“
„Bruder, du Schmied Ilmarinen,
Weßhalb bist du trüber Stimmung,
Hast die Mütze schief geschoben
Bei der Rückkehr aus Pohjola?
Wie denn lebet jetzt Pohjola?“ [38. Rune]
In Ilmarinen erwachen die Erinnerungen, und er antwortet: „Tatsächlich,
in der geheimen Welt meines Innenbewusstseins ist alles gut, denn die
Erkenntnis der Wahrheit liegt darin verborgen, nicht im Psychismus des
Traumbewusstseins.“ ‒ Mit den Worten der Kalevala:
„Mi on Pohjolan eleä!
Siell’ on Sampo jauhamassa,
Kirjokansi kallumassa:
Päivän jauhoi syötäviä,
Päivän toisen myötäviä,
Kolmannen kotipitoja.
Jotta sanon, kun sanonki,
Vielä kerta kertaelen:
Mi on Pohjolan eleä,
Kun on Sampo Pohjolassa!
Siin’ on kyntö, siinä kylvö,
Siinä kasvo kaikenlainen,
Siinäpä ikuinen onni.“
„Wie sollt’ Pohjola nicht leben?
Dorten mahlt der Sampo fleißig,
Lärmet stets der bunte Deckel,
Mahlet einen Tag zum Essen,
Mahlt den zweiten zum Verkaufen,
Mahlt den dritten guten Vorrath.
Also sage ich mit Wahrheit,
Wiederhole ich die Worte:
Wie das Leben in Pohjola,
Wenn der Sampo in Pohjola!
Dort ist Pflügen, dort ist Säen,
Dort ist Wachsthum jeder Weise,
Dorten wechsellose Wohlfahrt.“
„Also“, sagt Väinämöinen dazu, „verstehst du denn nicht, lieber Bruder
Ilmarinen, dass nun der Sampo aus Pohjola geholt werden muss! Als du
versuchtest, deine psychischen Fähigkeiten zu erwecken, war deine Absicht
richtig, aber deine Methode falsch. Der Sampo muss nicht aus dem Traum- sondern
aus dem Innenbewusstsein geholt werden, und nicht mit Hilfe des wachen
Traumbewusstseins, sondern des geheimen!“
Und er sagt Ilmarinen:
„Ohoh seppo Ilmarinen,
Lähtekämme Pohjolahan
Hyvän sammon saa’antahan,
Kirjokannen katsantahan!“
„O du Schmieder Ilmarinen,
Laß uns nach Pohjola gehen,
Daß den Sampo wir gewinnen,
Wir den bunten Deckel schauen!“ [39. Rune]
Das heißt: Jetzt muss das Innenbewusstsein und die geheime, unsichtbare
Welt erforscht werden. Das tiefe Lebensgesetz der sichtbaren Welt hat Ilmarinen
bereits gefunden, doch die unsichtbare Welt liegt noch unerforscht vor ihm. Und
in der unsichtbaren Welt allein liegt der Sampo, das Geheimnis des Wissens und
der Macht.
28. DAS SCHWERT DES GEISTES
Ilmarinen ist mit dem Vorschlag des
Väinämöinen zwar innerlich einverstanden, bemerkt aber zugleich, wie schwierig
die Reise sein wird:
„Ei ole sampo saatavana,
Kirjokansi tuotavana
Pimeästä Pohjolasta,
Summasta Sariolasta;
Siell’ on sampo saatettuna,
Kirjokansi kannettuna
Pohjolan kivimäkehen,
Vaaran vaskisen sisähän,
Yheksän lukon ta’aksi;
Siihen juuret juurruteltu
Yheksän sylen syvähän,
Yksi juuri maa emähän,
Toinen vesiviertehesen,
Kolmas on kotimäkehen.“
„Nicht zu fassen ist der Sampo,
Schwer der Deckel herzuholen
Aus dem nimmerhellen Nordland,
Aus dem düstern Sariola;
Fortgeführet ist der Sampo,
Dort der Deckel fortgetragen
In den Steinberg von Pohjola,
Innerhalb des Kupferberges,
Hinter einer Neunzahl Schlösser;
Wurzel sind ihm dort geschossen,
Neun der Klafter in die Tiefe,
Eine Wurzel in die Erde,
In dem Wasserfall die zweite,
In des Hauses Berg die dritte.“ [39. Rune]
Wenn Väinämöinen darauf antwortet, „bauen wir ein Schiff voll Größe, Um
den Sampo aufzunehmen“, zeigt sich, dass Ilmarinen gern mitfahren möchte, schlägt
aber vor, die Reise über Land zu machen: „Sichrer ist der Weg zu Lande, Lempo
ziehe auf dem Meere.“ Etwas wiederwillig willigt Väinämöinen darauf ein.
„Kun et mieline merisin,
Niin on maisin matkatkamme,
Rantaisin ratustelkamme!“
”Hast du keine Lust zu Wasser,
Wollen wir zu Lande reisen,
An dem Strande vorwärts schreiten!“ [39. Rune]
Doch zugleich bittet er Ilmarinen: „Schmiede mir nun eine Klinge, Mach’
ein neues Schwert voll Feuer.“ Ilmarinen macht sich sofort an die Arbeit und
aus Eisen, Stahl, Gold und Silber
Takoi miekan mieltä myöten,
Kalvan kaikkien parahan,
Jonka kullalla kuvasi,
Hopealla huolitteli.
