30. DAS KANTELESPIEL
Der nächste Schritt beim Bau des
Sonnenkörpers ist die Organisierung des sog. Luftkörpers, der „Bau der Kantele“,
wie die Kalevala sagt. Es handelt sich nicht um einen neuen Bewusstseinsträger,
sondern um eine „Neugeburt“ des Wasserkörpers, um dessen Ausrüstung mit neuen
Fähigkeiten, so dass dem Menschen eine neue Seite der unsichtbaren Welt zum
Erforschen geöffnet wird.
Die Reise der Sampofahrer geht langsam vorwärts. Auch andere Wesen der
unsichtbaren Welt werden von ihrem Glück angesteckt. Väinämöinen
alt und wahrhaft
Laski laulellen vesiä,
Ilon lyöen lainehia.
Neiet niemien nenissä
Katselevat, kuuntelevat:
„Mi lienee ilo merellä,
Mikä laulu lainehilla,
Ilo entistä parempi
Laulu muita laatuisampi?“
Steuert singend durch die Wogen,
Voller Freude durch die Fluthen.
Auf der Landspitz’ schauen Mädchen,
Schauen sie und lauschen also:
„Was für Jubel ist im Meere,
Was für Sang dort auf den Fluthen,
Bess’rer Jubel als je früher,
Sang weit schöner als der sonst’ge?“ [40. Rune]
Die Reise geht über „Landgewässer,
des Sumpfs Gewässer und durch Ströme“. Auch Stromschnellen werden erfolgreich
bewältigt:
Itse vanha Väinämöinen
Laskea karehtelevi,
Laski louhien lomitse
Noita kuohuja kovia,
Eikä puutu puinen pursi,
Vene tietäjän takellu.
Selbst der alte Wäinämöinen
Steuert fort nun durch die Wogen,
Steuerte durch Felsenspalten,
Durch den Schaum voll wilden Brausens,
Hängen blieb dort nicht der Nachen,
Stecken nicht das Boot des Kund’gen. [40. Rune]
Doch plötzlich stoßen die Sampofahrer auf ein Hindernis und das Boot
bleibt daran stecken:
Äsken tuonne tultuansa
Noille väljille vesille
Puuttui pursi juoksemasta,
Venonen pakenemasta;
Pursi puuttuvi lujahan,
Vene vieremättömäksi.
Erst als es darauf gekommen
In die weitgedehnten Wasser,
Blieb das Boot im Laufe stecken,
Blieb der Nachen stehn im Eilen;
Haftet fest auf einer Stelle,
Kann vom Fleck sich nicht bewegen. [40. Rune]
Und beim Nachsehen, ob das Hindernis eine Klippe oder ein Strauch war,
sieht man, dass das Boot „auf der Schulter eines Hechtes“ sitzt. Bevor wir
weitergehen, müssen auch wir nun diesen „Hecht“ genauer prüfen.
Der Name erinnert uns an den „großen Hecht“, den Ilmarinen als die dritte
Aufgabe aus dem Fluss von Tuonela fing, und wir erwarten beinahe, dass die
Kalevala den Fluss auch an dieser Stelle den Fluss von Tuonela nennen würde.
Den „Hecht Fangen“ bedeutete damals, dass Ilmarinen seine Gewohnheiten,
Fähigkeiten und Instinkte, die im Innenbewusstsein und zugleich im unsichtbaren
ätherischen Doppelgänger des physischen Körpers wohnten, reinigen musste.
Handelt es sich vielleicht auch jetzt, auf der Sampofahrt, um die gleiche Bedeutung?
Ja, obwohl Ilmarinen der Sache jetzt nicht von der Seite des Wachbewusstseins,
sondern von der Seite des Innenbewusstseins her nähert, also nicht in der
physischen, sondern in der unsichtbaren Welt. Die Reise als Sampofahrer geht
vom Selbst des Menschen nach unten, zum Körper hin und nicht wie als
Brautfahrer umgekehrt. Deshalb ist es nicht notwendig, darauf hinzuweisen, dass
der Hecht sich im Fluss von Tuonela befindet – obwohl das der Fall ist.[1]
Auch jetzt geht es um Gewohnheiten, Fähigkeiten, Instinkte und den
unsichtbaren ätherischen Doppelgänger des Körpers. Der Mensch handelt und
bewegt sich in seinem Wasserkörper frei und bleibt am Hecht des Ätherkörpers
stecken. Was bedeutet das? Ganz einfach, dass er noch nicht imstande ist, sein
geheimes Wasserkörperbewusstsein in sein physisches Gehirn, in sein
Wachbewusstsein, zu versetzen. Sein Selbstbewusstsein ist noch nicht
ununterbrochen: In seinem Wachbewusstsein ist er Ilmarinen Nr. 1 und in seinem
Traumbewusstsein Ilmarinen Nr. 2. Dieser Ilmarinen Nr. 2 ist talentierter und
viel weiter entwickelt als die Nr. 1. Er ist des wachbewussten – viel kleineren
– Ilmarinen bewusst, doch der wachbewusste Ilmarinen hat nur stückhafte
Erinnerungen an seinen nächtlichen Zwillingsbruder, und dessen größere
Fähigkeiten äußern sich im Wachbewusstsein nur als vorübergehende zauberhafte Phänomene:
als Visionen, Erscheinungen, Inspirationen usw. Der Tuonela-Fluss des
Vergessens trennt immer noch das Wachbewusstsein vom Unterbewusstsein. Das
Entwicklungsgesetz erfordert jedoch, dass das Hindernis, das vor dem Vergessen liegt,
beseitigt wird: Das Bewusstsein muss ununterbrochen und anhaltend gemacht
werden. Die Fähigkeiten, Instinkte und Gewohnheiten des Wasserkörpers müssen im
physischen Gehirn erweckt werden.
Wie geht das vor sich?
Väinämöinen bittet zuerst Lemminkäinen, das Hindernis zu beseitigen:
„Veä miekalla vetehen,
Katkaise kala kaheksi!“
Fahre mit dem Schwert in’s Wasser,
Schlage du den Fisch in Stücke!“ [40. Rune]
Lemminkäinen zieht das Schwert aus dem Gurte und
Veti miekalla meryttä,
Alta laian laskettavi,
Itse vierähti vetehen,
Kourin aaltohon kohahti.
Fuhr in’s Wasser mit der Klinge,
Hieb hinab am Rand des Bootes,
Stürzet selber in das Wasser,
Fährt in’s Meer mit seinen Fäusten. [40. Rune]
Weil Lemminkäinen so wenig Erfolg hat, kommt Ilmarinen zu Hilfe und fasst
Tarttui tukkahan urosta,
Nostatti merestä miehen,
Itse tuon sanoiksi virkki:
„Kaikki on mieheksi kyhätty.“
Bei den Haaren diesen Helden,
Hebt den Mann aus Meeresfluthen,
Redet selber diese Worte:
„Alle sind gemacht zu Männern.” [40. Rune]
Ilmarinen zieht sein Schwert, um auf den Fisch zu schlagen, aber dann:
Miekka murskaksi mureni,
Eipä hauki tiennytkänä.
In Stücke sprang die Klinge,
Ohne daß der Hecht was merkte. [40. Rune]
Väinämöinen kommt zu Hilfe und sein feuriges Schwert der Wahrheit tötet
den Hecht:
Siitä vanha Väinämöinen
Nostalti kaloa tuota,
Veti haukia ve’estä:
Hauki katkesi kaheksi,
Pursto pohjahan putosi,
Pää kavahti karpahasen.
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Zog den Fisch nun in die Höhe,
Zog den Hecht hoch aus dem Wasser:
Dieser bricht darauf in Stücke,
Auf den Boden stürzt der Fischschweif,
In das Boot der Kopf des Hechtes. [40. Rune]
Jetzt rührt sich das Boot und Väinämöinen lenkt es ans Ufer, wo der
Hechtkopf gekocht und „zu einem schönen Schmause“ gegessen wird (40: 173‒204).
Mit dieser etwas scherzhaften Episode hat die Kalevala anscheinend
betonen wollen, wie schwer es ist, das physische Gehirnbewusstsein zu erobern
und die Ohnmachtsgrenze zwischen dem Wach- und dem Unterbewusstsein zu
beseitigen. Es geht nicht im Handumdrehen: weder im ersten Augenblick des
Enthusiasmus (Lemminkäinen), noch in stolzem Selbstbewusstsein (Ilmarinen),
sondern nur durch vernünftige und ruhige Kraftanstrengung. Was muss man nämlich
tun, damit der Wasserkörper ungehindert auf den Ätherkörper und dadurch auf das
Gehirn einwirken könnte? Man muss im unsichtbaren Doppelgänger des physischen
Körpers das dem Gehirn entsprechende Kraftzentrum zur vollen Funktion erwecken,
das dann das Bewusstsein ungehindert durchfließen lässt. Wenn es nämlich nur in
natürlicher Weise funktioniert, ist es wie ein Wirbel, das das Bewusstsein in
sich hinein schluckt und es gleichsam in Ohnmacht schlägt. Was berechtigt und
imstande ist, es zu erwecken, ist einzig und allein das „Schwert des Geistes“:
eine klare Vorstellung über die zu erledigende Aufgabe, ein fester Glaube an
die Uneigennützigkeit des Motivs und geduldige Kraftanstrengung. Das Schwert
wird zum dem Gehirn entsprechenden Zentrum gerichtet, der „Hechtkopf“ wird
gegessen und das geheime Innenbewusstsein öffnet sich im physischen Gehirn.
Jetzt ist der Mensch in der Lage, Fähigkeiten und Eigenschaften seines
Wasserkörpers auch am Tage zu benutzen. Was früher vorübergehend und nur dann
und wann ausbrechen konnte, wird jetzt zu einer bleibenden Eigenschaft. Hatte
der Wahrheitssuchende früher z.B. die geheime Wahrnehmungsfähigkeit seines
Wasserkörpers entwickelt, wird er jetzt zu einem wahren Klarsichtigen und
Klarhörigen; er zieht die unsichtbare Welt nicht ungewollt an sich, wie ein
Medium oder ein psychisch sensitiver Mensch, sondern bewegt sich darin wie ein
freier und über sich selbst herrschender Bürger. Hatte er wiederum, in seinem
Wasserkörper arbeitend, aufgrund seines früheren Charakters, gelernt, mit
höheren Wesen der unsichtbaren Welt (Göttern, Engeln, Naturgeistern, Weisen) umzugehen
und von ihnen Inspirationen zu empfangen (was sich z.B. in seiner
künstlerischen Tätigkeit und der sog. allgemeinen Genialität äußerte), ist er
jetzt in der Lage, gleichsam in einem ständigen Inspirationszustand zu leben –
sich immer wie ein König unter den Menschen zu fühlen.
Aber noch ist erst die Hälfte der Arbeit getan. Noch muss der
Wasserkörper zu einem Luftkörper umgewandelt werden. Die Kalevala erzählt auch,
wie Väinämöinen die von der Mahlzeit übrig gebliebenen Fischbeine auf dem
Felsen liegen sieht und überlegt, was man daraus noch machen könnte.
„Noista hau’in hampahista,
Leveästä leukaluusta,
Jos oisi sepon pajassa,
Luona taitavan takojan,
Miehen mahtavan käsissä?“
”Aus den Zähnen dieses Hechtes,
Aus den weitgestreckten Kiefern,
Wär’n sie in des Schmiedes Esse,
Bei dem kund’gen Schmiedekünstler,
In der Hand des klugen Mannes?“ [40. Rune]
Wenn Ilmarinen meint, dass aus dem Nichts nichts kommt, antwortet
Väinämöinen, dass man daraus zum Beispiel eine Kantele[2] anfertigen
kann, und macht sich sofort an die Arbeit:
Laati soiton hau’inluisen,
Suoritti ilon ikuisen.
Kust’ on koppa kanteletta?
Hau’in suuren leukaluusta.
Kust’ on naulat kanteletta?
Ne on hau’in hampahista.
Kusta kielet kanteletta?
Hivuksista Hiien ruunan.
Macht ein Spielzeug aus den Gräten,
Macht ein Werkzeug ew’ger Freude.
Woher ist der Harfe Wölbung?
Aus des großen Hechtes Kiefer!
Woraus sind der Harfe Stifte?
Aus des grossen Hechtes Zähnen;
Woraus sind der Harfe Schrauben?
Aus dem Haar des Hiisi-Wallachs. [40. Rune]
In einer anderen Version der Rune 44 wird für die Kantele eine weinende
Birke benutzt, die zu Väinämöinen über ihre Kummer und Sorgen geklagt hatte.
Die Nägel für seine Kantele bekommt Väinämöinen aus einer Eiche:
Kasvoi tammi tanhualla,
Puu pitkä pihan perällä,
Tammessa tasaiset oksat,
Joka oksalla omena,
Omenalla kultapyörä,
Kultapyörällä käkönen.
Kun käki kukahtelevi,
Sanoin viisin virkkelevi,
Kulta suusta kumpuavi,
Hopea valahtelevi
Kultaiselle kunnahalle,
Hopeiselle mäelle;
Siitä naulat kantelehen,
Vääntimet visaperähän.
Wuchs ein Eichbaum an dem Wege,
In die Höhe auf dem Hofe,
Hatte Zweige gleicher Größe,
Eicheln dort auf jedem Zweige,
Goldne Kugeln an den Eicheln,
Auf der Kugel einen Kuckuck.
Wenn der Kuckucksruf ertönte,
Fünf der Töne dort erschallten,
Floß ihm Gold aus seinem Schnabel,
Goß herab sich reiches Silber
Auf die goldbedeckten Hügel,
Auf die silberreichen Höhen;
Daher nahm er Harfennägel,
Daher Pflöcke zu dem Spielzeug. [44. Rune]
Und wenn Väinämöinen endlich anfängt, Saiten für seine Kantele zu suchen,
sieht er am Abend eine Jungfrau, die auf der Wiese singend auf ihren Geliebten
wartet. Er fragt, ob sie aus ihren Haaren Saiten für seine Kantele machen dürfte
– und
Antoi impi hapsiansa,
Hienoja hivuksiansa,
Antoi hasta viisi, kuusi,
Sekä seitsemän hivusta;
Siit’ on kielet kantelessa,
Ääntimet iki ilossa.
Ihre Haare gab die Jungfrau,
Gab von ihren weichen Haaren,
Gab derselben fünf, ja sechse,
Gab ihm sieben ganze Haare,
Daraus sind der Harfe Saiten,
Sind die ew’gen Freudenwecker. [44. Rune]
Und dann erfolgt in beiden Versionen die wunderbare und bekannte Episode
über das Kantele Spielen. Zuerst versuchen andere, das neue Instrument zu
spielen, ohne jedoch den richtigen Klang hervorzubringen. Endlich nimmt
Väinämöinen die Kantele auf die Knie und verzaubert mit seinem Spiel die gesamte
lebende Natur (40: 241‒342; 41 und 44).
Die Kalevala erzählt hier eindrucksvoll, wie der Wasserkörper zu einem
Luftkörper umgewandelt wird, wie also die Kantele ins Boot geholt wird. Diese
Kantele wird aus den edelsten und ästhetisch feinsten Fähigkeiten des
Ätherkörpers gebaut. Insbesondere zeigt die aus der weinenden Birke gebaute
Kantele, wie die feinsten Kräfte der Poesie und Liebe hier dienstbar gemacht
werden. Der Kopf der Kantele befindet sich im Gehirn und ihre Saiten gehen
durch das Herz. Alles, was im Menschen heilig und schön, groß und tief ist, das
wird jetzt aufgesammelt und gleichsam zu einem Musikinstrument gebildet, mit
dem alle ‒ Lebende und Tote ‒ getröstet, erfreut, glücklich gemacht werden.
Und wer kann ein solches Instrument spielen? Niemand anders als
Väinämöinen. Weder der Mensch selbst noch das eingeweihte Selbst des Menschen,
niemand anders als die herrliche Weisheit, deren Stimme im göttlichen Geist des
Eingeweihten ertönt.
Hier hat auch die Kalevala den wunderbaren und merkwürdigen Umstand der
mystisch-psychologischen Entwicklung des Eingeweihten beschrieben: wie er
endlich für einen Augenblick das ersehnte Ideal erreicht, wie einmal sein lang
ersehnter Wunsch, in seiner Person mit Gott vereint zu sein, in Erfüllung geht.
Beim Kantele Spielen fühlt er, dass er ein selbstbewusster Vermittler der
Kraft und der Wirkung Gottes ‒ des Logos ‒ geworden ist. Die Kraft Gottes, das
göttliche Leben und Bewusstsein, erfüllt das gesamte Universum. „In ihm leben,
weben und sind wir.“ Ohne die Sonnenenergie unseres Logos gäbe es kein Leben
auf der Erde; ohne sein sonnenerfülltes Bewusstsein gäbe es kein Bewusstsein im
Kosmos. Wenn zwischen dem Herzen und dem Gehirn des Eingeweihten eine Kantele
entsteht, wird er mit der Lebenskraft des Logos unmittelbar vereint; er wird
gleichsam Gottes Sohn, der über die Reichtümer seines Vaters verfügen kann. Das
ist sein Aufstieg auf den Berg der Erleuchtung, seine Krönung mit der Krone der
Unsterblichkeit.
Wie schön haben die finnischen Weisen diese Stelle verstanden! Sie
liebten es, in ihrem Schöpfer den Arbeiter, den Künstler, den Weisen zu sehen.
Und wenn sie den menschlichen Weisen in seiner Ehre und Herrlichkeit zeigen
wollten, setzten sie ihn „Auf den Freudefelsen, Auf den Stein des Sanges, Auf
die silberreiche Höhe, Auf den goldbedeckten Hügel“ (41: 5‒8) und gaben ihm eine Kantele in die Hand, aus dem
das Glück spendende Leben des Schöpfers auf den Schwingen der Musik in die
Herzen seiner Schöpfung drang.
Wenn der Wasserkörper zu einem Luftkörper verwandelt wird, wird der
Eingeweihte mit dem „Heiligen Geist“ erfüllt. Sein Gesicht leuchtet und die
Menschen fühlen sich hingerissen und möchten ihn anbeten. Dies ist natürlich
kein dauerhafter Zustand. Es ist eine „Gabe aus dem Himmel“. Es geschieht, wenn
der Logos es will und wenn er es für notwendig hält. „Der Wind weht, wo er will.
Du hörst ihn zwar, aber du kannst nicht sagen, woher er kommt und wohin er
geht. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“[3] Doch es
ist wunderbar, ein Diener Gottes zu sein und seinen Willen zu erfüllen; es ist
unvergesslich schön, ein Sprechrohr des Logos oder ein Finger Gottes auf Erden
zu sein, selbst wenn es nur einmal im Leben geschehen würde. Wie die Tränen des
Väinämöinen, so bleiben die Wirkungen für alle Zeiten „anders schon gestaltet“:
Helmiksi heristynehet,
Simpsukoiksi siintynehet,
Kuningatarten kunnioiksi,
Valtojen iki iloiksi.
Schimmern nun als schöne Perlen,
Schillern bläulich voller Klarheit,
Zu dem Schmucke manches Königs,
Zu der Mächt’gen ew’gen Freude. [41. Rune]
Und die Ehre wird keinem anderen erwiesen als demjenigen, der sich selbst
überwunden hat, wie Ilmarinen-Väinämöinen, als er sich auf den Stein zum Singen
setzte.
Die Menschen beeinflussen sich ständig gegenseitig, ob sie es wissen oder
nicht, ob sie es wollen oder nicht. Ihr Einfluss ist manchmal gut, manchmal
schlecht. Doch der Einfluss ist sterblich und vergänglich, bis zu dem Tag, wenn
Gott durch die Menschen frei wirken kann, bis zu dem Tag, wenn der Tod seine
Maske abgenommen und sein unsterbliches Gesicht gezeigt hat.
31. DER RAUB DES SAMPO
Bevor der Sampo, der Sonnenkörper,
vollständig gebaut ist, muss noch der Luftkörper zu einem „Feuerkörper“ umgewandelt
werden, also auch der physische Bewusstseinsträger des Menschen zum „Abbild
Gottes“ gemacht werden, so dass der Eingeweihte die schwärzesten Kräfte der
Hölle spürt und mit dem Propheten sagen kann: „Lege ich mich zu den Toten, da
bist du auch.“
Im physischen Körper und dessen ätherischem Doppelgänger liegen nämlich
die tiefsten Geheimnisse der Magie, d.h. des Wissens und der Macht, verborgen,
und bevor der Wahrheitssuchende auch diese angeeignet hat, war er nach der Auffassung
der altfinnischen Weisheit noch kein vollkommener Weiser. Weil einige dieser
Kräfte für selbstsüchtige Zwecke nur mit unerbittlicher Selbstpeinigung, ohne
wahre geistige Entwicklung, erweckt werden können, werden sie auch Kräfte der
(schwarzen) Hexenkünste, der schwarzen Magie, genannt.