Schmiedet nun ein Schwert nach Wunsch sich,
Eine Klinge, die die beste,
Ziert’ sie aus mit gutem Golde,
Schmückte sie mit schönem Silber. [39. Rune]
Väinämöinen schaut prüfend auf das neue Schwert, wendet es nach allen
Seiten und fragt: „Paßt das Schwert auch zu dem Manne, Paßt die Klinge zu dem
Träger?“ (39: 93‒100) und sieht, dass dem so ist:
Olipa miekka miestä myöten,
Kalpa kantajan mukahan,
Jonka kuu kärestä paistoi,
Päivä paistoi lappeasta,
Tähet västistä välötti,
Hevonen terällä hirnui,
Kasi naukui naulan päässä,
Penu putkessa puhusi.
Paßte wohl das Schwert zum Manne,
Zu dem Träger wohl die Klinge,
An der Spitze strahlt das Mondlicht,
Auf der Fläche scheint die Sonne,
Sterne schimmerten am Griffe,
An der Schneid’ ein Rößlein wiehert,
Auf dem Knopfe sitzt ein Kätzlein,
Auf der Scheide bellt ein Hündlein. [39. Rune]
Väinämöinen ist zufrieden und
Sylkytteli miekkoansa
Vuoren rautaisen raossa,
Itse tuon sanoiksi virkki:
„Jo minä terällä tällä
Vaikka vuoret poikki löisin,
Kalliot kaha jakaisin.“
Ziehet hin und her die Klinge
In des Eisenberges Spalten,
Selber spricht er diese Worte:
„Möchte schon mit dieser Schneide
Feste Berge bald durchhauen,
Felsen bald zur Hälfte spalten.“ [39. Rune]
Vor dem Antritt der Reise kleidet sich Ilmarinen noch in „Harnisch und
Stahlgurt“.
Es ist nicht schwer zu verstehen, was diese Stahlausrüstung und vor allem
das feurige Schwert ist. Paulus sagt in seinem Brief an die Epheser: „Greift
darum zu den Waffen Gottes, damit ihr standhalten könnt, wenn der böse Tag
kommt, und dann, wenn ihr alles erledigt habt, noch steht! ... Setzt auch den
Helm des Heils auf und nehmt das Schwert des Geistes, das Wort Gottes, in die
Hand! (Eph 6: 13, 17).
Das feurige Schwert des Väinämöinen ist die Waffe der Wahrheit und des
wahren Glaubens: eine klare Vorstellung von der bevorstehenden Aufgabe und der
feste Glaube daran. Diese Vorstellung schafft sich Ilmarinen aus den Lehren
anderer Eigeweihten, und auch wir müssen hier eine Zwischenbemerkung einschieben.
Wir werden uns mit größeren Errungenschaften der mystischen Psychologie
befassen müssen und möchten ‒ so bescheiden wie unsere Kenntnisse auch sind ‒
dass der Leser aus dem Folgenden auch nur eine Ahnung von der merkwürdigen
Erkenntnis und Weisheit der Kalevala auch in diesen Dingen bekommen könnte.
Für Ilmarinen, den Wahrheitssuchenden, beginnt jetzt der eigentliche Weg
der Erkenntnis. Aus ihm wird jetzt ein „Sampofahrer“ oder „Sampoer“, während
er vor der Hochzeit von Pohjola ein „Brautfahrer“ war. Als Brautfahrer reinigte
er seine eigene Persönlichkeit und wurde so zum geeigneten Bräutigam für die
Nordlandstochter. Seine Arbeit war geistig gesehen negativ und passiv, von
„weiblicher Natur“, wie wir vielleicht sagen könnten, während er jetzt, als
Sampofahrer, eine aus geistiger Sicht durchaus „männliche“, aktive und positive
Lebensaufgabe hat. Wir haben bereits gesehen, wie bei den Vorbereitungen – dem
„Schmieden der goldenen Jungfrau“ und der „Werbung um die jüngere
Nordlandstochter“ – tatkräftige Aktivität vorausgesetzt wurde, selbst wenn auch
sie noch eher von reinigender Natur waren.
Was ist nun die wahre Aufgabe des Wahrheitssuchenden? Sie besteht darin,
wie bereits gesagt, sich aus seinem eigenen vergänglichen Körper ein
unsterbliches Werkzeug zur Schaffung der Erkenntnis und Macht zu bauen, ein
Werkzeug, in das das Bewusstsein Gottes, des Logos, hinuntersteigen kann, wann
immer es für die Rettung der Menschheit erforderlich ist. Ein Eingeweihter
arbeitet nämlich nicht für persönliche Zwecke, er tut nichts zu seinem eigenen
Nutzen. Sein Beweggrund ist seine tiefe und unüberwindliche Liebe zur Wahrheit,
zu Gott, zur Menschheit, und er lässt sich zuerst, wie Ilmarinen, von dieser
Liebe getrieben hin und her irren, bis ihm klar wird, was eigentlich zu tun
ist. Wenn er nun anfängt, aus sich selbst ein unsterbliches Werkzeug zu bauen,
hat er vor seinen Augen das Ziel, dass das Bewusstsein des Logos, die heilige
Weisheit des Universums, ihn und sein Wesen zum Zweck seines göttlichen Willens
frei benutzen könnte – selbst wenn nicht sofort am Anfang, doch irgendwann,
wenn die Zeit gekommen wäre.
Diese große Arbeit hätte er vor seiner Einweihung nicht auf sich nehmen
können. Vor der Einweihung hat er kein selbstbewusstes Selbst, das vom Leben
des physischen Körpers unabhängig wäre; sein persönliches Ich ist, wie auch der
Körper, sterblich. Wie könnte also ein Sterblicher Unsterbliches schaffen? Bei
der Einweihung personifiziert sich sein unsterbliches Selbst, und er befindet
sich nun in seinem wahren Selbstbewusstsein über seinem physischen Körper und ist
unabhängig davon. Obwohl er in der neuen Inkarnation in seinem Wachbewusstsein
von seiner inneren Errungenschaft nichts weiß, dauert diese Unwissenheit nur so
lange, wie es für ihn notwendig ist, aus seinen Fehlern zu lernen; ist die
Lehre gezogen, stellt sich die innere Sicherheit und Harmonie wieder ein. Und
dann beginnt für ihn die Bauarbeit: Von innen und oben her muss er aus seinem
Körper ein Zauberwerkzeug bauen, das vom Tod unberührt bleibt.
Was ist dieses Bauen? Ist es vielleicht Verwandeln des vergänglichen und
sterblichen physischen Körpers – mittels gewisser Zauberkünste – zu einem
unsterblichen Körper? Nein, es ist Schaffung des Unvergänglichen mittels des
Körpers: Es ist, wie die Kalevala sagt, Herausholen des Sampo aus dem geheimen
Versteck des Körpers.
An dieser Stelle kommen wir auch endlich zu der okkultistisch-psychophysiologischen
Bedeutung des Wortes Sampo: Der Sampo ist der neue, unsterbliche Zauberkörper,
den der Eingeweihte sich mit Hilfe seines Körpers schafft. Und in diesem Zusammenhang
möchten wir unsere Leser an die folgenden Worte des Paulus erinnern, damit sie
nicht meinen, dass wir Unsinn reden: „Denn dieser verwesliche Körper hier muss
Unverweslichkeit anziehen, dieses Sterbliche Unsterblichkeit. Wenn das
geschieht, wenn das Vergängliche Unvergänglichkeit und das Sterbliche
Unsterblichkeit anziehen wird, dann werden sich die Schriftworte der Propheten
erfüllen: ‚Der Tod ist verschlungen vom Sieg.’ Tod, wo ist denn dein Sieg? Tod,
wo bleibt dein Stachel?“[17] Paulus
nennt den Sampo-Körper den „himmlischen“ Körper und den „dem Geist
entsprechenden“ Körper, wie aus dem folgenden Auszug aus demselben Brief hervorgeht:
„Dann gibt es himmlische und irdische Körper. Die Himmelskörper haben eine
andere Schönheit als die Körper auf der Erde. Der Glanz der Sonne ist anders
als der des Mondes und der von den Sternen. Auch die Sterne selbst
unterscheiden sich in ihrer Helligkeit. So ähnlich könnt ihr euch die
Auferstehung von den Toten vorstellen: Was in die Erde gelegt wird, ist vergänglich,
was auferweckt wird, unvergänglich. Was in die Erde gelegt wird, ist armselig,
was auferweckt wird, voll Herrlichkeit. Was in die Erde gelegt wird, ist
hinfällig, was auferweckt wird, voller Kraft. Wenn es einen natürlichen Leib,
einen der Seele entsprechenden Körper gibt, muss es auch einen himmlischen
Leib, einen dem Geist entsprechenden Körper geben.“[18] Und
weiter: „Doch das Geistliche war nicht zuerst da. Zuerst kam das von der Seele
bestimmte Leben und dann erst das vom Geist bestimmte. Der erste Mensch stammt
von der Erde, vom Staub, der zweite Mensch vom Himmel. Wie der Irdische beschaffen
war, so sind auch die irdischen Menschen beschaffen; und wie der Himmlische
beschaffen ist, so werden auch die himmlischen Menschen beschaffen sein. Und
so, wie wir jetzt dem gleichen, der von Erde genommen wurde, werden wir künftig
dem gleichen, der vom Himmel ist.“[19] Und um
gleichsam zu zeigen, dass er hier nicht von der körperlichen Auferstehung
(Reinkarnation) gesprochen hat, sondern von der geistigen Wiedergeburt, fügt
Paulus flüsternd hinzu: „Hört zu! Ich sage euch jetzt ein Geheimnis: Wir werden
nicht alle sterben, wir werden aber alle verwandelt werden.“[20]
Der himmlische Zauberkörper, der Sampo, wird auch der „Sonnenkörper“ oder
„der bunte Deckel“ genannt, weil er, in vervollkommneter Gestalt, wie die Sonne
strahlt und mit dem Auge des Weisen gesehen wie ein herrlich leuchtender Strahlenkranz
(Aura) aussieht, in dessen Mitte die
wunderbare Gestalt des vollkommenen Menschen, der „Herr aus dem Himmel“, Augoeides, strahlt, wie es in der
Philosophie der in die Mysterien eingeweihten griechischen Philosophen hieß.[21]
Beim Bauen dieses Körpers unterscheidet man verschiedene Zyklen mit
jeweils entsprechenden Errungenschaften, die in der modernen theosophischen
Literatur „Einweihungen“ genannt werden; man spricht von der ersten, zweiten,
dritten usw. Einweihung und erklärt, welche Fähigkeiten und Kenntnisse dabei
jeweils gewonnen werden. Die Bezeichnungen und Einteilungen sind, je nach dem
System, unterschiedlich, doch im Wesentlichen sind natürlich das Ziel und somit
auch der Weg die gleichen.