Das können wir verstehen, wenn wir bedenken, dass das ganze Wesen des
Menschen ein Mikrokosmos, ein Miniaturbild des Sonnensystems ist, dessen
Mitglied er ist, dass also sein physischer Körper mit dem großen Körper des
Kosmos korrespondiert. Wir können sagen: Wie die Vernunft des Menschen ein Teil
der Vernunft des Logos, deren Reflektion, deren Miniaturbild ist, so entspricht
auch das Gehirn des Menschen als Organ dem Gehirn der Welt, weshalb die reine
Vernunft Gottes es benutzen kann; und wie die Liebe des Menschen ein Teil der
Liebe Gottes, deren Reflektion, deren Miniaturbild ist, so entspricht auch das
Herz des Menschen als Organ dem Herzen der Welt, und deshalb kann auch Gottes
grenzenloses Mitleid dadurch manifestiert werden. Doch im menschlichen Körper
gibt es Organe, wie z.B. den Magen und die Geschlechtsorgane, die in gewisser
Weise stärker sind als der Kopf und das Herz. Der Magen sagt: Ich brauche
Nahrung, und der Kopf muss gehorchen. Die Geschlechtsorgane sagen: Wir wollen
der Fortpflanzung dienen, und das Herz eilt zu Hilfe. Nur wer Hexenkünste
lernen will, sagt sofort dem Kopf: Du darfst dem Magen nicht dienen; und dem
Herzen: Du darfst den Geschlechtsorganen nicht dienen, denn ihr beide sollt nur
mir, eurem Herren, dienen. Wer ein Weiser werden will, befriedigt die
Bedürfnisse des Magens so, dass der Magen gern dem Kopf dient, und er stellt
seine Geschlechtsorgane sofort in den Dienst des Herzens. Er macht sich jedoch
nicht zum Herren seines Kopfes oder seines Herzens, sondern sucht nach der
Wahrheit, in deren Dienst er seinen Kopf stellen könnte; er sucht die Liebe
Gottes, in der sein Herz aufgehen könnte. Schließlich muss der Weise jedoch
seinen Magen und seine Geschlechtsorgane prüfen und sie auf eine neue Weise
besiegen, um sich so in Verbindung mit den entsprechenden kosmischen Kräften zu
kommen. Und ähnlich verhält es sich mit den anderen physischen Organen und
Korrespondenzen. Man sollte auch nicht denken, dass sie „niederer“ sind als der
Kopf und das Herz; man sollte sie nicht gering schätzen oder für „tierisch“
abstempeln. In der Natur gibt es weder Höheres noch Niedereres, weder Besseres
noch Schlechteres; in ihrem großen Haushalt ist alles gut, jedes Ding zweckentsprechend
an seinem Platz. Und wenn wir sie in verschiedene Wertkategorien einteilen
möchten, könnten wir, im Gegenteil, die „niederen“ Kräfte als die „höheren“
bezeichnen, weil sie tiefer sitzen und schwerer zu besiegen sind. Deshalb sagt
man auch, dass die Kräfte der schwarzen Magie, der Hexenkünste, die letzten
sind, die der Weise erwirbt.
In der Rune 42 beschreibt die Kalevala in dramatischer Weise den Bau des
Feuerkörpers, die endgültige Aneignung des Sampo, die in der weißen Magie von
innen her, von der unsichtbaren Welt aus, geschieht.
Nach der Fahrt durch das weite Meer kommt das Boot des Weisen nach
Pohjola. Die Helden treten in die Stube und die Wirtin von Pohjola fragt, was
die Männer im Sinn haben. Väinämöinen antwortet sofort ohne
Umschweife:
„Sammosta sanomat miesten,
Kirjokannesta urosten;
Saimme sampuen jaolle,
Kirjokannen katselulle.“
„Männer reden von dem Sampo,
Sprechen von dem bunten Deckel;
Kamen zur Vertheilung Sampo’s,
Zu der Schau des bunten Deckels.“ [42. Rune]
„Der Sampo wird nicht verteilt“, sagt die Wirtin von Pohjola sofort:
„Ei pyyssä kahen jakoa,
Oravassa miehen kolmen.“
„Nicht vertheilet man ein Feldhuhn,
Unter drei niemals ein Eichhorn.” [42. Rune]
„Wenn du uns nicht die Hälfte gibst, nehmen wir den ganzen Sampo“,
beschließt Väinämöinen. Die Wirtin von Pohjola wird ärgerlich und ruft die
Männer des Hauses zum Kampf auf.
Doch Väinämöinen setzt sich zum Spielen und schläfert das Volk von
Pohjola mit seinem Spiel ein. Die Helden machen sich auf den Weg, den Sampo
Pohjolan kivimäestä,
Vaaran vaskisen sisästä,
Yheksän lukon takoa,
Takasalvan kymmenennen.
Aus dem Steinberg von Pohjola,
Aus des Kupferberges Innerm,
Hinter neun der stärksten Schlösser,
Hinter zehn, zählt man den Riegel. [42. Rune]
zu rauben.
Väinämöinen singt vor sich hin, Ilmarinen schmiert die Schlösser und
Angeln, bis die dicken Tore aufspringen.
„Oi sie lieto Lemmin poika,
Ylimmäinen ystäväni,
Mene sampo ottamahan,
Kirjokansi kiskomahan!“
„O du muntrer Lemminkäinen,
Du, der höchste meiner Freunde,
Geh den Sampo nun zu fassen,
Raffe fort den bunten Deckel!“ [42. Rune]
fordert Väinämöinen auf, und Lemminkäinen versucht, den Sampo aus der
Erde herauszuziehen, doch seine Wurzeln liegen in der Tiefe von neun Klaftern
und Lemminkäinen kann ihn nicht herausholen, bevor er mit einem kräftigen Stier
von Pohjola „die Wurzeln des Sampo, die Fasern des bunten Deckels“ ausgegraben
hat.
Wenn dann der Sampo ins Boot geholt ist, treten die Helden fröhlich und
gut gelaunt den Heimweg an. Lemminkäinen möchte auch gern singen, doch
Väinämöinen erklärt, dass es sich nicht ziemt zu singen, bevor die eigene Tür
in Sicht ist. Es stehen noch Gefahren bevor.
Wenn wir sagen würden, dass auf der Hochzeit von Pohjola und insbesondere
durch den Bau des Wasserkörpers das Herz des Menschen an Gott gegeben wurde, so
könnten wir sagen, dass der Bau des Luftkörpers den Kopf des Menschen an Gott gibt.
Damit der Mensch vollkommen ein „Tempel des Heiligen Geistes“ sein könnte,
müssen also noch die anderen Organe des Körpers für Gott erobert werden. Das
ist keine leichte Aufgabe, wie man es auch aus der Erzählung der Kalevala
ersehen kann. Sampo, der Sonnenkörper, liegt im physischen Körper verborgen, in
der Tiefe von neun Klaftern und hinter neun oder zehn Schlössern. Tatsächlich sind
bereits mindestens zwei Wurzeln des Sampo herausgegraben worden: die des
Herzens und des Schädelgewölbe, selbst wenn die Rune dies aus ästhetischen
Gründen nicht erwähnt hat; doch die Wurzeln des Kreuzbeins, des Nabels, der
Milz usw. müssen noch herausgeholt werden. Das sind ätherische Kraftzentren,
denen im physischen Körper die Ganglien, die Nervenzellknoten des sympathischen
Nervensystems, entsprechen. Neun oder zehn Tore wiederum sind die neun (zehn)
„Öffnungen“ im Körper (in indischen Schriften wird der menschliche Körper die
„Stadt der neun Tore“ genannt): Ohren, Augen, Nasenlöcher, Mund, Rektum und
Geschlechtsorgan (beim anderen Geschlecht zwei).
Das Einschläfern des Volkes von Pohjola mit dem Spiel des Väinämöinen und
das Öffnen der neun Tore mit seinem Gesang mit Ilmarinens Hilfe bedeutet die Erlangung
der Herrschaft über die physischen Sinne. Der Körper hat sein eigenes Bewusstsein
und der Wahrheitssuchende erreicht keine Herrschaft darüber, wenn er ihn nicht
als ein Lebewesen behandelt. Doch es ist wunderbar, die Herrschaft über seine
Sinne so zu erreichen, so dass man sie nach eigenem Willen öffnen und schließen
kann: Man sieht nicht, wenn man nicht sehen will, man hört nicht, wenn man
nicht hören will usw. Denn wenn man Gott sehen lässt, muss man die eigene Sicht
auslöschen; wenn man seine Ohren dem Schöpfer leiht, muss man die eigenen Ohren
verstummen lassen.
Die Aufgabe des Lemminkäinen, den Sampo aus dem Steinberg ans Tageslicht
zu holen, bedeutet, dass diesmal alle Kraftzentren und Nervenzellknoten durch
die Liebe belebt werden sollen. Das geschieht mit Hilfe des sog.
„Schlangenfeuers“, und die Kalevala nennt dieses Feuer den „guten Stier in
Pohjola“ und betont mit dieser Bezeichnung die mächtige Kraft, die im
Schlangenfeuer steckt; denn, wenn im Menschen das physische Schlangenfeuer
erwacht, wird er zuerst von einem solchen Kraftgefühl überwältigt, dass er die
Worte Jesu „ich habe die Welt besiegt“ buchstäblich versteht, und genauso
buchstäblich den Satz des römischen Dichters: Si fractus illabatur orbis, impavidum
ferient ruinæ[4] – so
unbesiegbar, so furchtlos, so stark fühlt er sich. Bald lernt er natürlich zu
unterscheiden, was in diesem Gefühl Illusion ist.[5]
Nur die Liebe (Lemminkäinen) ist berechtigt, diese Kraft zu einer den
ganzen Körper durchdringenden Kraft zu erwecken; sonst zieht sie den Menschen
unweigerlich zur schwarzen Magie, d.h. zur Benutzung der übernatürlichen
Fähigkeit für selbstsüchtige Zwecke.
Und wenn, gleich nachdem der Sampo herausgeholt worden ist, Väinämöinen bittet,
ihn nach Hause zu bringen,
„Nenähän utuisen niemen,
Päähän saaren terhenisen,
Siellä onnen ollaksensa,
Ainian asuaksensa…“
”Zu der nebelreichen Spitze,
Zu dem waldungsreichen Eiland,
Wo er voller Ruhe weilen,
Wo er immer bleiben könnte…” [42. Rune]
will man damit sagen, dass der Sampo, der vollständig gebaute
Sonnenkörper, nicht dem physischen Wachbewusstsein gehört, sondern im
Gegenteil, dass der Sampo sich in der unsichtbaren Welt, im Innenbewusstsein,
befindet, obwohl er aus dem geheimen Versteck des physischen Körpers
herausgeholt, mit Hilfe und aus Bestandteilen des physischen Körpers in allen
verschiedenen Daseinsformen den ganzen Weg lang erschaffen und gebaut worden ist.
Das physische Bewusstsein ist sein ergebener Diener.
Die große Arbeit ist erledigt, und wer würde sich mehr darüber freuen als
der Mensch, der sie durchgeführt hat?
Siitä vanha Väinämöinen
Läksi poies Pohjolasta,
Läksi mielellä hyvällä,
Iloten omille maille.
Zog der alte Wäinämöinen
Fort nun von des Nordlands Gränzen,
Ziehet fort mit froher Laune,
Freudig nach dem Heimathlande; [42. Rune]
32. DIE LETZEN ZWEIFEL
Die Vorahnung des Väinämöinen erwies sich als
richtig: Lemminkäinen hätte nicht singen sollen, bevor „Die eigne Thür man
siehet, Wenn die eignen Thüren knarren“ (42: 267‒268), denn die schlimmsten
Gefahren und die größten Qualen standen den Sampofahrern noch bevor. Bis dahin
war alles gut gegangen. Die Reise nach Pohjola war erfolgreich beendet und
während die Wirtin und das Volk von Pohjola in einen hypnotischen Schlaf
eingeschläfert worden waren, war der Sampo aus dem Steinberg geraubt worden.
Doch jetzt erwachte Pohjola aus dem Schlaf und Louhi, die Wirtin von Pohjola,
bereitete sich vor, den Sampo wiederzuerobern, denn als sie bemerkte, dass der
Sampo weg war,
Louhi Pohjolan emäntä
Tuo tuosta pahoin pahastui,
Katsoi valtansa vajuvan,
Alenevan arvionsa.
Louhi, sie, des Nordlands Wirthin,
Wurde nun gewaltig böse,
Merkte, daß die Macht ihr schwindet,
Daß ihr Ansehn niedersinket. [42. Rune]
In der Natur herrscht nämlich die allgemeine Regel, dass der Mensch, wenn
er sich die Herrschaft über eine Naturkraft verschafft, zu seinen Gegnern und
Feinden diejenigen bekommt, die über jene Kraft gewacht haben. Wenn der Mensch
bei der Erschaffung des Sonnenkörpers endlich den Sampo aus dem Versteck seines
physischen Körpers raubt, genügt es nicht, dass er seinen eigenen physischen
Körper besiegt hat. Die bestimmten, den Organen seines Körpers entsprechenden
Zustände im Kosmos und diese Kräfte, die Bewohner dieser Zustände, stellen sich
jetzt gegen ihn, den Wagemutigen. Und weil es hier um die Kräfte handelt, die
für die Selbstsucht stehen, sagt man, dass nun alle „Kräfte der Finsternis“ den
Menschen zum letzten, hoffnungslosen Kampf herausfordern. Auch die Kalevala hat
ja einen klaren Unterschied zwischen Kalevala und Pohjola gemacht. Kalevala
will den Sampo haben, damit er den Menschen Nutzen und Glück bringe, die
„geheime Truppe“ des finsteren Pohjola hingegen möchte ihn im Steinberg
versteckt aufbewahren, damit keiner etwas davon wüsste. Louhi, die Vertreterin
der finsteren Kräfte, bereitet sich deshalb vor, die Sampofahrer zu verfolgen.
Sie zaubert zuerst Nebel, Iku-Turso und Unwetter hervor, um den Sampofahrern
die Fahrt auf dem Meer zu erschweren.
Diese drei Erschwernisse sind: der Nebel des Zweifels und der
Verzweiflung, Iku-Turso, der „alte Drache“ der Selbstsucht und Begierde und das
Unwetter der unüberlegten Taten und deren Wirkungen. Es sind keine persönlichen
Schwächen, sondern kollektive Kräfte in der Menschheit, die den Eingeweihten
überfallen.
Ututyttö, neiti terhen,
U’un huokuvi merelle,
Sumun ilmahan sukesi,
Piti vanhan Väinämöisen
Kokonaista kolme yötä
Sisässä meren sinisen
Pääsemättänsä perille,
Kulkematta kunnekana.
Hauchte nun die Nebeljungfrau
Einen Nebel auf die Fluthen,
Sandte Dünste in die Lüfte,
Hielt den alten Wäinämöinen
Drei der Nächte nach einander
In des blauen Meeres Innerm,
Daß er nirgendhin entkommen,
Nirgendhin entrinnen konnte. [42. Rune]
Was den Segler umgibt und seine Seele einhüllt, ist der große Zweifel,
die Verzweiflung und die Trägheit der Menschheit. „Was redest du da für Unsinn?
Bist du etwa besser als wir? Eben strotztest du vor Kraft, hattest die Welt
besiegt, warst den Göttern ebenbürtig, und jetzt bist du unendlich müde! Wo ist
die Kraft, die du in deinen Gliedern spürtest, wo ist der Gott, dem du
vertrautest? Täuschung war das, verflüchtigend und vergänglich, wie alles unter
der Sonne! Du bist allein gelassen, wie auch wir alle. Leere und Finsternis
lacht dich ‒ wie auch uns ‒ aus. Glaubst du, dass jemand sich zu Gott gemacht
hat? Es ist alles Täuschung und Lüge. Kein Mensch hat gesiegt, denn die
Finsternis ist immer stärker als das Licht.“ Die Menschenseele befindet sich in
der Nacht der Bedrängnis und wäre verloren, wenn er sich nicht an das Schwert
des Geistes an seinem Gurt erinnern würde; wenn er nicht aus den Tiefen seines
lahm gelegten menschlichen Bewusstseins die Erinnerung an die Wahrheit
hervorrufen würde, für die er gelebt und gekämpft hat:
Yön kolmen levättyänsä
Sisässä meren sinisen,
Virkki vanha Väinämöinen,
Itse lausui, noin nimesi:
„Ei ole mies pahempikana,
Uros untelompikana
U’ulla upottaminen,
Terhenellä voittaminen.“
Veti vettä kalvallansa,
Merta miekalla sivalti,
Sima siukui kalvan tiestä,
Mesi miekan roiskehesta,
Nousi talma taivahalle,
Utu ilmoillen yleni,
Selvisi meri sumusta,
Meren aalto auteresta,
Meri suureksi sukeutui,
Maailma isoksi täytyi.
Als er drei der Nächt’ im Meere,
In den Fluthen so geruhet,
Sprach der alte Wäinämöinen,
Redet selber diese Worte:
„Selbst ein schlechterer der Männer,
Selbst ein schwächerer der Helden
Wird im Nebel nicht versinken,
Nicht in Dünsten untergehen.“
Fuhr durchs Wasser mit der Klinge,
Schlug das Meer mit seinem Schwerte,
Honig fließet von der Klinge,
Süßer Seim von seinem Schwerte,
Stieg der Dunst empor zum Himmel,
Hob der Nebel sich nach oben,
Rein vom Dampfe ward das Wasser,
Von dem Dunste bald die Fluthen,
Weiter dehnt sich aus das Wasser,
Größer muß die Welt nun scheinen. [42. Rune]
Ist die erste Gefahr nun vorbei, erscheint eine andere:
Oli aikoa vähäinen,
Pirahteli pikkarainen,
Jo kuului kova kohina
Viereltä veno punaisen,
Nousi kuohu korkeaksi
Vasten purtta Väinämöisen.
Wenig Zeit war hingegangen,
Kaum ein Augenblick verflossen,
Ist ein gar gewaltig Brausen
An des Bootes Rand zu hören,
Dort hebt Schaum sich in die Höhe
Zu dem Boote Wäinämöinen’s. [42. Rune]
Ilmarinen erschrak so sehr, dass „das Blut ihm aus den Wangen floß“, und
Väinämöinen, als er den Blick auf die Seite warf, erblickte dort ein Wunder:
Iku Turso Äijön poika
Vieressä veno punaisen
Nosti päätänsä merestä,
Lakkoansa lainehesta.
Iku-Turso, Sohn des Alten,
Hebt zur Seit’ des rothen Bootes
Seinen Kopf jetzt aus dem Meere,
Seinen Scheitel aus den Fluthen. [42. Rune]
Es handelt sich hier um die uralte Selbstsucht und Tierheit der
Menschheit, die in der Gestalt des alten Drachen seinen Kopf aus der Tiefe des
kosmischen Bewusstseins hervorhebt. „Was glaubst du mit deiner Selbstlosigkeit
erreichen zu können? Wie willst du damit der Welt nützen? Kennst du mich nicht?
Weißt du nicht, dass ich die Menschen in der Hand habe? Mir dienen alle, ich
bin der Gott der Menschen. Was erreichst du mit deinen Kenntnissen? Glaubst du,
dass sich jemand für sie interessiert? Und du willst die Erkenntnis der
Wahrheit besitzen! Du erkennst mich ja gar nicht? Ich bin die Wahrheit, nach
der die Menschen suchen. Ich schenke ihnen das Glück und die einzige
Glückseligkeit, nach denen sie sich sehnen: die Befriedigung ihrer Begierden.
Diene auch du mir und lass die Schwärmerei über die Erhebung der Menschheit!“
Der Mensch erschrickt, wie Ilmarinen, über den Anblick des
Mammonmonsters, vor dem sich die Menschheit kniet, zweifelt aber nicht mehr:
Vaka vanha Väinämöinen
Saipa korvat kourihinsa,
Korvista kohottelevi,
Kysytteli lausutteli,
Sanan virkkoi, noin nimesi:
„Iku Turso Äijön poika!
Miksi sie merestä nousit,
Kuksi aallosta ylenit
Etehen imehnisille,
Saanikka Kalevan poian?“
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Packt die Ohren mit den Fäusten,
Hebt ihn auf an seinen Ohren,
Fragte ihn und redet’ kräftig,
Redet’ Worte solcher Weise:
„Iku-Turso, Sohn des Alten!