Im altfinnischen System wurden auf der Wallfahrt der Menschenseele zwei
Hauptziele genannt; das eine war die Hochzeit in Pohjola, die die lange
Wanderung des Brautfahrers beendete, das andere die Erreichung des Sampo, die
das Endziel der beschwerlichen Reise des Sampofahrers war. Doch wie der
Brautfahrer mehrere Aufgaben erledigen musste, so werden auch dem Sampofahrer
mehrere Bedingungen gestellt, die er erfüllen muss, bevor es ihm gelingt, sich
den Sampo zu beschaffen. Die Kalevala erzählt davon ausführlich.
Sie sind, wie bereits gesagt, verschiedene Zyklen bei der Schaffung des
himmlischen Körpers, verschiedene Wegstrecken auf dem langen Weg nach Pohjola.
In der Kalevala werden vier davon genannt: 1) das Boot Rudern, 2) das Kantele
Spielen, 3) den Sampo Nehmen und 4) der letzte Kampf, bei dem der Sampo in
Stücke zerfällt. Beim Boot Rudern wird der Sonnenkörper so weit gestaltet, dass
daraus ein sogenannter „Wasserkörper“ entsteht, beim Kantele Spielen wird er zu
einem „Luftkörper“ verfeinert und beim Sampo Nehmen wird daraus ein „Feuerkörper“,
der beim letzten Kampf seine Kraft gleich der Sonne in die Welt ausstrahlt.[22]
Bei jedem einzelnen Punkt weist die Kalevala auf das einer guten
Errungenschaft entsprechende Böse hin: Das Boot Rudern lehrt Ilmarinen
endgültig die Lektion der Mediumschaft, die er bei der Werbung um die jüngere
Nordlandstochter zu lernen begann; das Kantele Spielen erklärt ihm den
Unterschied zwischen der richtigen und der falschen Macht, das Sampo Nehmen den
Unterschied zwischen der guten und der falschen Zauberei, und der letzte Kampf
macht ihm den Unterschied zwischen der menschlichen Selbstgerechtigkeit und der
göttlichen Aufopferung klar.
Vielleicht werden diese auf den ersten Blick so schwer erscheinenden
Dinge etwas verständlicher, wenn wir sie demnächst einzeln erklären werden.
Eines müssen wir nun beachten. Obwohl an der Sampofahrt die Haupthelden der
Kalevala, Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen, teilnehmen, stehen sie ‒
psychologisch interpretiert ‒ nicht für unterschiedliche Personen. Der eine –
Ilmarinen – ist der eingeweihte Wahrheitssuchende. Väinämöinen und Lemminkäinen
stehen für verschiedene Eigenschaften des Ilmarinen selbst. Väinämöinen ist
allerdings der Meister der Weisheit, doch er ist zugleich der Wille und die
innerste göttliche Stimme, das Gewissen, durch das übrigens auch der Meister
spricht. Lemminkäinen wiederum ist Ilmarinens Gefühl der inneren Liebe und
Glückseligkeit, das er bei der Einweihung gewann, also gewissermaßen die
Nordlandstochter in einer neuen Gestalt.
29. DIE BOOTSREISE
Zuerst willigt Väinämöinen in den Wunsch
Ilmarinens, nach Pohjola auf dem Landwege zu gehen, ein. „Weil du die Sache
noch nicht verstehst, lasst uns über Land gehen.“ Und sie „drückten an den Kopf
die Riemen, An des Rosses Maul die Zügel; Rasselnd fuhren sie des Weges, Beide
an dem Meeresufer“ (39: 127‒146).
Den Grund, warum Ilmarinen dem Meer gegenüber skeptisch ist und über Land
gehen möchte, können wir gut verstehen. Er hat bereits vor kurzem mit Hilfe des
Traumbewusstseins Reisen nach Pohjola, in die geheime Welt seines
Innenbewusstseins, gemacht, die ihm nur Kummer und Ärger bereitet haben (Werbung
um die jüngere Nordlandstochter). Die Reise hat er jedoch ‒ in dem Sinne, dass
er das wachbewusste Ich seines physischen „irdischen Körpers“ beibehalten hat ‒
„über Land“ gemacht. Jetzt hingegen versteht er, was Väinämöinen mit der
„Seereise“ meint, nämlich, dass man, anstatt des Wachbewusstseins, das gefährliche
Traumbewusstsein anwenden sollte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass
Ilmarinen zuerst zögert.[23]
Kurz nach dem Antritt der Reise sehen sie ein Boot: „War ein Boot, das
dorten weinte, Voller Klagen war’s ein Nachen.“ Wenn Väinämöinen nach dem Grund
zur Trauer fragt, antwortet das Boot:
„Muut purret, pahatki purret,
Ne aina sotia käyvät…
Minä veistämä venonen,
Satalauta laaittama
Tässä lahon lastuillani,
Venyn veistännäisilläni.“
„Andre Böte, selbst die schlechten,
Ziehen immer fort zum Kampfe…
Ich ein Boot, das gut gezimmert,
Das ich hundert Bretter habe,
Faule hier auf meinen Spänen,
Liege auf dem Zimmerplatze.” [39. Rune]
Väinämöinen hält nun die Szene für einen Wink des Schicksals und sagt
tröstend:
„Elä itke, puinen pursi,
Vene hankava havise,
Kohta saat sotia käyä,
Tappeloita tallustella!
Lienet pursi luojan luoma,
Luojan luoma, tuojan tuoma.“
„Weine nicht, du Plankennachen,
Nicht, o Boot mit Ruderhaken,
Bald sollst du zum Kriege ziehen,
Zu dem muntern Kampfe schreiten!
Bist, o Boot, du von dem Schöpfer,
Bist vom Schöpfer du geschaffen.” [39. Rune]
Und nach einer Befragung, wobei es sich herausstellt, dass dieses Boot
nicht merkwürdiger ist als die anderen,
Heitti hiekalle hevoisen,
Painoi puuhun marhaminnan,
Ohjat oksalle ojenti,
Lykkäsi venon vesille,
Lauloi purren lainehille.
Ließ der alte Wäinämöinen
Nun sein Roß dort auf dem Sande,
Hing an einen Baum die Halfter,
Band die Zügel dort an Zweige,
Stieß den Nachen in das Wasser,
Sang das Boot hin auf die Fluthen. [39. Rune]
Mit dieser Episode will die Kalevala zeigen, wie das Erwachen ist, das
sich im Bewusstsein des Ilmarinen vollzog; wie sich seine Vorstellung von der
Beschaffung des Sampo ändert und sich erweitert und wie auch die Traumwelt für
ihn in einem neuen Licht erscheint.
Das Klagelied des Bootes ist wie die Stimme der erwachenden Erinnerung in
seiner Seele, die zu ihm spricht: „Vertraust du mir nicht mehr? Ich bin ja viel
älter als dein Wachbewusstsein. Dein Wachbewusstsein wurde dir gegeben, als du
zuletzt auf Erden geboren wurdest, mich hingegen bekamst du auf der Hochzeit in
Pohjola. Erinnerst du dich nicht, dass du mit der wunderschönen
Nordlandstochter verheiratet bist? Erinnerst du dich nicht, dass ihr, deine
Frau und du, in mir eins wart? Erinnerst du dich nicht, dass dein
Wachbewusstsein, als du mit der Nordlandstochter eins wurdest, wuchs und sich
gleichsam von der Erde bis zum Himmel erweiterte? Wo befand sich damals dein
Bewusstsein, mit wessen Hilfe funktionierte es? Wohl gerade mit meiner Hilfe!
Du bewahrtest damals in deinem Gehirn das Bewusstsein, das du in mir hattest;
weil du jetzt ein neues Gehirn hast, hast du es vergessen. Lass doch deine Erinnerung
zum neuen Leben aufwachen! Alle, die jemals die Nordlandstochter bekommen haben
und in den Krieg für den Sampo ziehen, benutzen Boote, solche wie ich. Ich bin
doch nicht merkwürdiger als die anderen.“
Langsam wird es Ilmarinen klar, dass er doch nicht, wie früher, das
gefährliche Traumbewusstsein zu Hilfe rufen muss. Das Bewusstsein und der
Bewusstseinsträger, den er benutzen kann, stammen zwar aus dem
Traumbewusstsein, aber das an sich ist nicht gefährlich. Die Gefahr lag darin,
dass er sein Wachbewusstsein ins Traumbewusstsein versetzen wollte, während
hingegen das größere Bewusstsein des Traumbewusstseins im Wachbewusstsein
langsam erwachen soll.
Ilmarinen beginnt sich zu erinnern, welch ein großes geistiges Erlebnis
er in der Vergangenheit durchgemacht hat, und in ihm erwacht wie ein neues
Vertrauen auf seine eigenen Kräfte. Er muss keine Angst haben, dass er, wenn er
sich seinem eigenen geheimen Innenbewusstsein hingibt, sein Bewusstsein verlieren
würde. Hinter dem Wachbewusstsein klafft keine tiefe Kluft, kein leeres und
bodenloses Universum, sondern ein erweitertes Bewusstsein, ein größeres und tieferes
Wissen, das ihm bereits bekannt ist.
Und Ilmarinen versteht, dass man den Sampo mit anderen Mitteln auch nicht
suchen kann. Das Wachbewusstsein, allein gelassen, kann ihn aus eigener Kraft
nicht bauen. Der Sonnenkörper muss von innen und oben her gebaut werden; dessen
Samen, der gleichsam von alleine wächst und gedeiht, muss bereits vorhanden
sein. Und den Samen hat das Leben gegeben, als der Mensch zum Menschen geboren
wurde. Doch dieses Samens wurde sich der Mensch erst bei der Einweihung bewusst.
Jetzt sträubt sich Ilmarinen nicht mehr gegen seine innerste Stimme, in
der die Weisheit des Väinämöinen spricht. Lasst uns das Boot ins Wasser
schieben und es für die Reise ausrüsten. Jetzt gesellt sich auch Lemminkäinen
zu den Reisenden.
Siitä vanha Väinämöinen
Lauloa hyrähtelevi;
Lauloi ensin laitapuolen
Sukapäitä sulhosia,
Sukapäitä, piipioja,
Saapasjalkoja jaloja;
Lauloi toisen laitapuolen
Tinapäitä tyttäriä,
Tinapäitä vaskivöitä,
Kultasormia somia.