Weshalb stiegst du aus dem Meere,
Weshalb kamst du aus der Tiefe
Vor das Aug’ der Menschenkinder
Und zumal der Kalewsöhne?“ [42. Rune]
Mit scharfen Worten fragt er den Mammonmonster, wie er sich erfrecht hat,
sich vor einem Gottessohn zu erscheinen, und von Angst überwältigt bekennt
Iku-Turso: „Hatt’ in meinem Sinn die Absicht, Kalew’s Stamm hier zu vertilgen,
Sampo nach dem Nord zu bringen“, und verspricht zugleich, dass er nicht mehr
daran denkt, wenn er lebend in die Meerestiefe zurückkehren kann. Was hätte man
mit ihm sonst machen können? Die Selbstsucht zittert vor der Gerechtigkeit und
ihr wortloses Beten lautet: Verschone mich, lass mich noch leben, ich lasse
dich in Ruhe! Und die Gerechtigkeit verschont die Selbstsucht, denn die
Uneigennützigkeit eines einzigen Menschen lässt das Böse nicht aus der Welt
verschwinden. Väinämöinen schmeißt Iku-Turso zurück ins Meer und verbietet ihm,
noch einmal aus den Wogen zu steigen.
Senpä päivyen perästä
Ei Turso merestä nouse
Etehen imehnisille,
Kuni kuuta, aurinkoa,
Kuni päiveä hyveä,
Ilman ihailtavata.
Niemals ist seit diesem Tage
Turso aus dem Meer gestiegen
Vor der Menschenkinder Augen,
So lang’ Mond und so lang’ Sonne,
So lang’ als das Licht des Tages,
Als die Lüfte Freude leihen. [42. Rune]
Die zweite Bedrängnis ist vorbei, und jetzt kommt die dritte. Nach
einiger Zeit lässt Ukko, der Gott im Himmel, ein Unwetter heraufkommen, wie es
Ilmarinen noch nie gesehen hatte:
Nousi tuulet tuulemahan,
Säät rajut rajuamahan;
Kovin läikkyi länsituuli,
Luoetuuli tuikutteli,
Enemmän etelä tuuli,
Itä inkui ilkeästi,
Kauheasti kaakko karjui,
Pohjoinen kovin porasi.
Tuuli puut lehettömiksi,
Havupuut havuttomiksi,
Kanervat kukattomiksi,
Heinät helpehettömiksi;
Nosti mustia muria
Päälle selvien vesien.
Winde fingen an zu blasen,
Heft’ge Stürme an zu toben;
Gräßlich blies der Wind aus Westen,
Heftig schnitt der Wind aus Südwest,
Kräft’ger kam der Wind aus Osten,
Scheußlich heulte er aus Südost,
Gräulich schrie der Wind aus Nordost,
Heftig brüllt’ der Wind von Norden.
Blies die Blätter von den Bäumen,
Blies vom Nadelholz die Nadeln,
Blies die Blumen von der Heide,
Blies die Fäserchen vom Grase;
Trieb den schwarzen Sand des Grundes
Auf des klaren Wassers Fläche. [42. Rune]
Hier handelt es sich um die Unselbständigkeit und die gedankenlose Hast,
die die Menschen, ohne einen einzigen zu verschonen, in ihren Strudel ziehen.
„Siehst du, der du ein Weiser genannt werden möchtest, nicht, welch eine blinde
Naturkraft hinter dem menschlichen Leben steht? Siehst du nicht, dass der
Mensch wie ein Espenblatt im Sturm der Entwicklung und des Schicksals flattert?
Welche neuen Pfade willst du gehen, was willst du den Menschen lehren? Willst
du etwa die Menschen selbständig machen, willst du etwa die Menschen befreien!
Menschen, die um Hilfe rufen, sobald ich meine Hand los lasse, wobei sie für
eine Weile die Stille atmen und nachdenken können! Die Menschen kennen mich
nicht: Sie nennen meine Stille Sturm und haben Angst vor ihr, mein Wüten aber
fasziniert sie. Je weniger sie selbst nachdenken und sich anstrengen müssen,
desto glücklicher sind sie. Sie lieben es, mit dem Wind zu gehen. Was willst du
mit deiner Selbständigkeit bei ihnen erreichen? Du erweckst nur ihren Zorn und wirst
von ihnen verfolgt!“
Ilmarinen verliert für eine Weile die Beherrschung, doch Väinämöinen
tadelt ihn: „Nimmer hilft aus Unglück Weinen, Jammern nie aus bösen Tagen.“
Zusammen mit Lemminkäinen stillt Väinämöinen dann mit seinen Worten die Winde
und Wellen und repariert das Boot, um es besser gegen die Wellen zu schützen.
Der Eingeweihte überwindet auch diese letzte Bedrängnis so, dass er sich
um das, was er hört und sieht, nicht kümmert. „Sei die Hand des Schicksals noch
so hart, sei der Wirbelwind der Entwicklung noch so heftig, die Aufgabe des
Menschen ist es, Herr seines Schicksals zu werden und die Zügel seiner Entwicklung
in die eigene Hand zu nehmen, denn nur so kann er Sohn des Gottes werden, dem
auch das Schicksal dient und für den die Entwicklung da ist.“
33. DER LETZTE KAMPF
Der letzte Kampf gegen die dunklen Kräfte
Pohjolas, gegen die Engel des Bösen und der Finsternis, findet in der
unsichtbaren Welt statt, selbst wenn ein Schatten des „himmlischen Kampfes“
sich auf das irdische Leben reflektieren und hier Hass, Verfolgung, Schmähung
und Unterdrückung seitens der Welt hervorrufen würde.
Der Kampf beginnt mit der großen Qual in Gethsemane. Der Mensch ahnt, was
kommen wird, und kämpft in seiner Seele; er ist erschüttert über das letzte
Opfer. „Vater, erspare es mir, diesen bitteren Kelch zu trinken!“ betet er und
Blutschweiß fließt über sein Gesicht. Doch bald darauf sagt er: „Doch nicht
mein Wille soll geschehen, sondern der deine.“
Die Kalevala schildert diese Qual so dramatisch wirkungsvoll und zugleich
so schlicht, dass wir deshalb die gesamte Beschreibung hier wiederholen möchten
(43. Rune, Strophen 23‒101).
Vaka vanha Väinämöinen
Laskevi sinistä merta,
Itse tuon sanoiksi virkki,
Puhui purtensa perästä:
„Oi sie lieto Lemmin poika,
Ylimmäinen ystäväni,
Nouse purjepuun nenähän,
Vaatevarpahan ravaha,
Katsaise etinen ilma,
Tarkkoa takainen taivas,
Onko selvät ilman rannat,
Onko selvät vai sekavat!“
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Steuerte im blauen Meere,
Redet’ selber diese Worte,
Sprach am Steuer seines Bootes:
„O du muntrer Sohn von Lempi,
Du, der höchste meiner Freunde,
Steige an des Mastbaums Spitze,
Klettre auf die Segelstange,
Blicke vor dir in die Lüfte,
Spähe hinterwärts am Himmel,
Ob der Lüfte Ränder klar sind,
Ob sie klar sind oder trübe!“ [43. Rune]
Lemminkäinen steigt an die Spitze des Mastbaums und schaut auf den Himmel.
„Klar erscheinen vorn die Lüfte“, meldet er, nur „eine kleine Wolk’ im Norden.“
Sanoi vanha Väinämöinen:
„Jo vainen valehtelitki;
Ei se pilvi ollekana,
Pilven lonka lienekänä,
Se on pursi purjehinen;
Katso toiste tarkemmasti!“
Sprach der alte Wäinämöinen:
„Redest wahrlich nicht die Wahrheit;
Ist wohl schwerlich ein Gewölke,
Schwerlich eine Hängewolke,
Ist ein Boot mit seinen Segeln;
Schaue nochmals scharfen Blickes!“ [43. Rune]
Lemminkäinen schaut noch einmal und meldet: „Scheint von Ferne her ein
Eiland, Espen angefüllt mit Falken, Birken voll von Auerhähnen.“
Sanoi vanha Väinämöinen:
„Jo vainen valehtelitki;
Havukoita ei ne olle,
Eikä kirjokoppeloita,
Ne on Pohjan poikasia;
Katso tarkoin kolmannesti!“
Sprach der alte Wäinämöinen:
„Redest wahrlich nicht die Wahrheit,
Sind daselbst ja keine Falken,
Auch nicht Auerhähne dorten,
Sind die Knaben von Pohjola,
Schaue scharf zum dritten Male!“ [43. Rune]
Und wenn Lemminkäinen zum dritten Mal schaut, bemerkt er seinen Irrtum
und sagt: „Kommt ein Boot daher von Norden, hundert Männer sind am Ruder,
tausend sitzen in dem Boote.“
Silloin vanha Väinämöinen
Jo tunsi toet totiset.
Wußt’ der alte Wäinämöinen
Endlich nun die ganze Wahrheit. [43. Rune]
Und ohne zu zögern befiehlt er den Ruderern, ihr Bestes zu geben, damit
das Boot von Pohjola sie nicht einholen könnte.
Souti seppo Ilmarinen,
Souti lieto Lemminkäinen,
Souti kansa kaikenlainen;
Lyllyivät melat lyhyiset,
Hangat piukki pihlajaiset,
Vene honkainen vapisi;
Nenä hyrski hylkehenä,
Perä koskena kohisi,
Vesi kiehui kelloloissa,
Vaahti palloissa pakeni.
Ruderte Schmied Ilmarinen,
Munter rudert Lemminkäinen,
Mit ihm rudern alle Leute;
Knarren that das Fichtensteuer,
Zischen auch die Ruderhaken,
Beben mußt der Tannennachen;
Wie ein Seehund lärmt die Spitze,
Wie ein Wasserfall das Ende,
Voller Wallung ist das Wasser
Und der Schaum enteilt in Ballen. [43. Rune]
Das Segelboot von Pohjola ist jedoch schneller als das Ruderboot von
Kalevala, und der alte Väinämöinen sieht
Jo tunsi tuhon tulevan,
Hätäpäivän päälle saavan.
Jetzo schon das Unglück kommen,
Unheil seinem Haupte drohen. [43. Rune]
Väinämöinen ahnt, dass der Kampf gegen das Volk von Pohjola auch für sein
Volk verheerend sein wird, doch bevor er den Mut verliert, probiert er noch
sein letztes Machtmittel. Er greift zur Magie und zaubert einen großen Felsen
ins Meer, um das Boot von Pohjola darauf auffahren zu lassen. So
geschieht es auch:
Tulla puikki Pohjan pursi,
Halki aallon hakkoavi,
Jopa joutuvi karille,
Puuttui luottohon lujasti;
Lenti poikki puinen pursi,
Satakaari katkieli,
Mastot maiskahti merehen
Purjehet putoelivat
Noiksi tuulen vietäviksi,
Ahavan ajeltaviksi.
Eilt herbei des Nordens Fahrzeug,
Kommt gerudert durch die Fluthen,
Fährt gerade auf die Klippe,
Haftete am Fels im Meere,
Mitten brach das Boot von Planken,
Ging entzwei mit hundert Rippen,
In das Wasser stürzt der Mastbaum,
Nieder sinken alle Segel,
Daß der Wind sie so entführte,
Fort die scharfe Luft sie raffte. [43. Rune]
Louhi, die Wirtin von Pohjola, eilt zu Fuß, das Boot aus dem Wasser zu
heben, doch wenn sie bemerkt, dass es zersplittert und zerstört ist, überlegt
sie eine Weile und verwandelt sich zu einem riesigen Adler: „Streift die Wolken
mit dem Flügel, Schlägt das Wasser mit dem andern.“ Ihr bewaffnetes Volk nimmt
sie auf ihren Schweif und unter die Flügel und fängt an, das Kalevala-Volk zu
belästigen.
Jo tulevi Pohjan eukko,
Lintu kumma liitelevi,
Harteista kuin havukka,
Vaakalintu vartalolta.
Yllättävi Väinämöisen,
Lenti purjepuun nenähän,
Vaatevarpahan rapasi,
Päähän pielen seisotaikse;
Oli pursi päin puota,
Laiva laioin kallistua.
Schon erscheint des Nordlands Alte,
Kommt der sonderbare Vogel,
An der Schulter wie ein Habicht,
Wie ein Adler an dem Körper.
Schon erreicht er Wäinämöinen,
Flieget zu des Mastbaums Spitze,
Klettert auf die Segelstange,
Setzt sich auf des Mastes Ende;
Nah dem Stürzen war der Nachen,
Auf die Seite neigt das Schiff sich. [43. Rune]
Ilmarinen betet zu Gott um Hilfe im bevorstehenden Kampf, doch
Väinämöinen fragt die Wirtin von Pohjola halb spottend, ob die Wirtin von
Pohjola nun gekommen sei, um den Sampo zu teilen. „Werde nicht den Sampo
theilen, Nicht mit dir, du Unglücksel’ger“, schreit Louhi als Antwort und
greift nach dem Sampo, der im Boot liegt.
Es beginnt ein bitterer Kampf. Lemminkäinen zieht sein Schwert aus dem
Gurte, schlägt zu und schreit:
„Maahan miehet, maahan miekat,
Maahan untelot urohot,
Sa’at miehet siiven alta,
Kymmenet kynän nenästä!“
„Nieder Männer, nieder Schwerter,
Nieder mit den schwachen Helden,
Hundert Männer in den Flügeln,
Zehn auf jeder Kralle Spitze. [43. Rune]
Väinämöinen sieht, dass das Ende nahe ist:
Vaka vanha Väinämöinen,
Tietäjä iän ikuinen
Arvasi ajan olevan,
Tunsi hetken tulleheksi.
Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Glaubte, daß die Zeit gekommen,
Daß die Stunde sei erschienen. [43. Rune]
Er zieht das Steuer aus dem Meer und haut damit dem Adler die Krallen ab,
eine nach dem anderen, so dass nur die kleinste übrig bleibt.
Pojat siiviltä putosi,
Melskahti merehen miehet,
Sata miestä siiven alta,
Tuhat purstolta urosta;
Itse kokko kopsahtihe,
Kapsahutti kaaripuille,
Kuni puusta koppeloinen,
Kuusen oksalta orava.
Von den Flügeln fielen Knaben,
Männer stürzten in die Fluthen,
Hundert Männer von den Flügeln,
Tausend Helden von dem Schweife;
Selber rauscht der Adler hastig,
Fällt er auf des Bootes Rippen,
Wie vom Baum die Auerhenne,
Von dem Fichtenzweig das Eichhorn. [43. Rune]
Aber, oh weh! Mit dem „Finger ohne Namen“ greift Louhi nach dem Sampo und
Sammon vuoalti vetehen,
Kaatoi kaiken kirjokannen
Punapurren laitimelta
Koskelle meren sinisen;
Siinä sai muruiksi sampo,
Kirjokansi kappaleiksi.
Zieht den Sampo in das Wasser,
Läßt den bunten Deckel sinken
Von des rothen Bootes Kanten
In des blauen Meeres Tiefe;
Dort zerbricht entzwei der Sampo,
Geht in Stücke ganz der Deckel. [43. Rune]
Das Volk von Pohjola war nun besiegt, aber zugleich auch der Sampo
zerstört worden!
Wie soll man das nun sinnbildlich verstehen? Weshalb wurde der Sampo
erneut verloren?
Den Kampf gegen das Volk von Pohjola müssen wir nicht sinnbildlich
erklären, weil es sich dabei um eine farbenfrohe und lebendige Schilderung eines
wirklichen Kampfes in der unsichtbaren Welt handelt; was darin physischer
Realismus ist, das hat im Jenseits seine wahren seelischen Entsprechungen. Doch
es bleibt die Frage, warum der Sampo, der Sonnenkörper, für dessen Erreichung
und Erschaffung so viel Arbeit geleistet wurde, so viele Gefahren und
Schwierigkeiten überwunden waren, noch einmal verloren wird, warum er in Stücke
zerbricht. Wir bedauern das Schicksal der Helden von Kalevala, wenn wir daran
denken, dass Ilmarinen ursprünglich den Sampo geschmiedet hat, und fragen: War
der scheinbare Sieg eigentlich nicht ein großer Verlust?
Hier zeigt die Kalevala jedoch wieder – mit dem mystisch-psychologischen
Schlüssel geöffnet – welch eine tiefe Lebenserfahrung und Weisheit in ihren
Runen verborgen liegt. Denn hätte sie den Sampo in heilem Zustand dem Volk von
Kalevala überlassen, wäre dann nicht Pohjola ohne alles geblieben? In diesem
Fall hätte die Kalevala den Dualismus betont, den ewigen Unterschied zwischen
Gut und Böse, den es in der göttlichen Weisheit nicht gibt. Kalevala hätte –
natürlich – das Gute vertreten, aber das Schicksal hätte Pohjola sozusagen zur
hoffnungslosen Finsternis und Verdammnis verurteilt, und die Helden von
Kalevala ‒ oder zumindest wir ‒ hätten denken können, dass das Gute und Rechte
seine Belohnung und das Böse die verdiente Strafe bekommen hätten.
Wenn die Kalevala hingegen den Sampo in Stücke zerbrechen lässt, gibt sie
uns damit ihre höchste sittliche Lehre. Der Sampo ‒ der Glücksbringer, die
Quelle der Weisheit ‒ ist nicht für den Einzelnen bestimmt. Mögen Ilmarinen
oder Väinämöinen noch so gut sein, der Sampo konnte nicht allein in ihrem
Besitz bleiben, solange sie gegen die Kräfte der Finsternis kämpften. Als sie
gegen sie kämpften, trennten sie sie von sich selbst ab; als sie sich zu Helden
Gottes machten, stießen sie gleichsam das Böse aus Gott hinaus. Doch ist das
möglich? Kann überhaupt etwas von Gott und seinem Leben unbeteiligt bleiben?
Kann es Bosheit geben, die Gott mit seiner Liebe nicht besiegen würde; kann es
so schwarze Unwissenheit geben, worauf das durchdringende Licht Gottes nie
scheinen könnte?
Nein, antworten wir darauf, so etwas gibt es nicht. Es gibt keinen
Teufel, den das grenzenlose Mitleid Gottes nicht eines Tages retten würde.
Deshalb wäre es ein psychologischer und noch mehr ein okkultistischer Irrtum
gewesen, den Sampo in heilem Zustand in den Händen des Volkes von Kalevala
bleiben zu lassen. Der Sampo musste in Stücke zerbrechen, so dass alle einen
Teil davon erhielten: Auch Louhi trug einen Teil davon, den Deckel, nach
Pohjola. So wurde dem Kalevala-Eingeweihten die letzte große Lektion erteilt:
die der vollkommenen Selbstaufopferung!
Nur wer sich ganz und endgültig opfern kann, kann ganz und endgültig zum
Vertreter Gottes, des Logos, auf Erden taugen. So ging ja auch Christus seinen
Weg auf Golgatha und starb am Kreuz für die Menschheit.
Mit tiefer menschlicher Wärme beschreibt die Kalevala die demütige und
frohe Dankbarkeit des Väinämöinen, als er sah, wie die Sampo-Stücke von Wind
und Fluten an Land getrieben wurden:
Vaka vanha Väinämöinen
Näki tyrskyn työntelevän,
Hyrskyn maalle hylkeävän,
Aallon rannalle ajavan
Noita sampuen muruja,
Kirjokannen kappaleita.
Hän tuosta toki ihastui,
Sanan virkkoi, noin nimesi:
„Tuost’ on siemen sikiö,
Alku onnen ainiaisen,
Tuosta kyntö, tuosta kylvö,
Tuosta kasvu kaikenlainen,
Tuosta kuu kumottamahan,
Onnen päivä paistamahan
Suomen suurille tiloille,
Suomen maille mairehille!“
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Siehet dort der Brandung Stoßen,
Sieht das Treiben zu dem Ufer,
Sieht wie zu dem Strand die Fluthen
Diese Sampotrümmer führen
Und des bunten Deckels Splitter.