Lauloi vielä Väinämöinen
Teljot täytehen väkeä,
Ne on vanhoa väkeä,
I’än kaiken istunutta,
Kuss’ oli vähän sioa
Nuorukaisilta esinnä.
Fing der alte Wäinämöinen
Darauf leise an zu singen,
Sang auf eine Seit’ des Bootes
Jünglinge mit schönen Haaren,
Schönen Haaren, starken Fäusten,
Krafterfüllte Stiefelträger;
Sang zur andern Seit’ des Bootes
Mädchen zinngeschmückt am Haupte,
Zinngeschmückt mit Kupfergürtel,
Schöngeziert mit goldnen Ringen.
Wäinämöinen singet ferner
Voll die Bretter da mit Männern,
Voll mit lauter alten Leuten,
Die ihr Leben lang gesessen,
Singt sie hin wo wenig Platz war,
Da die Jungen früher kamen. [39. Rune]
Daran sieht man, um welch ein wunderbares Boot und um welch eine
wunderbare Reise es sich handelt. Väinämöinen singt das Boot voll von Volk; es
handelt sich aber nicht um gewöhnliche Menschen, die von woanders gekommen
wären, sondern um Wesen, die zum Vorschein verzaubert wurden ‒ was man auch
daran sieht, dass sie das Boot nicht bewegen können. Väinämöinen
setzt sich nach hinten und
Pani sulhot soutamahan,
Neiet ilman istumahan;
Sulhot souti, airot notkui,
Eipä matka eistykänä.
Ließ die Jünglinge dann rudern,
Ließ die Mädchen stille sitzen;
Emsig rudern zwar die Jungen,
Doch der Weg will nicht entschwinden. [39. Rune]
Ebenso erging es den Mädchen und den Alten. Als sie ruderten, wollte der
Weg nicht entschwinden (39: 303‒310). Erst wenn Ilmarinen anfängt zu
rudern,
Jopa juoksi puinen pursi,
Pursi juoksi, matka joutui,
Loitos kuului airon loiske,
Kauas hankojen hamina.
Da erst lief das Boot von Planken,
Lief das Boot, der Weg entschwindet,
Weithin tönt der Schlag der Ruder,
Weit der Ruderhaken Kreischen. [39. Rune]
So erzählt die Kalevala, wie Ilmarinen sich an die Benutzung seines neuen
Bewusstseinsträgers, des ersten Gebildes des Sampo, des sog. Wasserkörpers,
gewöhnte. Und die Worte der Rune beweisen dem Kenner dieser Dinge, um was es
sich handelt. Schon die Bezeichnung „Boot“ weist darauf hin, dass es sich um
die Traumwelt der Gefühle handelt, deren allgemein bekanntes Symbol das
„Wasser“ ist.[24] Der
Wasserkörper setzt sich aus Gefühlen zusammen, er wurde aus der Kraft der Liebe
geschaffen. Doch weshalb wurde zu dessen Symbol das Boot gewählt? Wäre nicht
ein Lebewesen besser gewesen, zum Beispiel das Pferd, das schwimmen kann? Als
von den Aufgaben die Rede war, stand Hiisis Ross (der Bär von Tuonela) für das
Rauschen der Gefühle. Und auch Plato sagt ja, dass der Mensch als Vernunftwesen
der Reiter ist und seine Gefühle und Leidenschaften der Ross, den er lenkt. Ja,
so ist es, aber das Symbol der Kalevala zeigt auf eine feine Weise, dass es
sich nicht mehr um die Gefühlsnatur des gewöhnlichen Menschen handelt, das noch
wie ein Tier seinen eigenen Willen haben kann. Es geht hier um das gereinigte
Gefühlsleben des Eingeweihten, dessen Selbstsucht gestorben ist und das man
besser mit einem „leblosen Gegenstand“, einem Boot, vergleichen kann, das bedingungslos
seinem Besitzer dient und gehorcht.
Der beste Beweis jedoch dafür, dass die Kalevala von einem okkulten
Bewusstseinsträger spricht, ist die Vielzahl menschenähnlicher Wesen, die
Väinämöinen auf die Bootssitze zaubert. Diese stehen für die Fähigkeiten oder
Sinne des Wasserkörpers, mit denen die Traumwelt der Gefühle erforscht wird.
Weshalb wohl? Das geht aus den folgenden zwei Tatsachen hervor:
Erstens sind die Sinne des Wasserkörpers nicht auf die gleiche Weise
örtlich wie die des physischen Körpers, sondern „allgegenwärtig“; sie sind
überall, vorne, hinten, rechts und links ‒ der ganze Körper ist wie ein
Sinnesorgan. Und die Sinne sind nicht voneinander getrennt, sondern alle
zusammen: ein und dasselbe Sinnesorgan vermittelt Wahrnehmungen des Sehens,
Hörens, Fühlens usw. Man kann also sagen, dass der Mensch in seinem
Wasserkörper mit all seinen Körperteilen sieht, hört, fühlt usw. Diese Tatsache
wird auf eine lebendige Weise so dargestellt, dass auf allen Seiten des Bootes
menschenähnliche Zauberwesen sitzen.
Zweitens, wenn wir die Traumwelt von der förmlicher Seite her, oder mit
dem sozusagen klarsichtigen Auge betrachten, erscheinen dort die gewöhnlichen
Gefühle und Leidenschaften des Menschen als entsprechende Tiergestalten: Wölfe,
Schlangen, Schweine, Kröten usw., oder besser gesagt als allerlei Bastarde, an
denen oft ein Körperteil – Auge, Mund, Schnabel – besonders fürchterlich und
auffallend aussieht. Das sieht man insbesondere nach dem Tod. Je mehr der
Mensch sich in seinen Gefühlen reinigt, desto mehr ähneln die Formen seiner
Gefühle und Gedanken Blumen und Pflanzen, ja sogar geometrischen Figuren und
Objekten, Kristallen usw., wie bei der Meditation des „Brautfahrers“. Nur in
seltenen Fällen kleidet sich der Gedanke eines uneingeweihten Menschen in die
Gestalt des Menschen. Das geschieht z.B., wenn jemand mit großer Liebe an einen
Angehörigen denkt, um diesem etwas mitzuteilen. Dann geht sein Gedanke zu dem
Angehörigen in seiner eigenen Gestalt.
Anders verhält es sich mit dem hoch entwickelten Weisen: Seine
persönlichen Gedanken kleiden sich immer – wenn er es nicht anders will – in
die Gestalt des Menschen. Weshalb? Deshalb, weil die Gestalt des Menschen auch
ein Symbol ist. Und für was steht sie? Sie steht für das Selbstbewusstsein, für
den selbstbewussten Gedanken und die Vernunft. Wenn der Weise z.B. seinem
Schüler etwas mitteilen will, sendet er den Gedanken zu seinem sensitiven
Schüler. Der Gedanke erledigt seine Aufgabe, wie ein richtiger Bote, in der
Gestalt eines lebenden Wesens, das dem Weisen ähnelt, um dann zu seinem Sender
zurückzukehren. Wenn der Weise irgendetwas herausfinden möchte, sendet er
ebenfalls einen Gedanken aus, um die Antwort zu holen, und der Gedanke kehrt
mit der benötigten Antwort zu ihm zurück.
In der feinen Traumwelt entspricht die Form dem Inhalt. Dort können nur
diejenigen trügen, die die Gesetze und Kräfte jener Welt beherrschen. Menschen,
die dort wie hilflose Kinder sind, verraten sich durch ihr bloßes Sein.
Die Darstellung der Fähigkeiten und Sinne des Wasserkörpers als menschenähnliche
Wesen bedeutet also, dass sie zu einem selbsttätigen und selbstbewussten
Zustand entwickelt werden. Es ist, als ob in jede Fähigkeit des Wasserkörpers
das wachbewusste Ich des Menschen versetzt worden wäre! Das lässt uns
verstehen, wie weit und vielseitig, verglichen mit dem physischen
Gehirnbewusstsein, das Bewusstsein seines in der Traumwelt funktionierenden
Bootes ist. Mit jenen organisierten Fähigkeiten und Sinnen erforscht er die mit
dem „Wasser“ bezeichnete Seite seines Innenbewusstseins und den entsprechenden
unsichtbaren Kosmos. Er kann also z.B. die verschiedenen Gefühlslagen der
menschlichen Seele und das Schicksal der Verstorbenen nach dem Tod in der
Unterwelt und im Himmel in Visionen betrachten. Doch wie die Rune erzählt,
bringen die selbsttätigen Fähigkeiten als solche das Boot nicht in Bewegung:
Ilmarinen allein, der Mensch selbst, beherrscht und führt sein Boot und
Väinämöinen, das göttliche Gewissen der Weisheit, sitzt hinten am Steuer.
Wir haben bereits erklärt, warum Lemminkäinen sich zu den anderen
gesellt. Die Erinnerungen des Ilmarinen erwachen, und er vereinigt sich dadurch
gleichsam aufs Neue mit seinem höheren Gefühlswesen, das nun mit Lemminkäinen
symbolisiert wird.
[1] [Frans Akseli Heporauta, bis 1935 Hästesko, 1879‒1946, Rektor und Folklorist
‒ J.M.]
[2] Mielikuvitus ja todellisuus Kalevalassa
(Phantasie und Wirklichkeit in der Kalevala), S. 9.
[3] Kalevalan sisällys ja rakenne (Inhalt und Aufbau der Kalevala), S.
247.
[4] Brief an die Römer 8: 19‒22.
[5] Vgl. auch: Beschreibung des
Propheten im Alten Testament über den den Löwen und das Schaf.
[6] In seinem Buch Kalevalan sisällys ja rakenne (Inhalt
und Aufbau der Kalevala).
[7] [Als Freier der
Nordlandstochter erscheinen in den ursprünglichen Runen Väinämöinen und
Ilmarinen; nur in einer Version erscheint Lemminkäinen, der vor seinem Tod nur
zwei Aufgaben bewältigt. ‒ J.M.]
[8] [Wenn der finnische Weise seine
Kunst weitergeben wollte, führte er seinen Schüler heimlich auf einen in der
Strommitte stehenden Stein. ‒ J.M.]
[9] Louhi, die Wirtin von Pohjola,
die Herrscherin unseres Innenbewusstseins, ist deshalb auch wie die Herrscherin
der Unterwelt. Das geht auch aus u.a. den Parallelgedichten hervor. Vgl. J.