Hatte darob große Freude
Redet Worte solcher Weise:
„Daher kommt des Samens Sprießen,
Wechselloser Wohlfahrt Anfang,
Daraus Pflügen, daraus Säen,
Daraus Wachsthum jeder Weise,
Daraus kommt der Glanz des Mondes,
Kommt der Sonne Licht voll Wonne
Auf den weiten Fluren Finnlands,
In Suomi’s Heimathsstrecken.“ [43. Rune]
Und das Gebet des Väinämöinen für sein Volk, nachdem er selbst alles
verloren hat, zeigt, wie vollkommen er sich selbst vergessen hat:
„Anna luoja, suo Jumala,
Anna onni ollaksemme,
Hyvin ain’ eleäksemme,
Kunnialla kuollaksemme
Suloisessa Suomen maassa,
Kaunihissa Karjalassa!“
„Gieb, o Gott, gewähr’, o Schöpfer,
Daß des Glückes wir genießen,
Glücklich durch das Leben gehen,
Ehrenvoll es auch beschließen
In dem lieben Finnenlande,
In der Heimath der Karelen!“ [43. Rune]
So endet die Erzählung über den Sampo und somit auch die Darstellung der
Kalevala über das große Einweihungsdrama. Das weitere Leben der Helden wird
allerdings noch aufgegriffen, und es wird erzählt, wie die Wirtin von Pohjola,
die ihre Macht verloren hat und im Wert gesunken ist, nach Rache trachtet und
dem Volk von Kalevala allerlei Schwierigkeiten bereitet (Runen 45 und 46), um
erst in der Rune 49 endlich besiegt zu werden. Doch der Kampf um den Sampo ist
beendet und der Sampo erscheint nicht mehr in heilem Zustand.
Jetzt fragen wir mit Recht: Kann denn der Eigeweihte seinen Sonnenkörper
nicht behalten? Wie soll man dann sein Verhältnis zu seinem eigenen, ewigen
Zauberkörper verstehen? Ist der Sampo für immer verloren? Wie steht es dann mit
der Unsterblichkeit des Eingeweihten? Liegt hier vielleicht nicht dennoch ein
noch größeres Mysterium verborgen?
Und wir antworten: Doch. Hinter dem Verlust des Sampo liegt sein erneutes
Wiederfinden verborgen. So ist das Gesetz des Lebens. Alles, was geistig
verloren wird, wird wiedergewonnen. „Wer seinen Geist verliert, der bekommt ein
ewiges Leben.“
Der Sampo-Körper wird eines Tages wieder dem Eingeweihten gehören. Darauf
weist die Kalevala in den folgenden Worten von Väinämöinen deutlich hin:
„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä, toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen Sammon saattajaksi,“
„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe, [50. Rune]
Und wenn wir fragen, wann das im Leben des Eingeweihten geschehen wird,
finden wir die Antwort gerade in dem oben geschilderten Kampf um den Sampo.
Natürlich dann, antwortet die geistige Sicht der Kalevala, wenn der Eingeweihte
nicht mehr kämpft, wenn er sich nicht mehr vom Bösen trennt und sich nicht an
die Seite Gottes gegen den Teufel stellt, sondern sich selbst dem Bösen als
Lösegeld gibt und sagt: „Ich kämpfe nicht mehr gegen die Kräfte der Finsternis,
sondern liebe sie und fange sie in mir selbst ein. Möge alles Böse über mich
und in mich herein kommen, damit ich es zum Guten verwandeln und als Gutes aus
mir hinaussenden könnte. Möge aller Fluch über mich kommen, damit er sich in
mir zum Segen verwandle!“
Diese Lehre verbirgt sich zugleich in der Erzählung als ein wunderbares
Versprechen für die Zukunft und die Auferstehung.
Wir kennen ein anderes Einweihungsdrama, in dem diese Auferstehung als
realistische Wirklichkeit dargestellt wurde. Das Neue Testament erzählt, wie
Christus in seinem unsterblichen Sonnenkörper die Macht des Tuoni besiegt und
aus den Toten aufersteht. Er ist ja demütig wie ein Opferlamm gestorben, ohne
jeden Widerstand zu leisten; er verbietet sogar Petrus, der zum Schwert greift,
ihn zu verteidigen. Doch was er in seiner größten menschlichen Qual am Kreuze
verliert, das gewinnt er in der größten göttlichen Freude in seiner Auferstehung
wieder. Und das, worauf die Kalevala als eine Vorahnung hinweist, erfüllt sich
also in einer anderen heiligen Schrift als ein leuchtendes Wunderereignis.
IV
MAGIE IN DER KALEVALA
OKKULTISTISCH-HISTORISCHER SCHLÜSSEL
34. UNSERE ERKLÄRUNG DER MAGIE
Unter dem Wort Magie versteht man
normalerweise Hexenkunst oder Zauberkunst, womit gewünschte Ziele des materiellen
Lebens schneller und sicherer als mit natürlichen Mitteln erreicht werden
können. Sie wird gut oder weiß genannt, wenn man damit nach Nutzen und Vorteile
für sich selbst oder seine Freunde sucht, wenn man sie hingegen benutzt, um
damit den anderen Schaden zuzufügen, wird sie böse oder schwarz genannt.
Allan Menzies[6] sagt
in seinem im Jahr 1910 auf Finnisch erschienenen Buch History of Religion: „Jede primitive Religion enthält eine gewisse
Menge Magie, sogenannte Zauberkünste, mit denen man glaubt, Ereignisse
beeinflussen oder voraussagen zu können. Der Mensch der alten Zeit weiß nicht,
dass die Ereignisse bestimmten Naturgesetzten oder der Wechselbeziehung von
Ursache und Wirkung unterworfen sind; deshalb glaubt er, den Gang der Natur in
mancher Weise beeinflussen zu können. Er kopiert etwas, was er für die Ursache
der Ereignisse hält, und glaubt, dadurch ähnliche Resultate erzielen zu können;
oder er benutzt die Macht, die er glaubt, über die Geister zu besitzen, um diese
dazu zu bewegen oder zu zwingen, seine Wünsche zu erfüllen; oder er manipuliert
Gegenstände, in denen er irgendeine geheime Kraft vermutet, auf eine solche
Weise, wie er das gewünschte Ziel zu erreichen glaubt. Der Aberglaube befasst
sich also mit Animismus und Fetischismus, d.h. sowohl mit dem Geisterglauben
als der Anbetung zufälliger Gegenstände. In einem Stamm gibt es gewöhnlich eine
gewisse Person, die diese Dinge kennt und damit umzugehen versteht.“[7]
Man hat also beinahe den Eindruck, als würde sich Prof. Menzies bei der
Magie und Mystik auf den Standpunkt des Zeitalters der Aufklärung stellen und
sie als bloßen Aber- und Irrglauben abstempeln. Einen wissenschaftlich
richtigeren und vorsichtigeren Standpunkt vertritt Prof. Heinrich Schurtz[8]
in seinem umfangreichen, im Jahr 1915 auf Finnisch erschienenen Buch Kulttuurin alkuhistoria (Urgeschichte der Kultur)[9], in dem
er sagt: „Der Forscher der heutigen Zeit steht vor sehr schwierigen Problemen. Genauere
Kenntnis des Hypnotismus hat gezeigt, dass eine ausschließlich negative
Einstellung und zerreißende „Skepsis“ nicht ausreichen, sondern ein Großteil
davon, was bei den primitiven Völkern als Mystik erscheint, einen
wissenschaftlich beweisbaren Grund und Boden hat. So hat zum Beispiel die
bequeme Meinung, dass alle Schamanen und Medizinmänner geschickte Gaukler und
Taschenspieler waren, einen Todesstoß erlitten.“[10]
Die Finnen und Lappen waren nach der Meinung der Nachbarvölker immer
mächtige Hexen und Zauberer, und sie haben natürlich einen guten Grund für ihre
Meinung gehabt. So viele Zaubersprüche und Beschwörungsformeln hat sicherlich
kein anderes christliches Volk aufbewahrt als unser Volk. C. A. Gottlund sagt
in seiner Abhandlung „Vanhoin Suomalaisten viisaus ja opin keinot“ (Weisheit
und Künste der Lehren der alten Finnen): „Sie (die finnischen Völker) sind
erstens dadurch gekennzeichnet, dass kein anderes Volk der Erde so berühmt für
ihre Zauberei und Hexenkünste geworden ist als dieses finnische Volk. Durch
diese Künste haben sie Lehren oder Erkenntnisse erworben, die ‒ zum Teil durch
rohe und seltsame Bilder, zum Teil durch merkwürdige Ereignisse, die bisher keiner erforscht hat ‒ sehr
gut sichtbar sind. Innerlich enthält diese Lehre nicht nur unsinnige Sachen,
sondern auch viele große Erkenntnisse und
Weisheiten. Dadurch erklärt sich, dass die Finnen, selbst wenn sie damals
in einer Geistesverdunkelung lebten, trotzdem eine natürliche und vielleicht
seltsame Weisheit besaßen, die ganz
groß war, obwohl sie unnatürlich gemacht und auf eine merkwürdige Weise gezeigt
wurde. Mit dieser Weisheit und diesem Unsinn flößten sie den anderen Völkern
Angst ein und wurden für mächtiger und wissender als andere Menschen gehalten.
Man sagte allerdings, dass sie im Bund mit dem Teufel standen und von diesem
ihre Weisheit und ihre Macht bekamen. Die Menschen waren schon immer bereit,
unerklärliche Dinge auf eine unnatürliche Weise zu erklären. Und wenn die
Ausübung der Magie ein Zeichen mangelnder Aufklärung des finnischen Geistes
wäre, so waren auch die nicht klüger, die daran glaubten und darauf
vertrauten.“[11]
Bereits im Jahr 1782 erschien in Turku eine Dissertation von K. S.
Lencqvist über den theoretischen und praktischen Aberglauben der alten Finnen (Dissertatio de superstitione veterum
Fennorum theoretica et practica), und weil darin magische Phänomene
ausführlicher als in den späteren Büchern, die wir gesehen haben, aufgeführt
und klassifiziert werden, möchten wir die Klassifizierung von Porthan Lencqvist
hier kurz wiedergeben.[12]
„Guttuende Beschwörungskunst“, weiße Magie ist:
1) Weissagung a) mit Hilfe eines
mit Wasser (später mit Branntwein oder Kaffee) gefüllten Bechers, b) aus
Kleidungsstücken eines Kranken, c) mit Hilfe der Geister, d) durch Verlosung
(mit einem Sieb oder Hexentrommel) und e) durch Auswahl der Tage.
„Geister waren gleichsam Vorboten kommender Ereignisse, und diese sah man
in vielen Vorkommnissen und zufälligen Begebenheiten. So bedeutete das
Ohrensausen, dass Neuigkeiten zu erwarten waren; die Begegnung eines Weibes,
das Stolpern an der Schwelle und das vom Pferd Fallen waren angeblich böse
Geister; das Krähen der Dohlen, das Miauen der Katze und das Kitzeln der Backen
oder des Kinns bedeuteten, dass Gäste zu erwarten waren. Vorboten des Todes gab
es viele: z.B. das Klopfen der Totenuhr
an der Wand (Thermes Pulsatorium),
das Heulen der Hunde und der Schrei des Uhus, kreuzweise gelegte Grashalme oder
Späne vor der Tür“ usw.
Die Auswahl der Tage gründete sich anscheinend auf astrologische Angaben.
„Sie hatten ihre glücklichen und unglücklichen Tage.“ Die letzten Tage des
abnehmenden und die ersten des zunehmenden Mondes waren „leere Tage“, weil der
Mond nicht zu sehen war. An diesen Tagen war es nicht ratsam, das Feld zu
besähen oder zu düngen.
2) Verzaubern, womit die Magier
sich selbst gegen Schäden und Unfälle stärkten und imstande waren, sie zu
verhindern und von sich abzuwenden.
a) Mit ihren Beschwörungsformeln und anderen Mitteln versuchten sie,
ihren Körper unverletzbar zu machen und gegen allerlei Waffen zu sichern, das
Vieh gegen Angriffe von Raubtieren zu schützen, ihre Wohnungen gegen Feuer und
ihre Vehikel gegen Diebe zu sichern und ihre Sache mit Erfolg vor Gericht zu
verteidigen.
b) Durch Vereidigung versuchten sie, Schäden durch Naturgewalten und
schädliche Tiere abzuwenden.
c) Mit Beschwörungen versuchten sie, Bären, Krankheiten und andere Übel
zu von sich und ihren Freunden abzuwenden.
d) Durch Vorbeugung (Kreuzzeichen, die Socken verkehrt herum drehen,
bestimmte Knoten machen, Geschenke, Opfergaben usw.) dachte man, dass man Ränke
und Vorhaben böser Menschen, die einem mit ihren Zaubertricks schaden wollten,
abwenden könnte.
e) Durch Zurückdrehen glaubte man, sich gegen von Feinden zugefügte
Schäden und Frevel sichern zu können. Die Meister dieser Kunst versuchten also,
ihnen zugefügte böse Taten zurückzudrehen.
f) Durch Zurückschicken versuchten die Magier, Schäden zu reparieren und
verlorene Gegenstände in unversehrtem Zustand zurückzubringen. So zwangen sie
z.B. den Dieb, die gestohlene Ware zurückzubringen und die sich von ihrem Mann
entfremdete Ehefrau, die Liebe zu ihrem Mann zurückzufinden.
3) Glück erstreben oder bringen. Das geschah zum Teil durch
mancherlei Geheimtricks, zum Teil mit Hilfe eines gewissen Hausgeistes
(Lencqvist nennt ihn spiritus familiaris,
„piritys“; wir würden ihn Heinzelmännchen oder Schutzgeist nennen), der seinen
Freunden Reichtum, Geld und andere Gaben bringt.
„Als Böses tuende Beschwörungskunst“ oder schwarze Magie wird folgendes
aufgezählt:
1) Augendrehen. „Dabei
verwirren die Zauberer mit ihren Zaubertricks alle seelischen und körperlichen
Funktionen anderer Menschen bis zu dem Grad, dass diese nicht Herr ihrer selbst
sind, sondern das, was man von ihnen erwartet, hören, sehen und fühlen usw.,
oder sich selbst Schaden zufügen.“ Lencqvist nennt Methoden, mit denen man
Augen, Ohren, Zunge und Phantasie trügt, wie man den anderen außer sich bringt,
wie man die Bewegungsfreiheit des anderen erschwert oder ganz lahm legt, wie
man nach Belieben Gefühle des anderen in Wallung bringt. Alle diese Phänomene
werden heute als Hypnotismus bezeichnet.
2) Magie in einem engeren
Sinne, wobei man „mit gottlosen Tricks nach Leben, Erfolg und Eigentum der
anderen trachtet und kein Mittel scheut, um das verbrecherische Ziel zu erreichen,
wenn bloß die Sache geheim und ohne Gefahr durchgeführt werden kann.“ Für
diesen Zweck benutzte man insbesondere den Hexenschuss, den man „tyrä“ nannte.
Es handelte sich dabei um ein knäuelartiges Ding, das im Inneren des Körpers so
heftige Schmerzen verursachte, dass die Folge davon unweigerlich der Tod war.
Man konnte auch den Feind mit Krankheiten quälen oder ihn zu Wahnsinn, Lähmung,
Blindheit oder Hinken treiben. Auch die Ehe des anderen versuchten die Magier
zu stören und unglücklich, unfruchtbar, zänkisch oder auf eine andere Weise
elend zu machen. Sogar den Charakter seines Feindes versuchte man zu verderben,
so dass aus ihm ein Räuber, Ehebrecher, Säufer, Verschwender oder sonst ein schlechter
Menschen wurde.
3) Stöße und Flüche, die man „seinem Feind oder
Gegner lauthals ausstieß und ihm selbst und seiner ganzen Sippe alles Böse
wünschte“. Diese wurden durch bestimmte Zeremonien und Sprüche durchgeführt,
die noch mit allerlei gottlosen Hilfsmitteln verstärkt wurden.
Von Hilfsmitteln, die die Zauberer – sowohl die weißen als die schwarzen
– für ihre Zeremonien benutzten, erwähnt Lencqvist u.a. folgende:
1) Zauberzeichen, Buchstaben,
Nummern oder andere Zeichen, und wir können noch hinzufügen:
2) Zaubergegenstände, z.B.
Siebe, Hexentrommel usw.
3) Formeln, d.h. Wörter und kurze
Sätze, mit denen Krankheiten geheilt, Schlangen usw. verzaubert wurden.
4) Sprüche, d.h.
Entstehungsworte und eigentliche Beschwörungsformeln.
5) Gänge und Tricks. „Man muss also vor dem
Sonnenaufgang mehrere Male um Friedhöfe gehen, hier und da menschliche Gebeine
eingraben, einen Gegenstand, welchen auch immer, ohne die Augen zu drehen
hinter sich schmeißen, sich einen Talisman umhängen, mit einem Atemzug, ohne
mit den Augen zu zwinkern, eine bestimmte Strecke durchlaufen“ usw.
6) Seltsame leidenschaftliche
Emotionen und Bewegungen. „Wenn man das Böse erwecken oder beseitigen muss,
macht man sich an diese Arbeit mit fürchterlichen und gleichsam furiosen
Bewegungen, murmelnd und den Körper in alle Richtungen drehend.“
7) Bünde mit dem Teufel. „Es
besteht nämlich keinen Zweifel, dass es solche gegeben hat, die in ihrer
Gottlosigkeit und Dummheit so weit gegangen sind, dass sie einen Bund mit dem
Feind Gottes und der Menschheit geschlossen haben, um von ihm für ihre
gottlosen Vorhaben ewig Hilfe zu bekommen. Die Wahrheit ist, dass der Samen der
Gottlosigkeit dem Heidentum zuzuschreiben ist. Denn wir haben mit unseren
Ausführungen bewiesen, dass unsere Vorfahren glaubten, dass es gewisse böse
Feen und Geister gab, bei denen manche Menschen Hilfe suchten.“
Damit haben wir uns eine in seinen Grundzügen ziemlich zufriedenstellende
Vorstellung über die geheimen Methoden der sogenannten Magie oder Zauberkunst –
soweit bekannt – machen können. Auch die Kalevala ist voll von dieser Magie.
Alle ihre Helden, Lemminkäinen, Ilmarinen, Joukahainen und Louhi, beherrschen
die Beschwörungskunst, und vor allem Väinämöinen, dessen Worte, Gesang und
Spiel nicht nur eine verzaubernde, sondern eine geradezu schöpferische und
Wunder wirkende Kraft haben. Als Talisman erscheint die Bürste des Lemminkäinen,
aus der, als er gestorben war, seine Mutter und seine Frau Blut rinnen sahen.
Väinämöinen benutzt einmal die Losung, als der Mond und die Sonne aufgehört
hatten zu scheinen (49: 75‒110). Es wird auch erzählt, dass er Kranke mit Salben
und magnetischen Blicken, mit Hand Auflegen, Pusten, Beten und
Beschwörungsformeln heilte (45: 313‒362).
Beim Lesen der Kalevala fallen diese magischen Einzelheiten jedoch nicht
so sehr auf, weil sie darin vorwiegend als natürliche und alltägliche
Nebensachen erscheinen. Die Handlung, der edle Inhalt und die ästhetische
Harmonie der Schilderung sind Merkmale, die beim Lesen der Kalevala den
tiefsten und nachhaltigsten Eindruck machen. Doch die Frage, die sich jeder
aufmerksame Leser stellt, lautet: „Derartige Erzählungen haben wohl keinen wahren
Grund und Boden?!“ Und manch ein Leser gibt sich selbst ohne zu zögern die
Antwort: „Natürlich nicht!“
Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Schroffe Ablehnung führt nicht sehr
weit. Der Forscher, wie Prof. Schurtz oben bemerkt, ist heute nicht mehr in derselben
Lage wie der Wissenschaftler der Aufklärungszeit. So viele geheime Kräfte der
menschlichen Seele (z.B. Hypnotismus, Hellsehen, Psychometrie) sind bereits
allgemein bekannt, dass wir uns für unwissend oder Humbugwissenschaftler
abstempeln, wenn wir zu „Märchen“ und „Wundergeschichten“ nur mit den Achseln
zucken.
Was den Autor dieses Buches anbelangt, so hat er keinen Grund, die
Wahrhaftigkeit der magischen Phänomene und der Magie zu leugnen. Im Gegenteil,
er muss – auch auf Grund seiner eigenen Erfahrung – sagen, dass er weiß, dass
viele der oben genannten Phänomene mit der Wirklichkeit übereinstimmen; er
könnte sogar noch solche erwähnen, die hier nicht angegeben sind. Das bedeutet
jedoch nicht, dass er sie, moralisch gesehen, ohne Weiteres gutheißen würde.
Wir wundern uns nämlich nicht über die allgemeine Meinung und über die
Kritiker, in deren Augen die Zauberei und Magie wesentliche Merkmale jeder
Weltanschauung sind, deren Blick nicht über das gegenwärtige materielle Leben
hinaus reicht. Ständige Sorge um Vorteile und Bedürfnisse, Erfolg und das materielle
Leben und dessen Sicherung ist wirklich kleinlich und verachtenswert, und, wenn
man sich Sorgen machen muss, ist zweifellos ehrliche Arbeit und Aufrichtigkeit
mit der Zeit bessere Magie als allerlei Beschwörungsformeln und Zaubertricks.