Krohn, Suomalaisen kirjallisuuden
historia, I. Kalevala, (Die Geschichte der finnischen Literatur, I Kalevala),
S. 253 und 254.
[10] [Die Runen 21‒25 sind
Hochzeitslieder, keine Kalevala-Epik. Lönnrot fügte sie in die Mitte der
Erzählung hinzu und gab Namen für die darin erscheinenden Personen. Nur die am
Ende stehenden Versen 25:673‒716 stammen aus der Epik. ‒ J.M.]
[11] Lukas 14: 21 und 23. Vgl. auch
Matthäus 22: 9.
[12] Matthäus 22: 11‒13.
[13] Wir benutzen hier, wie es in der
theosophischen Literatur üblich ist, die Wörter Individualität und
Persönlichkeit in einer genau festgelegten und also begrenzteren Bedeutung als
im allgemeinen Sprachgebrauch. Der theosophische Brauch gründet sich auf die
Bemerkung der Madame Blavatsky über die Tatsache, dass das lateinische Wort
ursprünglich die „Maske“ bedeutete, durch die die Stimme des Schauspielers zu
hören (per-sonare) war. Und das
unsterbliche Ich oder das Individuum ist ja vergleichbar mit dem Schauspieler,
der in seinen zahlreichen Verkörperungen auf Erden in vielen verschiedenen Rollen
erscheint.
[14] Matthäus 8: 20.
[15] Vgl. Louhi, Lowiatar, die
Wirtin von Pohjola. [Langeta loveen - in Trance geraten. ‒ M.H.]
[16] In diesem Zusammenhang möchten
wir gern wiederholen, was J. Krohn in seinem Buch Suomen suvun pakanallinen jumalanpalvelus (Heidnische
Gottesanbetung des finnischen Völkerstammes) über den votjakischen tuno (Weiser, Schamane) erzählt: „Auch
sonst kann sich zum tuno jeder machen, der sich nur das dazu benötigte Wissen
beschaffen kann. Das bekommt man von den Geistern selbst, die nachts in der
Gestalt eines alten Greises, in einen langen Umhang gekleidet, erscheinen. Die
Macht des tuno ist nicht bei allen gleich groß, sie ist unterschiedlich, je
nach dem, wie mächtig der Geist war, bei dem der Schüler in Lehre war; zum Teil
hängt sie auch von der eigenen Empfänglichkeit des Schülers ab. Die beste Lehre
ist diejenige, die der Obergott Inmar
gibt. Inmar erscheint dem Hexenlehrling zusammen mit einem voll ausgebildeten
tuno nachts und führt ihn an allerlei seltsame Orte und spielt, um seine Angst
zu vertreiben, die ganze Zeit Kantele. Zum Schluss führt ihn der Gott an einen
unendlich breiten, mit Kantele-Saiten bespannten Fluss. Auf diesen Saiten muss
der Schüler hüpfen und tanzen; jedes Mal, wenn er herunterfällt, verliert er
einen Teil seiner zukünftigen Macht. Der mächtigste tuno wird aus demjenigen,
der diese Prüfung besteht, ohne ein einziges Mal zu wanken (S. 101).
[17] I Kor. 15: 53‒55.
[18] I Kor. 15: 40‒44.
[19] I Kor. 15: 46‒49.
[20] I Kor. 15: 51.
[21] Deshalb strahlt auch das
Phantasiebild des Ilmarinen wie ein goldenes, feuriges Schwert, usw.
[22] In diesem Zusammenhang
verstehen wir, weshalb man das Wort Sampo mit den finnischen Wörtern sammas und sampi (Stör) vergleichen kann. Sammas müssen wir in der Bedeutung
Grenzsäule oder Grenzstein verstehen, der beim Bau des Sampo die verschiedenen
Phasen oder Körper voneinander trennt, der also praktisch einer Einweihung
entspricht. Sampi wiederum, in der Bedeutung Fisch, erinnert uns daran, dass
man als das Symbol Christi den Fisch benutzte (Ichthys, d.h. Iesous Christos
Theou Hyios Soter); und Christus besaß, okkultistisch gesehen, einen vollkommen
organisierten Sampo, den Sonnenkörper. Wir könnten auch annehmen, dass das Wort
Sampo, als mit dem Wort sammas verwandt verstanden, die Pyramide bedeutet haben könnte, in der geheimes Wissen gelehrt
wurde, weil der sammas oder der Grenzstein mehr oder weniger einer Pyramide
ähnelt; das würde uns aber zu Spekulationen über die Beziehungen zwischen den Finnen
und den Ägyptern führen, was sicherlich noch zu gewagt wäre.
[23] Über die sinnbildliche
Bedeutung des „Pferdes“ und des „Bootes“ gibt es ein Beispiel: Wenn der
Lappländer in Trance fallen wollte – und andere Vorbereitungen durchgeführt
waren – nahm er seine Mütze ab, öffnete seinen Gürtel, löste die Schnürsenkel
seiner Schuhe, bedeckte sein Gesicht mit der Hand, stemmte die Hände an die
Seiten, neigte sich nach vorne und nach hinten und rief: „Schirrt das
Zugrentier an!“ oder „schiebt das Boot ins Wasser!“ Vgl. J. Krohn, Suomen suvun pakanallinen jumalanpalvelus
(Heidnische Gottesanbetung des finnischenVölkerstammes), S. 114.
[24] Siehe z.B. Kapitel 13.
Ilmarinen, Feuer und Eisen.
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