Aufklärung, Bildung und die christliche Weltanschauung haben in dieser Hinsicht
ohne Zweifel erhebende Wirkung auf die Völker ausgeübt. Doch die allgemeine
Meinung und Kritik hängen von der Auffassung über die Magie ab, die heute
vorherrschend ist. Würde sich die Auffassung ändern, würde auch die Kritik
anders lauten.
Wir wollen hier durchaus nicht versuchen, die allgemeine Meinung über die
Magie zu verändern. Wir wollen nur unsere eigene Meinung vorbringen, die dem
Leser sicherlich bereits klar geworden ist, nämlich dass die Magie in
Wirklichkeit und ursprünglich etwas ganz anderes als nur Zaubertricks und Beschwörungsformeln
ist. In Wahrheit ist Magie Tätigkeit in der Unsichtbaren Welt und also
identisch mit dem Wissen. Ein Weiser ist gerade der Mensch, der gewisse Kräfte
in der unsichtbaren Welt beherrscht. Deshalb ist seine Tätigkeit als Weiser in
Wahrheit Magie, magische Tätigkeit. Diese Tätigkeit bewegt sich durchaus nicht
auf dem Gebiet des materiellen, physischen Lebens; im Gegenteil, seine Ziele
sind überphysischer und spiritueller Art. Wahre Magie betrifft das materielle
Leben nur mittelbar; sie fördert nur das geistige Wachstum und die Geistesbildung
der Menschheit. Andersartige Magie, wenn man dabei wirklich geheime Kräfte
benutzt, ist Prostitution der göttlichen Kunst.
In der magischen Tätigkeit des Weisen äußert sich die Art und Weise, wie
er sich zu seiner Umgebung und der Menschheit verhält. Eine Seite seiner
Tätigkeit ist geradezu erzieherischer Art, ist eigentlich Erziehung. Seine
Aufgabe ist es, Menschen zu bilden, auf sie einzuwirken, ja sogar einige als
seine Jünger zu werben. Wir können also sagen, dass die Magie in dieser begrenzteren
Bedeutung eine seelische Methode ist, die der Weise bei der Erziehung der
Menschen und bei der Beschaffung der Jünger anwendet.
Im Folgenden wollen wir über ein paar Einzelheiten von dieser
Erziehungsmethoden der Kalevala-Weisen berichten. Dabei wird es vermutlich klar
werden, warum wir sie magisch oder mit dem Sammelbegriff Magie nennen.
35. IN VERGANGENHEIT UND HEUTE ‒ ZWEI
MENSCHENTYPEN
Um die magischen Erziehungsmethoden der
Kalevala-Weisen richtig zu verstehen, müssen wir einen Blick auf den Hintergrund,
auf die menschliche Umgebung, werfen, in der sie arbeiteten. Diese Umgebung
sollte man nicht in der Zeit suchen, in der die Kalevala-Runen in ihrer
heutigen Form gesungen oder verfasst wurden, sondern in einer viel weiter
zurückliegenden Zeit – in der Zeit, von der die Runen, zumindest stellenweise,
wirklich erzählen. Wir wollen nicht einschätzen, wie viele Jahre wir uns in der
Zeit zurückversetzen müssen. Die Kalevala singt, wie wir sehen werden, von so
vielen Zeiten, dass wir über mehrere Jahrhunderte, Jahrtausende, ja sogar mehrere
Jahrtausende zurückliegende Zeiten sprechen können. Wir müssen uns zeitlich nur
so weit zurückversetzen, bis wir in eine Umgebung kommen, die sich in
seelischer Hinsicht am meisten von der heutigen Menschheit unterscheidet und
zugleich die erste ist, in der die weisen Helden der Kalevala tätig waren.
Denn, wenn wir die magische Atmosphäre der Kalevala sehen und fühlen können,
führt sie uns ‒ ungeachtet der Zweifel der Wissenschaftler ‒ sehr weit in die
„prähistorische“ Zeiten zurück, in der das heutige finnische Volk noch nicht
existierte, in der aber unsere Vorfahren – und warum sollten wir sie nicht auch
Finnen nennen – lebten und wirkten. Die Vergangenheit und der Ursprung des
finnischen Volkes liegt in einer weit zürückliegenden Vorzeit, aber eines ist
aus okkulter Sicht sicher: Unser Geist, unsere Kultur, wie sie in der Kalevala
dargestellt wird, ist atlantischen Ursprungs.[13]
Der Form und der Darstellungsweise nach ist die Kalevala natürlich ein arisches
Erzeugnis, doch wenn man ihren Geist tiefer erforscht, so treten die atlantischen
Bilder und Eindrücke zum Vorschein. Und um die Magie der Kalevala richtig zu
verstehen, müssen wir uns deshalb eine Vorstellung von der Seele des atlantischen
Menschen machen.
Wir haben bereits von dieser vierten, atlantischen Wurzelrasse der
Menschheit gesprochen und dabei gesagt, dass die atlantischen Menschen viel
mehr Gefühlsmenschen waren als die der heutigen fünften, der arischen
Wurzelrasse.[14] Eine
so kurze Definition ist natürlich sehr unvollständig. Um uns wenigstens
irgendeine Vorstellung von dem atlantischen Menschen zu machen, sollten wir ihn
am besten mit dem europäischen Individuum vergleichen.
Wie könnten wir ihn, den Menschen von heute, in seelischer Hinsicht
definieren? Sein innerstes und geheimstes Wesen ist zwar das Gefühl, aber er
ist bestrebt, mehr und mehr seinen Verstand einzusetzen und dadurch sich selbst
und seine Taten zu zügeln und zu lenken. Offiziell erkennt er die Übermacht des
Verstandes an und bedauert, dass er sich in seinem alltäglichen Leben bei
weitem nicht immer von ihm beherrschen lässt; zugleich hat er eine vage Ahnung,
dass der Verstand viel mehr ist als die egoistisch kalkulierende und
eigennützige Scharfsinnigkeit. Sein Wachbewusstsein ist im Wesentlichen
Gedankentätigkeit; der Mensch, der seinen Verstand nicht einsetzen kann, ist in
seinem Wachbewusstsein krank und wird von anderen Menschen als geisteskrank
isoliert. Sein Gedankenleben wiederum gründet sich auf sinnliche Wahrnehmungen.
Sein Traumbewusstsein ist unklar, oft verworren und unsinnig, und er macht
einen klaren Unterschied zwischen dem Wach- und dem Traumbewusstsein.
Je mehr er sich europäisiert, desto selbständiger möchte er werden. Die
geistige Kraft der Bildung liegt darin, dass sie ihn zu einem individuellen und
persönlichen Wesen macht. Er ist sich selbst, nicht nur „Sohn seines Vaters“
oder Mitglied einer gewissen Familie. Individuelle Freiheit ist seine Losung,
und in der Gesellschaft, in der er lebt, möchte er möglichst viel freie Konkurrenz
walten sehen.
In seinem Inneren bleibt der Mensch sich immer gleich, doch in seiner
Persönlichkeit ändert er sich, je nach Zeiten und Umständen. Die alte
atlantische Persönlichkeit war wirklich ganz anders als die europäische!
Der durchschnittliche Atlantis-Mensch war in der Entwicklung seiner
Vernunft und seines Denkens bei weitem nicht so fortgeschritten wie der
Europäer; er war gar nicht so selbständig, nicht einmal in gleichem Maße
individualisiert. Er besaß keinen „eigenen Willen“. Er dachte und betrachtete
alle Dinge wie seine Eltern, seine Familie und sein Stamm; er lebte gleichsam
in ihnen und sie in ihm ‒ auch die Verstorbenen waren in seiner Erinnerung
immer anwesend. Er bestand beinahe nur aus Gefühl und Phantasie. Er war eher
ein Teil der Gruppenseele als eine selbständige Individualseele; und dies ist bei
den alten Völkern der Ursprung und der psychologische Hintergrund der Anbetung der Verstorbenen.
Auch sein Wachbewusstsein war anders organisiert als das des heutigen
Menschen. Es bestand nur in geringem Maße aus Denken und Vernunft; das Gefühl
war seine Welt. Es bedeutete, dass ein Großteil davon, was wir heute das
Traumbewusstsein nennen, damals zum Wachbewusstsein gehörte. Die Seele des
Atlantis-Menschen war voll von „Traumbildern“: Die Gefühle der anderen traten
in sein Bewusstsein als Bilder ein; bei gegenseitiger Kommunikation benutzte
man weniger Worte als heute; das physische Äußere der Menschen und Tiere
erschien ihm – insbesondere in der atlantischen Frühzeit – beinahe unklarer als
deren Gefühle; auch die Natur sprach ihm ihre eigene Sprache; Blumen auf der
Wiese, Steine auf der Erde, Bäume im Wald, Seen, Berge, Wolken, Winde,
Gewitter, Sonne, Mond und Sterne – sie alle reflektierten gewisse
Stimmungsbilder auf sein Bewusstsein. Deshalb ist es nicht schwer zu verstehen,
warum alle alten Völker auch Animisten waren. Der Manismus und der Animismus,
wie wir sie bei den uns bekannten alten Völkern antreffen, stammen direkt aus der
atlantischen Frühzeit.
Doch für den atlantischen Animismus gibt es auch einen anderen Grund.
Gerade weil der Atlantis-Mensch sich in seinem Wachbewusstsein zum Teil im
Traumbewusstsein befand, konnte er nicht nur Gefühle der Natur, sondern auch
unsichtbare Naturwesen, sogenannte „Feen“, sehen. Diese sind zum Teil
phantastische, sich verflüchtigende Gestalten, die aus den inneren
Lebensströmungen in der Pflanzenwelt, in der Luft, im Wasser und im Feuer
entstehen, aber zum Teil auch lebende Wesen, wirkliche Schutz- oder
Naturgeister, die in den Elementen wohnen und zu einem völlig anderen
Entwicklungssystem gehören als z.B. Menschen und Tiere. Wenn der hellsehende
Geheimwissenschaftler heute in der unsichtbaren Welt diesem Leben und diesen
Geistern begegnet, kann er sie ohne Weiteres mit seinen Gedanken und seinem
Willen beherrschen. Anders verhielt es sich mit dem Atlantis-Menschen. Seine Vernunft
war nicht genug entwickelt, und deshalb konnte er auch seinen Willen nicht
selbstbewusst einsetzen. Er musste sein Gefühl benutzen und auf diese Weise,
ohne es zu wissen, seinen Willen erwecken. Wie ging es vor sich? Durch
Beschwörungsformeln. Der Atlantis-Mensch hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Von klein an lernte er mancherlei Beschwörungsformeln und „Entstehungsworte“
auswendig. Diese benutzte er, falls erforderlich, in seinem Alltag und durch
sie kommunizierte er mit der Natur und deren Wesen, bat sie um Hilfe oder zwang
sie mit seinen Beschwörungen und Zaubersprüchen, ihm zu gehorchen.
Beim Schlafen versetzte sich sein Bewusstsein, viel leichter als beim
Menschen von heute, in den Teil des Bewusstseins, den wir das Innenbewusstsein
genannt haben. Wen der Schlafende heute ohne störende Traumbilder schlafen
kann, fühlt er sich beim Erwachen besonders frisch und gestärkt. In diesem Fall
ist er aus dem Traubewusstsein in sein Innenbewussten geschlüpft, und dieses
Getrenntsein von den Sorgen des Wachbewusstseins und die Ruhe auf dem Schoß
seiner eigenen Seele haben ihm natürlich neue körperliche und seelische Kräfte
verliehen. Für den Atlantis-Menschen war das eine allnächtliche Erfahrung, und
auch das ist ein Grund, warum die alten Völker im Allgemeinen gesünder waren
als die Menschen von heute. (Wenn sie krank wurden, wurden sie oft so geheilt,
dass sie an irgendeinem heiligen Ort, in einem Tempel oder anderswo, zum
Schlafen gebracht wurden. Der Umgang in der inneren Welt mit dem guten und
reinen Geist des Platzes brachte schnell die Heilung. Und weil eine Vorstellung
im Bewusstsein auch in der Krankheit ihr Gegenstück hatte, konnte wiederum ein
anderes Mal der „Arzt“, d.h. der Heiler oder Magier, mit seinen Zaubersprüchen
und Beschwörungen die Vorstellung und damit oft auch die Krankheit vertreiben.)
Der Schlaf des Atlantis-Menschen unterschied sich jedoch wesentlich von dem
traumlosen Schlaf des heutigen Menschen. Wenn der Mensch von heute aus dem
traumlosen Schlaf erwacht, erinnert er sich an nichts: Er glaubt vielleicht,
dass er die Nacht in einem bewusstlosen Zustand verbracht hat. Anders verhielt
es sich bei dem Atlantis-Menschen. Damals entsprach das Versinken in das
Innenbewusstsein dem heutigen Übergang zum Traumbewusstsein, und als der
Atlantis-Mensch davon erwachte, brachte er die Erinnerung daran mit sich. Er
war in einer anderen Welt gewesen, er war als Seele in der Welt der
Verstorbenen und Götter gewandert, er hatte mit höheren Wesen gesprochen und
gleichsam am kosmischen Leben der Welt teilgenommen. Deshalb glauben die
Naturvölker immer noch, dass die Seele des Menschen beim Schlafen in fremden
Ländern schwebt. Doch wenn man heute die Erinnerung an den Übergang des
Bewusstseins in das Innenbewusstsein auf jene Weise beibehalten will, muss man
eine gewisse psychische Trainingsmethode anwenden und lernen, „in Trance zu
gehen“; wie wir bereits erwähnt haben.[15]
Wenn wir diese psycho-physiologischen oder seelisch-körperlichen
Unterschiede zwischen dem alten atlantischen Menschen und dem heutigen Europäer
im Auge behalten, verstehen wir ohne Weiteres, dass die heutige und die
damalige Erziehungsmethode der Magie sich grundlegend voneinander unterscheiden.
Nehmen wir an, dass der Weise in unseren Tagen die Aufmerksamkeit der
Welt auf die uralte Weisheit, die Existenz des geheimen Wissens, auf die
Möglichkeit der Rettung aus der Unwissenheit und dem Bösen richten möchte und
dass er Jünger um sich sammeln möchte, welche Methode würde er wohl dabei
anwenden?
Es gibt nur eine ehrliche, aufrichtige und wahre Methode: das Denken und
die Vernunft der Menschen zu erwecken, an ihr Wahrheits- und Rechtsgefühl zu
appellieren, sie aufzufordern, nach der Wahrheit zu suchen und ihnen den Weg
zur Wahrheit zu zeigen. Das alles geschieht am besten durch das gesprochene und
geschriebene Wort. Der Mensch von heute ist gegen alle Beeinflussung und
Autorität so empfindlich, dass er z.B. die kirchlichen Zeremonien und
Feierlichkeiten, die im Mittelalter die Menschenseelen zur Andacht und
Frömmigkeit erhoben, geradezu für Einschläferungsmethoden der Vernunft und der
Gedankenfreiheit hält. Und wenn der weiße Magier seine Jünger in
Geheimwissenschaft und Weisheit unterrichten möchte, sollte er ihnen von Anfang
an den Unterschied zwischen dem blinden Glauben und dem natürlichen, menschlichen
Vertrauen erklären und ihnen beweisen, dass die okkulte Selbsterziehung keineswegs
vernunftwidrig ist, sondern, im Gegenteil, dass auch die Entwicklung des
Intellektes eines ihrer wesentlichsten Merkmale ist.
Kurz gesagt: Für das heutige Wachbewusstsein wird die Vernunft als
Herrscher anerkannt, und an sie muss man sich bei der magischen Erwachsenenschulung
wenden. Erst wenn das vernunftmäßige Wachbewusstsein sein Einverständnis
gegeben hat, kann der Mensch von seinem Glauben an sein höheres, gottgeborenes
Selbst Nutzen ziehen und wirklich angeregt werden, nach ihm zu suchen und sich
ihm zu nähern.
Lasst uns nun an einen weisen Magier denken, der vor Tausenden von Jahren
auf dem Atlantis lebte. Auch er wollte die Menschen zum rechten Leben führen.
Er wollte in ihnen den Willen zur Erkenntnis Gottes und der Wahrheit erwecken.
Auch seine Aufgabe bestand darin, Jünger um sich zu sammeln, um ihnen zu
zeigen, wie sie ihre Entwicklung beschleunigen und zur Erkenntnis des aus dem
Übel rettenden höheren Selbstes gelangen konnten. War er, der Magier der alten
Zeit, in derselben Lage wie sein Bruder in unserer Zeit? Konnte er an die
gleichen Erfahrungen seiner Jünger und vor allem an die gleiche Vernunft
appellieren?
Keineswegs. Er war in einer ganz anderen Lage. Das reale Ich, an das er
appellieren konnte, war inhaltlich ganz anders; die ärmliche Vernunft, die er
zur Funktion erwecken musste, war recht schwach und unbeholfen. Die
Gefühlskraft hingegen war groß und die Phantasie weitreichend und empfänglich.
Wie hätte man also die seelische Fähigkeit, die Seite des Bewusstseins, die
bekanntlich im Vordergrund stand und am weitesten entwickelt war, ignorieren
können? Natürlich musste der Magier dann gerade an die Vorstellungs- und
Gefühlskraft der Menschen appellieren. Und wie ging das vor sich?
Mit einer Methode, die wir heute vielleicht Suggestion ‒ nicht
Hypnotismus ‒ nennen würden. Mit Hypnotismus, zumindest im engeren,
eigentlichen Sinne, meinen wir die Fesselung des Willens und des Bewusstseins
des anderen, so dass er sein eigenes Selbstbewusstsein und die Macht über sich
selbst verliert; beim Hypnotismus wird der Mensch oft in einen künstlichen
Schlaf versetzt. Diese Methode hat der atlantische weiße Magier in seiner
Magieschule nicht eingesetzt, denn sie hätte damals genauso wenig genützt wie
heute; sie hätte nur geschadet. Die Grundlage der okkulten Entwicklung ist die
Selbsterziehung, die nicht mit der Fesselung des Schülers begonnen werden kann.
Die Suggestion, die der Magier der alten Zeit benutzte, war Befreiung des
Schülers aus der Gruppenseele, der Gruppensuggestion. Diese Art von Suggestion
musste der Magier aber einsetzen, um in seinem Schüler den Willen zur Befreiung
und Selbständigkeit zu erwecken. Sie bestand in der Erweckung von Affekten, die
stärker waren als das alltägliche Gefühlsleben, sowie in der Öffnung von
Perspektiven für die Phantasie, die weiter und interessanter waren als die
alltäglichen Erfahrungen.
Der Anfang bestand gewöhnlich darin, dass der Magier in seinen Schülern
Liebe zu sich selbst, dem Magier, erweckte. In älteren Zeiten musste er für
diesen Zweck keine Suggestion einsetzen. Seine eigene Erscheinung, sein mit
Liebe erfülltes Herz erweckte in empfindsamen Menschen von alleine Gegenliebe.
Doch, insbesondere in späteren Zeiten, benutzte der Magier ohne Zweifel die
Kraft seiner Imagination, um die Aufmerksamkeit und das Herz der anderen für
sich zu gewinnen. Und wenn der Magier nicht genug Erfahrung hatte, drohte dabei
natürlich auch eine Gefahr.
Das gesamte Gefühl bezieht seine Kraft und seine Erscheinungsform aus der
menschlichen Sexualität, wie wir bereits bemerkt haben.[16] Wenn
also die Liebe im Herzen des Jüngers erwachte, entstand zwischen ihm und dem
Lehrer eine Beziehung. Diese Beziehung war notwendig und gut, wenn sie rein und
uneigennützig blieb. Sie half dem Jünger, sich aus der Suggestion der
Stammseele zu befreien, und mit deren Hilfe erzog der Lehrer seinen Jünger zur
Selbständigkeit und Intelligenz. Allmählich befreite sich der Jünger auch aus
der Suggestion des Lehrers.
Anders verhielt es sich jedoch, wenn der Magier unerfahren oder
selbstsüchtig war. In diesem Fall verfiel er den persönlichen Fesseln, die
seine Liebe hervorgerufen hatte, und das Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem
Jünger bekam einen eigennützigen, ja sogar einen physischen Charakter. Wir
können auch die Tatsache nicht leugnen, dass manche, deren Intelligenz und
Phantasie weiter entwickelt war, diese Kräfte zu geradezu falschen und egoistischen
Zwecken benutzten, d.h. um Macht über die Schwächeren zu gewinnen. Eine größere
Intelligenz und Schlauheit kann man auch heute noch missbrauchen, wenn schon nicht
direkt durch das Appellieren an die Gefühle, dann aber durch die Verzauberung
und Fesselung des Verstandes und der Intelligenz der anderen. Der Weg zur
schwarzen Magie steht immer offen.
Als eine allgemeine Definition der atlantischen Magie könnten wir sagen,
dass sie sich auf die Kraft der Gefühle ‒ und somit also auf die
Geschlechtskraft ‒ gründete.
36. ATLANTISCHE MAGIE IN DER KALEVALA
Als wir über die innere Sittenlehre der
Kalevala sprachen, versuchten wir, die Bedeutung einiger Runen mit dem
psychologischen Selbsterziehungsschlüssel zu öffnen. Dieser Schlüssel ist
allgemeingültig, nicht an eine bestimmte Zeit gebunden und berührt nicht den
historischen Inhalt der Kalevala. Jetzt haben wir eine ganz andere Aufgabe. Wir
müssen jetzt die Kalevala als eine okkultistisch-historische Zeitdarstellung
verstehen und ihre Helden als Menschentypen betrachten, die auf der Erde gelebt
haben. Wir sagen „als Menschentypen“, denn wir glauben, wie bereits im Kapitel
5 bemerkt, dass die Heldennamen Väinämöinen, Lemminkäinen usw. generisch,
d.h. Familiennamen oder in dem Sinne typisch sind, dass sie vielen Personen
gegeben worden sind; auch und aus dem wesentlichen Grund, dass wir bei der Anwendung
des Schlüssels der atlantischen Magie unsere Helden noch nicht als Personen
betrachten, die auf der Erde gelebt hätten. Weshalb wohl? Deshalb, weil die
poetische Ausdrucksform der Kalevala nicht atlantisch ist und deren atlantischer
Inhalt deswegen herausgesucht werden muss. Die Runen der Kalevala wurden in der
arischen Zeit für arische Zuhörer gesungen und deren Anschauungsweise ist
arisch, selbst wenn einige Teile davon noch so alt wären.
Indem wir also den historischen Schlüssel benutzen, der uns den
atlantischen Aspekt der Kalevala-Magie öffnet, setzen wir voraus, dass die
Haupthelden, Väinämöinen, Ilmarinen, Lemminkäinen und Louhi, die Wirtin von
Pohjola, atlantische Magier sind, die letztgenannte eine Vertreterin der sog.
schwarzen Magie.
Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen sind weiße Magier, die sich
Jünger suchen, um so die Entwicklung der Menschheit zu fördern. Ihre Jünger
werden als junge Mädchen dargestellt. Damit will man zeigen – nicht nur, dass
die Seelen der Jünger sich ihrem Lehrer gegenüber immer in einem empfänglichen,
also „weiblichen“, Zustand befinden – sondern auch, dass sie unerfahren und zum
Guten bereit sind und dass man bei der Erziehung an das Gefühl und die
Phantasie appellieren musste. Wir müssen also nicht denken, dass die Jünger
immer Frauen oder die Lehrer immer Männer gewesen wären. Sie wurden deshalb als
Männer dargestellt, weil der Lehrer in der Rolle des Gebers erscheint.
Lemminkäinen ist ein typischer atlantischer Magier. Wenn wir ihn von
diesem Standpunkt aus richtig verstehen, sehen wir in ihm einen großen, kräftigen
und liebenswerten Mann. Er weiß viel, er ist in seinen Gefühlen unbesiegbar, er
ist ein unermüdlicher Helfer. Seine zahlreichen Liebesabenteuer sind Beschreibungen
der unzähligen Situationen, in denen er Menschenseelen mit seiner Liebe half.
Denn er war ein großer Liebhaber und hatte grenzenloses Vertrauen auf seine
persönliche Zauberkraft.
„Jos en ole koiltani korea,
Su’ultani aivan suuri,
Mie valitsen varrellani,
Otan muilla muo’oillani.“
„Bin ich nicht aus hohem Hause,
Nicht aus gar zu großem Stamme,
Werde ich nach meinem Wuchse,
Nach dem Aussehn eine wählen.“ [12. Rune]
Er appellierte immer an Gefühle und weckte die Gefühle der anderen allein
durch die Kraft seiner eigenen Gefühle. Er ließ allenfalls zu, dass Gerüchte
über seine Unwiderstehlichkeit verbreitet wurden; er selbst appellierte an die
Phantasie auf keine andere Weise. Er war auch in seinem Selbstbewusstsein und
seinem Glauben an sich selbst ungeheuer stark. Wer ihm gefiel, wen er erziehen
wollte, der konnte ihm nicht widerstehen. Kyllikki aus der Insel (Poseidonis),
die „Saarijungfrau“, war entschlossen, standhaft zu bleiben, doch als
Lemminkäinen kam und ihr gegen ihren Willen sein brennendes Herz öffnete, war
sie überwältigt, und als sie sich von Lemminkäinen führen ließ, war sie
glücklich.
In seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ging Lemminkäinen wie ein
Wirbelwind seinen Weg. Erst am Ende sah er ein, dass seine persönliche
Zauberkraft nicht ausreichte. Als er auch unter den Inselländern keine
Menschenseelen fand, die er ‒ so lange und so weit wie er wollte ‒ hätte
unterrichten können, beschloss er, nach Pohjola zu gehen, wo angeblich ein
stolzes, schönes und in Magie bewandertes Volk wohnte. Dort angekommen sah er
sofort ein, dass man an die Phantasie, nicht nur an die Gefühle, appellieren
musste. Er sang und zauberte mit so viel Feuer, dass die besten Sänger sich schlecht
und armselig fühlten: Ihre Poesie, ihre Zauberkraft versiegte und ihre Phantasie
fügte sich kraftlos dem Willen des anderen:
Tulta iski turkin helmat,
Valoi silmät valkeata
Lemminkäisen laulaessa,
Laulaessa, lausiessa,
Lauloi laulajat parahat
Pahimmiksi laulajiksi,
Kivet suuhun syrjin syösti,
Paaet lappehin lateli
Parahille laulajille,
Taitavimmille runoille.
Niin lauloi mokomat miehet
Minkä minne, kunka kunne:
Ahoille vesattomille,
Maille kyntämättömille,
Lampihin kalattomihin,
Aivan ahvenettomihin,
Rutjan koskehen kovahan,
Palavahan pyörtehesen,
Virran alle vaahtipäiksi,
Kosken keskelle kiviksi,
Tulena palelemahan,
Säkehinä säykkymähän.
Feuer sprüht der Saum des Pelzes,
Flammen glänzten in den Augen
Bei dem Sange Lemminkäinen’s,
Bei dem Sange, bei dem Zauber.
Sang die allerbesten Sänger
Zu den allerschlechtsten Sängern,
Stopft den Mund ganz voll mit Steinen,
Stapelt Felsen auf die Fläche
Diesen allerbesten Sängern,
Den geschicktesten der Zaubrer.
Bannte drauf die stolzen Männer,
Diesen hierhin, jenen dorthin
Auf die schößlingsarmen Fluren,
Auf die ungepflügten Strecken,
In die Seeen ohne Fische,
Wo die Barsche nimmer weilen,
Nach dem wilden Rutjafalle,
In den flammenreichen Wirbel,
In die schaumbedeckten Flüsse,
Zu des Wasserfalles Steinen,
Um als Feuer dort zu brennen,
Um als Funken dort zu knistern. [12. Rune]
Und als einer der Zuhörer – Naßhut der Heerdenhüter – unberührt blieb,
weil er von dem Gesang des Lemminkäinen keine Wirkung spürte, und als er
verwundert, vielleicht Lob erwartend, fragte, warum der Zauber auf ihn nicht
einwirkte, antwortete Lemminkäinen offen und ehrlich: „Du bist ein so
schlechter Mensch, dir fehlt vollkommen das heilige Feuer der Phantasie,
deshalb spürtest du auch von meinem göttlichen Gesang keine Wirkung.“ Das war
eine öffentliche Verleumdung, und der Heerdenhüter beschloss, es ihm
heimzuzahlen.
Doch als Lemminkäinen sich nach seiner Kraftprobe Jünger wünschte,
antwortete ihm Louhi, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen sei. Über seine
magischen Künste würde er noch manche Proben bestehen müssen, bevor man ihm
glauben würde. Mit seinen Heldentaten zeigt er auch, dass er mancherlei
Zauberkünste beherrscht, doch bei dem letzten fällt er bewusstlos um ‒ die
schwarzen Kräfte des Heerdenhüters konnten ihn überwältigen; Lemminkäinen war
nicht in der Lage, sich vor seinen Hexenschüssen zu schützen. Und als er später
die zweite Reise nach Pohjola machte, gelang es ihm immer noch nicht, bei dem
kaltblütigen Volk von Pohjola Fuß zu fassen.
Väinämöinen hingegen, als atlantischer Magier interpretiert, ist ein
anderer Menschentyp als Lemminkäinen. Er ist weiser und erfahrener, doch er
liebt die Menschen nicht mit der gleichen feurigen Leidenschaft wie
Lemminkäinen. Und wenn er das Interesse der Menschen wecken will, appelliert er
auch nicht direkt an die Gefühle. Er lässt den guten Ruf seiner Weisheit ihr
Interesse wecken und verzaubert sie mit seiner persönlichen Erscheinung, mit
Gesang und Spiel. Der Grundton seiner Methode ist anders als der des
Lemminkäinen und, mit atlantischen Augen gesehen, nicht gleich effektiv. Es
gelingt ihm auch nicht, Jünger unter gewöhnlichen Menschen zu finden; nur
Weise, solche wie Ilmarinen und Lemminkäinen, sind für seine Führung geeignet.
Er ist jedoch so berühmt, dass er in Pohjola mit großem Respekt
empfangen, umsorgt, bewirtet und zum Bleiben aufgefordert wird. Doch
Väinämöinen hat Heimweh nach seinem eigenen Lande; er vertraut dem Volk von
Pohjola nicht. Es stellt sich auch bald heraus, dass das Volk von Pohjola eine selbstsüchtige
„Geheimtruppe“ ist, denn Louhi fragt Väinämöinen:
„Niin mitä minulle annat,
Kun saatan omille maille,
Oman peltosi perille,
Kotisaunan saapuville?“
„Was denn wirst du mir wohl geben,
Wenn ich dich nach Hause schaffe,
An den Saum des eignen Feldes,
Hin zur Badstub’ deiner Heimath?“ [7. Rune]
Und wenn Väinämöinen ihm „eine Mütz’ voll Goldes“ anbietet, antwortet die
Wirtin von Pohjola: „Gold ist wie der Kinder Blumen“, fragt aber zugleich, ob
Väinämöinen in der Lage ist, den Sampo zu schmieden. Wenn
ja,
„Niin annan tytön sinulle,
Panen neien palkastasi,
Saatan sun omille maille“
”Dann geb’ ich meine Tochter,
Dieses Mädchen dir zum Lohne,
Bringe dich zum Heimathlande” [7. Rune]
Väinämöinen, der den Sampo nicht selbst schmieden kann, verspricht dann,
Seppo Ilmarinen nach Pohjola zu senden, wo er den Sampo schmieden und „die
Jungfrau beglücken“ soll.
Doch auf dem Weg nach Hause sieht er die wunderschöne Nordlandstochter,
ist entzückt von ihr und bittet sie, ihm zu folgen. In Pohjola gab es also
zumindest einen Menschen, der seiner Meinung nach für seine Lehre empfänglich
war und den er zu seinem Jünger genommen hätte. Die Nordlandstochter willigte
jedoch nicht ohne Weiteres ein, sondern wollte zuerst sehen, ob Väinämöinen
wirklich ein Magier war, der verzaubern konnte. Sie lässt Väinämöinen ein Haar
mit dem Messer ohne Schneide spalten, ein Ei in die Schlinge bringen, aus dem
Stein die Rinde schälen und aus dem Eis eine Gerte hauen „ohne daß die Splitter
sprangen“; doch wenn Väinämöinen schließlich ein Boot aus den Splittern ihrer
Spindel zimmern und es dann „ohn’ es mit der Hand zu fassen“ ins Wasser
schieben muss, gelingt es ihm doch nicht sofort und er fällt manchem Schicksal
zum Opfer. Und wenn das Boot endlich fertig ist und Väinämöinen damit nach
Pohjola fährt, erfährt er, dass die Tochter sich bereits einem anderen Magier,
dem Ilmarinen, versprochen hat. Väinämöinen ist weise und fügt sich in sein
Schicksal, denn er selbst hatte ja Ilmarinen nach Pohjola geschickt und war
also selbst daran schuld, dass das Volk von Pohjola von Ilmarinen entzückt war
und diesen als Lehrer vorzog.
Ilmarinen ist am allerwenigsten ein atlantischer Magier. Wenn wir uns
vorstellen würden, wie er sich Jünger sucht, würden wir sehen, dass er gar
nicht an die Gefühle appellieren und auch kaum mit seiner persönlichen
Erscheinung auf die Phantasie der anderen einwirken würde. Die einzige Art und
Weise, bei den Menschen Interesse zu erwecken, wäre, dass er seine Taten für
sich sprechen ließe. Doch die Kalevala erzählt auch nicht, dass er sich aus
Menschenliebe Jünger suchen würde. Erst wenn ihn Väinämöinen nach Pohjola
sendet, entsteht in seinem Herzen dort der Wunsch, sich dem Volk von Pohjola zu
nähern; doch wenn diejenigen, die er sich zu Jüngern wünscht, zögern, kehrt er
betrübt in seine Heimat zurück.
Er hat jedoch für das Volk von Pohjola den Sampo geschmiedet, d.h. ihnen
vieles, was sie nicht wussten und nicht konnten, beigebracht, und das Schicksal
fügt es schließlich, dass Ilmarinen diejenigen, die er ausgewählt hatte, als
Jünger bekommt.
Louhi, die Wirtin von Pohjola,
ist, wie wir bereits sagten, eine Vertreterin der schwarzen Magie. Man sieht es
daran, dass sie nach Wissen und Macht trachtet. Von Liebe ist da gar keine Rede.
Lemminkäinen hält sie für nichtsnutzig. Bei dem Wunsch, Väinämöinen zu ihrem
Schwiegersohn zu bekommen, denkt sie heimlich an all die Macht und Weisheit,
die sie ihm entlocken könnte. Und obwohl Väinämöinen zu klug ist, um Louhi
selbst zu unterrichten (den Sampo zu schmieden), ist er jedoch dermaßen von
Louhi eingewickelt worden, dass er versprechen muss, Ilmarinen nach Pohjola zu
senden. Es gelingt Louhi auch leicht, Ilmarinen auf ihre Seite zu gewinnen.
Ilmarinen ist zu aufrichtig, um Böses zu ahnen, und er bringt Louhi alle seine
geheimen Kenntnisse bei. Er bekommt jedoch schließlich seinen Lohn, sieht aber
zu spät, dass er seine Kenntnisse einem Volk beigebracht hatte, das sie nicht
richtig einsetzen konnte, sondern lediglich auf seine eigene Macht und seinen
eigenen Wohlstand bedacht war. Schließlich nimmt auch das Schicksal Ilmarinen
all das weg, was ihm teuer ist, damit er einsehe, dass es seine Pflicht war,
das Wissen und die Macht, die er in Pohjola vergeudet hatte, zurück zu
erkämpfen. Pohjola wird somit in der Kalevala als die Brutstätte der schwarzen
Magie betrachtet.
Manch ein Leser würde vielleicht heute der Meinung sein, dass
Lemminkäinen viel „schwärzer“ sei. Seine Methode, persönliche Liebe zu sich
selbst zu erwecken, ist ja beinahe „verachtenswert“. Und auch die Kalevala
spricht von ihm mit einer leichten Ironie; sie sieht es ja als seinen Fehler,
dass „sein Leben stets bei Weibern“ war.
Ja, so sieht es aus, wenn man die Sache mit den Augen des Ariers
betrachtet; und was beweist uns wohl besser als das, dass auch die Kalevala,
wie wir bereits sagten, aus der arischen Sicht zusammengestellt ist? Doch
„Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit der Zeit“. Was heute schwarz
aussieht, mag gestern weiß gewesen sein, und umgekehrt. Daran sehen wir, dass
der Schein trügt!
Doch noch tiefer müssen wir in das Wesen der Kalevala-Helden eindringen.
37. IM WECHSEL DER ZEITEN
Im vorhergehenden Kapitel haben wir uns einen
Überblick über das Leben der Haupthelden der Kalevala im Hinblick auf die atlantische
Magie verschafft, doch damit haben wir den okkultistisch-historischen Inhalt
der Kalevala keineswegs ausgeschöpft, nicht einmal aus der Sicht der Magie. Die
Kalevala-Runen wurden nämlich in der arischen Zeit gedichtet und sie erzählen
nicht nur von atlantischen Erinnerungen.
Wenn wir uns eingehender in den
Inhalt der Kalevala aus magischer Sicht vertiefen, sehen wir, dass die Kalevala
ganz deutlich von mindestens drei Zeitaltern, d.h. von der atlantischen, der
arischen und der dazwischen liegenden Übergangszeit spricht. Wenn wir z.B.
denken, dass die Ahnen des finnischen Volkes vor Urzeiten, nachdem sie als ein
atlantischer Stamm auf den Hochländern Asiens gewohnt hatten,[17] anfingen,
nach Europa zu wandern und sich in Mittel-, Süd und Osteuropa siedelten und von
dort erst lange Zeit danach in Richtung Norden zogen, ist es nicht schwer zu
verstehen, dass sie in Europa, und vielleicht schon früher, arische Züge
annahmen und dass die Kalevala Erinnerungen aus verschiedenen Zeitaltern
enthält.[18]
Als eigentlicher Überbleibsel und Denkmal aus der atlantischen Zeit dient
dann die Erzählung über Lemminkäinen. Dieser Kalevala-Held ist, wie bereits
gesagt, ein typischer atlantischer Magier, und Kyllikki vertritt das Inselvolk,
in dessen Mitte er sich am wohlsten fühlte und erfolgreich war. Wir haben
bereits genug von ihm gesprochen und weisen hier nur auf ein paar Züge auf, die
ebenfalls echt atlantisch sind. Lemminkäinen liebt seine Mutter zutiefst und
vertraut ihr, und sein Ungehorsam ist nur ein Beweis dafür, dass er als Magier
selbständiger geworden ist als ein gewöhnlicher Atlantis-Mensch; man kann aus gutem
Grund sagen, dass er seine Mutter mehr liebte als alle anderen. Bei seinen
Wanderungen in der Natur und beim Begegnen von Gefahren greift er immer auf Beschwörungen
zürück. Seine Bürste, die er als Vorzeichen zu Hause lässt, hat er mit seinem
eigenen Magnetismus versehen und mit Beschwörungsformeln an sich gebunden, so
dass sie, wenn ihm etwas Böses zustößt, in den Augen der Mutter und der
Kyllikki aussieht, als würde Blut aus ihr triefen. Kriegerisch ist er auch und
zieht sein Schwert aus der Scheide, wenn seine Beschwörungen auf Lebewesen,
insbesondere auf Menschen, keine Wirkung haben.
Ilmarinen hingegen gehört voll und ganz der arischen Zeit, und die
Nordlandstochter vertritt die Menschenseelen, bei denen er am erfolgreichsten
war. Wir haben auch über den vernunftbetonten und äußerlich kalten Charakter
des Ilmarinen bereits gesprochen und weisen deshalb hier nur auf ein paar
Einzelheiten hin, aus denen hervorgeht, dass sein Blut nicht viele atlantische
Spuren aufweist. Er benutzt niemals Beschwörungen, sondern will lieber arbeiten
und Taten vollbringen. Er ist „der ew’ge Schmiedekünstler“. Wann immer er ein
Gebet oder einen Wunsch äußert, sind diese kurz und bündig, überhaupt nicht wie
Beschwörungen, sondern solche, wie sie auch aus unserem Herzen kommen können.
Wenn er z.B. die Reise nach Pohjola antritt und sich in den Schlitten setzt,
betet er:
„Laske ukko uutta lunta,
Visko hienoa vitiä,
Lunta korjan liukutella,
Vitiä ve’en vilata!“
„Sende frischen Schnee, o Ukko,
Lasse weiche Flocken fallen,
Daß der Schlitten drüber gleite,
Auf dem Schnee vorübersause!“ [18. Rune]
und fügt noch einen Wunsch hinzu:
„Lähe nyt onni ohjilleni,
Jumala rekoseheni,
Onni ei taita ohjaksia,
Jumala ei riko rekeä!“
„Glück, sei nun bei meinen Zügeln,
Gott beschütze du den Schlitten,
Nicht Zerreißt das Glück die Zügel,
Nicht zerschmettert Gott den Schlitten!“ [18. Rune]
Man erzählt, dass er bei der Durchführung seiner Aufgaben eine
Beschwörungsformel, nämlich die Schlangenvertreibungsworte, eingesetzt hätte.
Dabei könnte es sich aber, historisch gesehen, um einen Metachronismus handeln,
und die Feuerentstehungsrune, in der Ilmarinen die Feuerbrennungsworte
rezitiert, ist ihrem Inhalt nach so eindeutig mythologisch, dass man sie
historisch außer Acht lassen kann. Ilmarinen hat weder hypnotische noch
suggestive Fähigkeiten.
Ein anderer arischer Zug in seinem Charakter ist eine leicht aufkommende
Skepsis. Eine Eigenschaft seines Denkens ist die Ahnung über den richtigen
Stand der Dinge sowie sein Vertrauen auf die „fünf Sinne“. (Die gleichen Charaktereigenschaften
findet man auch bei seiner Schwester Annikki.) Das zeigt sich gleich beim
ersten Auftritt des Ilmarinen in der Kalevala. Väinämöinen ist von seiner
missglückten Reise nach Pohjola zurückgekehrt, „schiefen Hauptes, trüben
Sinnes“, weil er, „um sein eigen Haupt zu retten“, versprochen hatte, Ilmarinen
dorthin zu senden. Nachdem er von der schönen Nordlandstochter erzählt hat und
nun Ilmarinen ermutigt, sich nach Pohjola zu begeben, antwortet dieser, den
eigentlichen Zweck ahnend:
„Ohoh vanha Väinämöinen,
Joko sie minun lupasit
Pimeähän Pohjolahan
Oman pääsi päästimeksi,
Itsesi lunastimeksi! “
„O du alter Wäinämöinen,
Hast mich ja bereits versprochen
Nach dem nimmerhellen Nordland,
Um dein eignes Haupt zu lösen,
Um dich selber zu befreien! [10. Rune]
Und wenn Väinämöinen von einem anderen Wunder, einer Fichte, in dessen
Wipfel das Mondlicht leuchtet, erzählt, widerspricht ihm Ilmarinen:
„En usko toeksi tuota,
Kun en käyne katsomahan,
Nähne näillä silmilläni.“
„Glaube nicht, daß dieses wahr sei,
Wenn ich’s selber nicht gesehen,
Mit den Augen nicht geschauet.“ [10. Rune]
Väinämöinen muss auch seine großen Magischen Fähigkeiten benutzen, u.a.
die Kunst, physische Gegenstände von einem Ort zum anderen zu versetzen, bevor
Ilmarinen sich bereit erklärt, die Reise nach Pohjola anzutreten.
Der dritte Beweis von dem arischen Ursprung der Ilmarinen-Episode ist das
Schmieden des Sampo. Obwohl der Sampo ein ganz magischer Gegenstand ist, ist er
mit Beschwörungsformeln nicht zu schaffen. Väinämöinen kann z.B. ein Boot mit
der Kraft des Wortes bauen, aber er lehnt es ab, den Sampo zu bauen. Das
beweist, dass der Sampo etwas Neues und Unerhörtes ist, den man nicht nur mit
Gefühl und Phantasie schaffen kann. Dazu braucht man hingegen vor allem
Genialität, Vernunft und Denken. Es ist gut möglich, dass der Sampo die höhere,
wissenschaftliche und auf der Vernunfttätigkeit basierende Bildung und deren
Errungenschaften sowie die vielfältige materielle Kultur, das Kennzeichen der
fünften Rasse, darstellt. Der Sampo, auch der bunte Deckel genannt, kann sogar
mit gutem Grund auch als eine Art Buch[19]
verstanden werden, in dem die ursprüngliche Botschaft und Lehre des Ilmarinen
mit geheimen Zeichen aufgezeichnet war.[20] Und es
ist nicht verwunderlich, dass ihn Louhi als ihren wertvollsten Schatz behalten
wollte. Doch der Sampo-Schmied llmarinen ist in diesem Fall zugleich als
Vertreter des finnischen Volkes zu einem der Erzieher und Wohltäter unserer
arischen Rasse geworden.
Und wie steht es denn mit Väinämöinen? Er ist ebenso weit entfernt von
Lemminkäinen wie von Ilmarinen. Er ist atlantischer Magier und auch wieder
nicht. Intelligenzmäßig ist er wie ein Arier entwickelt und ist kein Kind der
fünften Wurzelrasse. Er ist der weiseste von allen, weiser als der weiße
Ilmarinen, weiser als Lemminkäinen, weiser als die schwarze Louhi. Und dennoch
ist er eine tragische Person, denn er ist in seiner Persönlichkeit ein Kind der
Umbruchzeit, der weder voll und ganz zur alten, noch zur neuen Zeit gehört. Das
sieht man an seiner Beziehung zu Aino, der einzigen Frau in der Kalevala, die man
mit Väinämöinen vergleichen kann, sowohl in Bezug auf die geheime Größe als die
tragischen Konflikte ihrer Seele.
Das Studium seiner mächtigen Persönlichkeit und des Schicksals der Aino
stellt für den Forscher eine äußerst interessante Aufgabe. Lasst uns also
versuchen, Väinämöinen als ein lebendiges und weises, aber ein leidendes
Individuum zu verstehen!
38. VÄINÄMÖINEN UND AINO
Väinämöinen war alt ‒ alt in Jahren und alt
in Weisheit ‒ aber jung in seiner Seele. Er hatte ein langes Leben hinter sich,
und als er seinen Blick auf die Vergangenheit warf, konnte er sich an viele
gute Taten für sein Volk erinnern. Er hatte sich auch geirrt – wer hat es
nicht? – doch er hatte sich bemüht, die ihm auferlegte Lebensaufgabe
gewissenhaft zu erfüllen. Wie viele Menschenseelen hatte er doch erzogen! Die
Eltern hatten ihm ihre Kinder anvertraut. Mit Gesang und Spiel, mit Märchen und
Wundertaten hatte er ihre jungen Seelen an sich gebunden und ihnen auf diese
Weise geholfen, sich aus den Blutsbanden zu befreien, mit denen sie an ihren
Stamm und ihre Familie gefesselt waren. Er hatte sie frei von der Erbsünde
gewaschen und in ihnen das Bewusstsein für das Selbst erweckt. Er hatte ihnen
die Grundregeln des Denkens beigebracht und ihre noch wackeligen Schritte auf
dem Weg zur Selbstständigkeit und zum Wissen überwacht. In seinem Volk gab es
auch viele dankbare Schüler von ihm; bei Tausenden Familien war er ein willkommener
Gast, sein Ruf erstreckte sich weit über Land und Meere…
Und dennoch war sein Herz leer. Denn er, der alte, weise und berühmte
Väinämöinen war trotzdem einsam und fühlte sich verlassen.
Bei den alten Weisen war es üblich, dass sie einen von ihren Schülern zu
ihrem nahen Freund und Familienmitglied nahmen. Sie heirateten jung, um im
Alter nicht bereuen zu müssen. Auch er, Väinämöinen, hätte ja früher die
Gelegenheit gehabt, sich mit einem anderen Menschen mit unverbrüchlichen Banden
zu verbinden. Er konnte sich an viele Mütter und Väter erinnern, die aus ganzem
Herzen gewünscht hätten, dass er ihre Tochter als „ein Hühnchen im Arme“ zu
sich genommen hätte. Und er erinnerte sich an viele schöne und tugendhafte
Mädchen oder Jungfrauen, die, wenn er um ihre Hand gehalten hätte, sicherlich
vor lauter Glück rot geworden wären. Doch er selbst war immer kalt geblieben –
sein Herz schlug niemals so hoch, dass er gedacht hätte, dass es jetzt an der
Zeit wäre – und bei solchen Sachen konnte er nicht auf andere Hören.
So vergingen die Jahre und Väinämöinen wurde älter. Und er lebte immer
noch allein.
Dann fügte es das Schicksal, dass ihm auf dem Weg Joukahainen entgegenkam.
Nachdem er mit seiner Gesangskunst diesen übermütigen jungen Mann
niedergeschlagen hatte und dieser ihm die junge Aino, seine Schwester, versprochen
hatte, um sich selbst loszukaufen, spürte Väinämöinen eine seltsame Freude in
seinem Herzen. Woher kam diese Freude so plötzlich? War das ein Vorzeichen?
Sollte er nun für seine alten Tage eine Freundin bekommen? Würde er jetzt eine
Seele finden, über die er sich freuen könnte, eine Jüngerin, der er sein Alles
geben könnte?... Wie gut er dann wäre, wie zärtlich und feinfühlend. Hand in
Hand gehend wie ihr bester Freund würde er diese Seele im Garten des Wissens,
im Reich der Visionen und Ahnungen führen. Aus den goldenen Saiten der Gefühle
dieser Seele würde er Melodien herauslocken und die Töne als Worte erklingen
lassen. Und wenn er sie lehren würde, auf das Firmament des Himmels
emporzusteigen und auf dem Bogen der Lüfte zu sitzen, wo er selbst in seiner
inneren Strahlung sie dort begrüßen würde, was könnte noch ihre Herzen
voneinander trennen?
Väinämöinen, alt und wahrhaft, fing an, sich Hoffnungen zu machen. Es war
eine Vorahnung von etwas…
Es war eine Vorahnung einer großen Trauer. Denn bald darauf begegnete
Väinämöinen dem Mädchen im Wald, wo es Birkenzweige brach. Fröhlich und voller
Vertrauen näherte er sich Aino, die in ihrem schön geschmückten Kleid hübsch
aussah, und sagte scherzend:
„Eläpä muille, neiti nuori,
Kun minulle, neiti nuori,
Kanna kaulan helmilöitä,
Rinnan ristiä rakenna,
Pane päätä palmikolle,
Sio silkillä hivusta!“
„Nicht für andre trag, o Jungfrau,
Nein für mich nur trag, o Jungfrau,
An dem Halse hübsche Perlen,
Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,
Trag für mich die feine Flechte,
Bind für mich das Haar mit Seide.“ [4. Rune]
Die junge Aino errötete zuerst bis über beide Ohren und senkte ihren
Blick. Doch die Errötung verschwand, ihre Wangen wurden blass und ihr Blick
richtete sich nach oben. Sie sah den zärtlichen und wohlwollenden Blick des
Alten, und es war, als ob sie für eine Weile unschlüssig geworden wäre, als
hätte sie für eine Weile die unerklärliche Wärme und Kraft jener Augen gespürt.
Doch plötzlich riss sie sich los von ihrem Zaudern und sagte:
„En sinulle, enkä muille
Kanna rinnan ristilöitä,
Päätä silkillä sitaise,
Huoli en haahen haljakoista,
Vehnän viploista valita,
Asun kaioissa sovissa,
Kasvan leivän kannikoissa
Tykönä hyvän isoni,
Kanssa armahan emoni.“
„Nicht für dich und nicht für andre
Hänget mir am Hals das Kreuzchen,
Schmücke ich mein Haupt mit Seide,
Brauch’ ja nicht des Schiffes Balken,
Brauche nicht des Bootes Leisten,
Geh’ in einfachem Gewande,
Nähr’ mich von des Brotes Kanten,
Bleib’ bei meinem lieben Vater,
In der Nähe meiner Mutter.“ [4. Rune]
Sie brach in Tränen aus, riss den Schmuck ‒ Perlen, Ringe, Bänder ‒ von
sich und schmiss sie auf den Boden. Und bevor Väinämöinen sich von seiner
Bestürzung erholen konnte, war das Mädchen schon davongelaufen.
In tiefen Gedanken versunken kehrte Väinämöinen zurück nach Hause. Er
konnte den Blick der jungen Aino nicht vergessen, den Blick, den er in all
seinen Schattierungen nicht vollkommen verstehen konnte. Er sah darin Furcht
und Bitte, Vorwurf, Hass und Bitterkeit, aber es gab noch etwas anderes… Die Gefühle
des Mädchens blitzten vor seinen Augen, doch es steckte etwas Geheimnisvolles
dahinter, was er nicht verstehen konnte… Und das Benehmen des Mädchens verstand
er auch sonst gar nicht. Hatte er Aino irgendwie beleidigt, hatte er etwas
falsch gemacht? Gehörte Aino nicht ihm? Hatte nicht Joukahainen ihm seine
Schwester versprochen, um sein eigenes Leben zu retten? War das nicht recht und
billig, war das nicht eine heilige, von den Vätern geerbte Tradition?... Doch
die Augen der Jungfrau und ihre flatternden Gefühle! Einem solchen Blick war er
noch nie begegnet. Warum fürchtete ihn die Jungfrau, warum machte sie ihm
Vorwürfe, warum hasste sie ihn? Wäre sie bereits…?
Und Väinämöinen blieb plötzlich stehen, wie von einem Blitz geschlagen;
so seltsam war der Gedanke, der ihm in den Sinn kam. Vielleicht war die
Jungfrau nicht mehr an ihre Familie und ihren Stamm gebunden, vielleicht waren
die Fäden der Seele bereits zerrissen! Vielleicht war sie bereits ein Mensch,
ein denkender, selbständig werdender Mensch!... Aber wie wäre es möglich? Kein
Weiser hatte die Jungfrau erzogen; wo hätte sie also denken gelernt? Oder
fingen die Menschen bereits an, als selbständige Individuen geboren zu werden?
War die neue Zeit im Kommen?... Wenn es so war, dann wären die Kinder nicht
mehr Eigentum ihrer Eltern, ihrer Familie, ihres Stammes ‒ dann würden sie
selbst über sich herrschen… Wenn es wirklich so war, dann verstand er auch
Aino. Dann hatte man ihre Menschlichkeit verletzt und dann gab es keine andere
Wahl als auf sie zu verzichten… Der Alte seufzte aus tiefem Herzen. Adieu meine
Wünsche, adieu meine goldenen Träume…
Doch plötzlich, als er glaubte, den Schmerz der Aino zu verstehen, war
sein Herz voller Mitleid. Die arme Jungfrau, die von ihrem Bruder an dessen
Feind verkauft wurde, ohne ihre Meinung zu fragen. Sie kann mich doch nur
fürchten und hassen.
Tränen in den Augen und Mitleid und Trauer im Herzen setzte sich
Väinämöinen auf einen Stein. Und wieder einmal fragte er sich, wie das alles
möglich war, wie die Jungfrau bereits mit der Seele eines Weisen geboren war.
Die Menschen hatten sich doch noch nicht geändert. Die neue Rasse gab es noch
nicht in der Welt. Sie sollte allerdings kommen, aber erst nach einer langen
Zeit…
Dann gingen ihm die Augen auf und er sah hinter den Schleier des Lebens
und des Todes. Er sah ein Mädchen, das von einem Weisen unterrichtet wurde. Der
Weise erzog es zu einem denkenden und selbständig fühlenden Menschen, und das
Mädchen hing mit der ganzen Kraft ihrer Seele an seinem Lehrer. Doch der Tod
ereilte das Mädchen gerade, als es, das Herz voller Dankbarkeit, bereit war,
den geliebten Lehrer mit einem Gegendienst zu belohnen. Doch dem Herzen des
Mädchens konnte der Tod nichts anhaben. Im Jenseits träumte es weiter und baute
sich Luftschlösser. Und als ihm die Stunde schlug, wurde es ‒ als Aino ‒ auf
Erden Wiedergeboren… Und in jenem Weisen hatte Väinämöinen bereits sich selbst
erkannt.
Jetzt war das Rätsel gelöst. Jetzt war es ihm klar, dass Aino bereits bei
ihrer Geburt eine Weise war, jetzt war es ihm auch klar, warum. Und jetzt war
es natürlich, dass sie Bitterkeit über ihr Schicksal empfand. Solche Seelen
durfte man nicht wie normale Menschen behandeln; sie betrachteten die Dinge bereits
mit anderen Augen. Natürlich hasste ihn die Jungfrau, denn sie konnte sich ja
nicht erinnern und nicht wissen, wer Väinämöinen war. Sie erinnerte sich auch
nicht an ihre eigene Vergangenheit. Jetzt musste man schleunigst die Jungfrau
und ihre Eltern benachrichtigen und Joukahainen – wegen Aino – von seinem
Versprechen lösen…
Das war ein guter Beschluss, dachte Väinämöinen, doch glücklich fühlte er
sich dabei nicht. Denn in Ainos Blick hatte er etwas Geheimnisvolles gesehen,
etwas, was er sich immer noch nicht erklären konnte…
Doch auch das wurde ihm mit der Zeit klar ‒ gefolgt von einer noch
größeren Trauer…
Was höre ich jetzt, was ist das für eine seltsame Nachricht? Die junge
Schwester des Joukahainen hat sich ertränkt, die Jungfrau Aino hat
Erleichterung für ihren seltsamen Kummer in den Wogen gesucht!
Väinämöinen wollte es zuerst nicht glauben, doch wenn ihm die
fürchterliche Wahrheit langsam klar wurde, kam er, der alte Weise, vor Trauer beinahe
um.
Itki illat, itki aamut,
Yöhyet enemmän itki,
Kun oli kaunis kaatununna,
Neitonen nukahtanunna,
Mennyt lietohon merehen,
Alle aaltojen syvien.
Weinte Abends, weinte Morgens,
Weint’ die ganzen lieben Nächte,
Da die Schöne hingeschwunden,
Da die Jungfrau so versunken
In des Meeres weiten Spiegel,
In die flutenreiche Tiefe. [5. Rune]
Und das meinetwegen, sagte sich Väinämöinen, wegen meiner Sinnlosigkeit,
meiner Dummheit und Verständnislosigkeit:
„Ohoh hullu hulluuttani,
Vähämieli miehuuttani,
Olipa minulla mieltä,
Ajatusta annettuna,
Syäntä suurta survottuna,
Oli ennen aikoinansa,
Vaanpa nyt tätä nykyä,
Tällä inhalla iällä,
Puuttuvalla polveksella
Kaikki on mieli melkeässä,
Ajatukset arvoisessa,
Kaikki toimi toisialla!“
„O ich Narr mit meiner Thorheit,
O ich Mann mit wenig Einsicht,
Wohl war mir Verstand verliehen,
Einsicht mir gewiß gegönnet,
Mir ein großes Herz gegeben;
Hatte es in frühern Zeiten,
Nun ist es gewiß verschwunden,
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten,
Bei dem Sinken meiner Kräfte,
Mein Verstand ist wie gestorben,
Fort die Einsicht mir geflohen,
Alle Klugheit steckt bei andern!“ [5. Rune]
Denn jetzt verstand er Aino! Der Tod hatte ihm das Geheimnisvolle im
Blick der Jungfrau erklärt: Aino hatte ihn erkannt, sie hatte gewusst, wer er
war; sie hatte ihn geliebt.
„Kuta vuotin kuun ikäni,
Kuta puolen polveani…
Ikuiseksi ystäväksi,
Polviseksi puolisoksi,
Se osasi onkeheni,
Vierähti venoseheni,
Minä en tuntenut piteä,
En kotihin korjaella,
Laskin jälle lainehisin,
Alle aaltojen syvien!“
„Welche ich mir immer wünschte,
Mir mein Lebelang ersehnte,…
Mir als Freundin für das Leben,
Mir als Gattin für das Alter,
Diese fing ich mit der Angel,
Zog sie rasch in meinen Nachen,
Konnte sie jedoch nicht halten,
Nicht nach meinem Hause bringen,
Ließ sie wieder in die Fluthen,
In des Meeres dunkle Tiefen!“ [5. Rune][21]
Er konnte seine Freundin nicht behalten, weil er selbst nicht lieben
konnte. Er hatte die Tiefe der Liebe nicht verstanden, die ihm erst jetzt durch
den Tod klar wurde. Das Kind brachte es ihm bei. Er, der alte Weise, hatte das
Geheimnis der neuen Liebe nicht verstanden, der Liebe, die zwei freie,
selbständige Menschenseelen miteinander verbindet. So weit in die Zukunft hatte
sein weiser Blick nicht eingedrungen. Doch als die Liebe selbst kam, nahm sie
ihre Wohnung im Herzen einer jungen Frau, in der reinen Seele des Kindes und
lehrte diesem das, was vor den Weisen verborgen war. Und nun hatte das Kind
durch seinen Freitod auch den Weisen aus der Unwissenheit gerettet! Oh, du
seltsamer Weg des Schicksals, oh, du unendliche Weisheit des Schöpfers!
39. MARJATTA
In der Kalevala gibt es eine Rune, die noch
deutlicher als die Aino-Legende auf die Zukunft weist. Es wird auch angenommen,
dass diese Rune in der christlichen Zeit und aus christlicher Phantasie
entstanden sei. Es handelt sich um die fünfzigste, also die letzte Rune der
Kalevala, die von Marjatta und ihrem Sohn handelt. Weil auch die
Marjatta-Episode als die letzte Szene zur Lebensgeschichte des Väinämöinen
gehört und den Abgang des Väinämöinen vor der neuen Zeit schildert, werden wir auch
darauf einen Blick werfen. Diese Episode ist also ‒ aus der sicht des
Väinämöinen gesehen ‒ eine direkte Fortsetzung der Aino-Sage.
Aino wurde in eine atlantische Familie und in atlantische Verhältnisse
geboren, doch ihre Seele gehört bereits zur arischen Zeit und zur arischen
Rasse. Sie ist bereits ein denkendes Individuum. Aber wie fein und zart ist
noch alles Neue in ihr! Ihr persönliches Wesen ist mit sehr festen Banden an
die Familie gebunden. Ihre Liebe zu Mutter, Vater, Bruder, Schwester und zu
ihrer häuslichen Umgebung ist rührend. Ihre neugeborene arische Individualität
lebt in diesem persönlichen Wesen wie ein Vogel im Käfig. Erst wenn sie
zutiefst beleidigt wird, erwacht sie zu ihrem höchsten Bewusstsein. Wenn sie
als Mensch verkauft wird, erwacht ihre sittliche Kraft und sie sieht, in welch
einer unglücklichen Lage sie sich befindet. Doch ihr Erwachen führt sie zu
keinem positiven Ergebnis, sondern nur zum passiven Widerstand. Der Konflikt
spitzt sich zu, wenn sie sieht, dass auch der alte Väinämöinen sie nicht
versteht. Und wenn ihr zugleich das Geheimnis ihrer eigenen Seele – ihre Liebe
zu Väinämöinen – klar wird, wird ihr Schicksal tragisch. „Es wäre besser, gar
nicht geboren zu sein.“ Sie richtet die ganze Kraft ihrer Seele darauf, dass niemand
ahnen könnte, was sie, die arme Jungfrau, gefühlt und gedacht hat. Weil niemand
sie von sich aus versteht, darf auch niemand sie verstehen… Diese fixe Idee
führt sie am Ende – ohne dass sie es selbst merkt – zum Selbstmord: Niemand hat mich erkannt, niemand wird um
mich trauern… In gewisser Weise ist Aino die Apotheose der Jungfräulichkeit und
der Unfruchtbarkeit.
Anders verhält es sich bei Marjatta. Sie ist zwar wie die wiedergeborene
Aino. Das Streben nach Selbständigkeit und persönlicher Selbsterhaltung, die
sich in Aino nur schwach und unklar ausdrückt, entwickelt sich in Marjatta zum
vollen Selbstbewusstsein. Doch Marjattas Schicksal ist anders. Es führt sie von
der unfruchtbaren Jungfräulichkeit zur fruchtbaren Mütterlichkeit, doch durch
welches Leid und durch welche Qualen!
Marjatta korea kuopus
Se kauan kotona kasvoi
Korkean ison kotona,
Emon tuttavan tuvilla.
Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Wuchs schon lange in dem Hause,
In dem Haus des großen Vaters,
In der lieben Mutter Stube. [50. Rune]
So fängt die Rune an und erzählt ausführlich und beinahe spöttisch, wie
jungfräulich stolz und ihrer Reinheit bewusst Marjatta war:
Marjatta korea kuopus,
Tuo on piika pikkarainen
Piti viikoista pyhyyttä,
Ajan kaiken kainoutta;
Syöpi kaunista kaloa,
Petäjätä pehmeätä,
Ei syönyt kanan munia,
Kukerikun riehkatuita,
Eikä lampahan lihoa,
Ku oli ollut oinahilla.
Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Dieses Mädchen klein von Größe,
Pflegte lange ihre Keuschheit,
Alle Zeit war sie voll Demuth;
Nährte sich von schönen Fischen,
Aß die weiche Tannenrinde,
Niemals aß sie Hühnereier,
Eier von den muntern Gackrern,
Aß auch niemals Fleisch des Schaafes,
War das Schaaf gepaart dem Widder. [50. Rune]
Als die Mutter sie zum Melken schickt, antwortet diese feine Dame:
„Ei neiti minun näköinen
Koske sen lehmän nisähän,
Jok’ on häilynyt härillä,
Kun ei hiehoista herune,
Vasikkaisista valune.“
„Nicht wird eine solche Jungfrau
Je der Kühe Euter fassen,
Die mit Stieren munter spielten,
Wenn nichts von der Stärke fließet,
Wenn nichts von dem Kalbe tropfet.“ [50. Rune]
Als der Bruder sie bittet, sich in den mit einer Stute bespannten
Schlitten zu setzen, antwortet die stolze Schönheit:
„En istu hevon rekehen,
Joka lie orilla ollut,
Kun ei varsaset vetäne,
Kuletelle kuutiaiset!“
„Setze mich nicht in den Schlitten,
Bei dem Hengste war die Stute,
Wenn mich nicht die Füllen ziehen,
Welche sechs der Monde zählen.“ [50. Rune]
Zum Schluss wird „Marjatta, das Kind voll Schönheit, Welche stets als
Jungfrau lebte“ Schafshirtin. Hätte die Rune nun wirklich über die
Jungfräulichkeit des Mädchens spotten wollen, so hätte sie die Geschichte
anders verlaufen lassen. Stattdessen betont sie im Lichte der Tatsachen, wie
unschuldig rein ihre Phantasie wirklich war. Zuerst drückt die Rune ein wenig Kritik
aus:
Marjatta korea kuopus
Viikon viipyi paimenessa;
Paha on olla paimenessa;
Tyttölapsen liiatenki:
Mato heinässä matavi,
Sisiliskot siuottavi.
Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Lebte lange so als Hirtin;
Elend ist das Hirtenleben,
Und zumal für eine Jungfrau:
Schlangen kriechen in dem Grase,
Auf dem Boden schleicht die Eidechs’. [50. Rune]
Und dann erfolgt die Legende über die seltsame Preiselbeere, die Marjatta
aß und von der sie schwanger wurde. Und wir verstehen die Legende so, dass
Marjatta an einem Sommertag, auf einem Mooshöcker liegend, in einen tiefen
Schlaf versunken war und eine schöne Vision gesehen hatte: „Von dem Berge rief
die Beere, von der Flur die Preiselbeere: „Komm, o Jungfrau, mich zu pflücken!“
Marjatta korea kuopus
Meni matkoa vähäisen,
Meni marjan katsantahan,
Punapuolan poimintahan
Hyppysillähän hyvillä,
Kätösillä kaunihilla,
Keksi marjasen mäeltä,
Punapuolan kankahalta;
On marja näkemiänsä,
Puola ilmoin luomiansa,
Ylähähkö maasta syöä,
Alahahko puuhun nousta.
Tempoi kartun kankahalta,
Jolla marjan maahan sorti;
Niinpä marja maasta nousi
Kaunoisille kautoloille,
Kaunoisilta kautoloilta,
Puhtahille polviloille,
Puhtahilta polviloilta
Heleville helmasille.
Nousi siitä vyö rivoille,
Vyö rivoilta rinnoillensa,
Rinnoiltansa leuoillensa,
Leuoiltansa huulillensa,
Siitä suuhun suikahutti,
Keikahutti kielellänsä,
Kieleltänsä keruksisihin,
Siitä vatsahan valahti.
Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ging ein wenig auf dem Wege,
Ging die Beere anzuschauen,
Ging die rothe abzupflücken
Mit den schönen Fingerspitzen,
Mit den wunderhübschen Händen.
Sieht die Beere an dem Berge,
Auf der Flur die Preiselbeere;
Ist der Form nach eine Beere,
Eine Preiselbeere deutlich,
Doch nicht konnt’ man sie vom Boden,
Nicht vom Baume aus sie fassen.
Nahm ein Stäbchen von der Heide,
Um die Beer’ herabzudrücken;
Von dem Boden stieg die Beere
Hin auf ihre schönen Schuhe,
Von den schönen Lederschuhen
Auf das Knie der keuschen Jungfrau,
Von dem Knie der keuschen Jungfrau
Auf den Saum, der munter rauschte.
Stieg dann zu des Gürtels Streifen,
Von dem Gürtel zu den Brüsten,
Von den Brüsten zu dem Kinne,
Von dem Kinne zu den Lippen,
Schlüpfte dann zu ihrem Munde,
Schaukelt’ sich auf ihrer Zunge,
Von der Zunge zu der Kehle,
Eilet darauf in den Magen. [50. Rune]
Das war Marjattas Traum. Doch der Traum hatte eine offenbare Folge:
Marjatta korea kuopus,
Tuosta tyytyi, tuosta täytyi,
Tuosta paksuksi panihe,
Lihavaksi liittelihe.
Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ward hiedurch nun voll und schwanger,
Sie erlangte große Fülle
Und ihr Leib ward voller Schwere. [50. Rune]
Das war das bittere Ende ihres jungfräulichen Traumes. Ihre Mutter konnte
bald die richtige Sachlage erraten, behielt aber ihre Gedanken für sich. Doch
als die Geburtswehen begannen und Marjatta ihre Mutter bat, die Sauna zu
heizen, antwortete ihre eigene Mutter herzlos:
„Voi sinua Hiien huora!
Kenen oot makaelema,
Ootko miehen naimattoman,
Eli nainehen urohon?“
„Wehe dir, du Hiisi-Buhle!
Neben wem hast du geruhet,
Bei dem unbeweibten Manne
Oder beim beweibten Helden?“ [50. Rune]
Der Tag der Qual wurde also für Marjatta zum Tag der Rache und
Vergeltung: All die sinnlose Überheblichkeit, mit der sie ihre Familie
belästigt hatte, wandte sich jetzt als kalte, verdammende, unbarmherzige
Demütigung gegen sie. Was nützte es, wenn sie versuchte, ihrer Mutter zu
erklären, wie sie ihrer eigenen Meinung nach schwanger geworden war. Auch der
Vater nannte sie eine Buhle und bat sie, ihr Kind im „Felsenhaus des Bären“ zu
gebären.
Daraufhin verließ sie ihr Zuhause, rief aber beim Gehen, auch in ihrer
Verzweiflung noch stolz:
„En mä portto ollekana,
Tulen lautta lienekänä,
Olen miehen suuren saava,
Jalon synnyn synnyttävä,
Joll’ on valta vallallenki,
Väki Väinämöisellenki.“
„Keineswegs bin eine Buhle,
Bin ich eine Feuerbuhle,
Werde einen großen Helden,
Werd’ gebähren einen Edlen,
Der den Mächt’gen wird gebieten
Und zumal dem Wäinämöinen.“ [50. Rune]
Die arme Marjatta! Die heiligen Muttergefühle waren bereits in ihr
erwacht. Jetzt lässt die Rune auch das letzte spöttische Lächeln und erzählt
über ihr hartes Schicksal mit größtem Mitgefühl.
Von Menschen bekam sie keine Hilfe. Alle jagten sie weg. Allein und
verlassen floh sie in den Wald, „zu dem Haus im Tannenwalde, zu dem Stall am
Tapioberge“ und betete zu Gott um Hilfe.
„Tule luoja turvakseni,
Avukseni armollinen
Näissä töissä työlähissä,
Ajoissa ani kovissa!“
„Komm, o Schöpfer, mir zu Hülfe,
Eil’, Erbarmer her zum Schutze,
Bei dem müherfüllten Werke,
In der gar zu schweren Stunde! [50. Rune]
Und dort gebar sie ihren Sohn „auf das Heu zur Seit’ des Pferdes, auf des
Schönbemähnten Krippe”.
Pesi pienen poikuensa,
Kääri kääreliinahansa;
Otti pojan polvillensa,
Laittoi lapsen helmahansa.
Darauf wusch das kleine Söhnlein,
Wickelt sie es ein in Windeln;
Nimmt den Knaben auf die Kniee,
Auf den Saum von ihrem Kleide. [50. Rune]
Wie sehr sie doch ihr kleines Kind liebte, das Kind der Kummer und Sorge.
Vergessen war die jungfräuliche Überheblichkeit, die sich zur reinen mütterlichen
Demut verwandelt hatte.
Piiletteli poiuttansa,
Kasvatteli kaunoistansa,
Kullaista omenuttansa,
Hopeista sauvoansa,
Sylissänsä syöttelevi,
Käsissänsä kääntelevi.
Barg darauf ihre liebes Söhnlein
Und erzog den Vielgeliebten,
Ihren lieben goldnen Apfel,
Ihr geliebtes Silberstäbchen,
Nährte es in ihren Armen,
Wendet’ es auf ihren Händen. [50. Rune]
Und als der Knabe sich einmal auf einem Sumpf verirrt hatte, welch eine
Qual, welch eine Verzweiflung! Wer hat wohl die Mutterliebe gemessen, wer ihre
Qualen gezählt? Und wer ihre Freude aufgezeichnet? Das Kind wurde auf dem Sumpf
gefunden und nach Hause gebracht. Nur eine Sorge gab es noch:
Siitä meiän Marjatalle
Kasvoi poika kaunokainen;
En tieä nimeä tuolle,
Millä mainita nimellä,
Emo kutsui kukkaseksi,
Vieras vennon joutioksi.
Darauf wuchs der Sohn Marjatta’s,
Wuchs der Knabe voller Schönheit;
Nicht wußt’ man ihn zu benennen,
Keinen Namen ihm zu geben,
Blümlein nannte ihn die Mutter,
Fremde einen Müßiggänger. [50. Rune]
Das Kind musste also getauft werden. Und jetzt tritt Väinämöinen auf
die Bühne.
40. MARJATTAS SOHN UND VÄINÄMÖINEN
Die Marjatta-Legende ‒ sinnbildlich gedeutet
‒ beschreibt sehr treffend die Entstehung einer neuen Rasse. Darauf verweisen
die wichtigsten Merkmale der Legende: die selbstbewusste, lange bewahrte
Jungfräulichkeit, die übernatürliche Schwangerschaft, die Zurückweisung seitens
der Welt und das große Leid. Wenn nämlich die Natur anfängt, eine neue
Wurzelrasse zu erschaffen, belebt sie zuerst das Seelenleben mancher Individuen
der alten Rasse mit neuen Träumen und Sehnsüchten, so dass diese sich in ihren
Gewohnheiten und Ansichten von den anderen unterscheiden. Dann sendet sie
göttliche Boten und Helfer in die Welt, die jene fruchtbaren Seelen mit dem
Ideal des neuen Menschentyps schwängern, und führt sie schließlich abseits der
Menschheit, wo sie zusammen, Schwierigkeiten und Hindernisse überwindend, großes
Leid tragend aber mit göttlicher Hilfe die neue Wurzelrasse anfangen sollen.
Diese sinnbildliche Deutung der Marjatta-Legende wird auch durch die letzte
Episode bestätigt: die Szene mit dem kleinen Kind und Väinämöinen.
Väinämöinen, als Vertreter der Magie, der Erziehungsmethode der alten Rasse,
verabschiedet sich von der neugeborenen Rasse und deren neuer Magie und
verlässt die Welt mit dem Versprechen, zurückzukehren, sobald er wieder
gebraucht wird ‒ denn er ist ja alt und erfahren und als Vorgänger der Vater
der neuen Rasse. Selbst wenn die Rune förmlich erst in der christlichen Zeit
entstanden ist, kann diese Sinnbildliche Deutung trotzdem nicht geleugnet
werden oder weniger glaubhaft erscheinen.
Der gleiche sinnbildliche Geist bleibt die ganze Zeit im Hintergrund und
muss beachtet werden, selbst wenn wir die letzte Szene als die Fortsetzung und
das letzte Kapitel der persönlichen Lebensgeschichte des Väinämöinen
betrachten. Väinämöinen war ja ein Wissender und Magier der Umbruchzeit und er
hatte ja bereits bei der Begegnung mit Aino eingesehen, dass die magische
Erziehungsweise für die Menschen der neuen Zeit nicht mehr geeignet war. Doch
Aino hielt er noch für ein außergewöhnliches Wesen und fand keine Menschen der
neuen Rasse, bevor das Schicksal ihn mit Marjatta zusammenführte…
Bevor dem Sohn Marjattas der Name gegeben werden konnte, erklärte der
alte Mann,[22] der
als Taufer herbeigeholt war, dass man das Kind zuerst prüfen sollte:
„En mä risti riivattua,
Katalata kastakana,
Kun ei ensin tutkittane,
Tutkittane, tuomittane.“
„Werde einen Zaubervollen,
Werd’ den Armen hier nicht taufen,
Wird er nicht zuvor beprüfet,
Nicht beprüfet und besichtigt.” [50. Rune]
In welcher Hinsicht? Vielleicht, ob das Kind wirklich gottgeboren war und
ob es der Schule des Schicksals standhalten würde? Und wer sonst wäre dazu
besser geeignet als der alte Väinämöinen?
Kenpä tuohon tutkiaksi,
Tutkiaksi, tuomariksi?
Vaka vanha Väinämöinen,
Tietäjä iän ikuinen,
Sepä tuohon tutkiaksi,
Tutkiaksi, tuomariksi.
Wer wohl sollte ihn beprüfen,
Wer beprüfen, wer beschauen?
Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Kam den Knaben zu beprüfen,
Zu beprüfen, zu beschauen. [50. Rune]
Der alte Weise kam herbei, tief in Gedanken versunken. Er kam, um über
das Kind der neuen Zeit ein Urteil zu fällen, doch seine Schritte waren schwer
und langsam, denn er näherte sich dem Ort wie einem heiligen Hain, in dem der
teuerste Schatz geopfert werden musste, oder wie einem Richter, aus dessen Mund
man das Urteil über sich selbst hören muss. Und als er vorwärts ging, fielen
seine Gedanken vom Himmel herab, ernst und prüfend, und streiften mit ihren
großen Schwingen moosbedeckte Hüglein.
Bist du standhaft, du Sohn Marjattas, dessen Vater deine Mutter nicht
kennt? Wirst du dem Blick deines Vaters standhalten?[23]
Kannst du dem Zauber seiner Augen widerstehen? Kannst du die Macht seiner Worte
beherrschen? Bist du wirklich ein Nachkomme Ainos und Marjattas, ein neuer
Mensch auf der Erde, bist du dir deiner Aufgabe bewusst, frei vom Alten – oder
wirst auch du noch untergehen? Wirst du schwanken, wirst du untergehen und auch
deinen Vater mit dir zur Verdammnis ziehen? Waren die Anstrengungen deines
Vaters umsonst? Ist der Tod das Ende von allem? Oder wirst du siegen, du
göttlicher Held? Ist ein neuer Tag wirklich angebrochen? Wirst du die Arbeit
deines Vaters verherrlichen? Wirst du eines Tages seine Weisheit, die dich
glücklich machen wird, zurückkehren lassen?“
Und Väinämöinen fragt Marjatta: „Wie ist der Sohn geboren, wie gezeugt
und woher empfangen?“ Und Marjatta erzählt es ihm.
Dann fällt Väinämöinen sein Urteil, ernst und mit finsterer Miene, aber
die Stimme voller heimlicher Trauer.
„Kun lie poika suolta saatu,
Maalta marjasta siennyt,
Poika maahan pantakohon,
Marjamättähän sivulle,
Tahi suolle vietäköhön,
Puulla päähän lyötäköhön!“
„Da der Sohn vom Sumpf empfangen,
Von der Beere ist entstanden,
Soll man ihn zu Boden legen,
Auf die beerenreiche Wiese,
Oder zu dem Sumpfe führen,
Mit dem Baum den Kopf zerschlagen!“ [50. Rune]
Prüfend, streng und intensiv beschwörend blieb der Blick des alten Weisen
auf das Kind gerichtet.
Es erfolgte ein tiefes,
abwartendes, schmerzhaftes und hoffnungsloses Schweigen.
Dann öffnete das Kind seinen Mund und „rief das zwei der Wochen alte“:
„Ohoh sinua ukko utra,
Ukko utra, unteloinen,
Kun olet tuhmin tuominnunna,
Väärin laskenna lakia!“
„O du Alter ohne Einsicht,
Ohne Einsicht, voller Throheit,
Wie du dumm das Urtheil fälltest,
Schlecht gedeutet die Gesetze! [50. Rune]
Der Blick des Weisen erheiterte sich und trübte sich wieder, doch die
Tränen kamen ihm in die Augen und die Strenge verschwand aus seinem Blick. Der
Junge sprach trotzend weiter:
„Eipä syistä suuremmista,
Töistä tuhmemmistakana
Itseäsi suolle viety,
Eikä puulla päähän lyöty.“
Wurdest doch ob größrer Sünde,
Nicht ob Thaten größrer Dummheit
Selber du zum Sumpf geführet,
Nicht am Baum dein Kopf zerschlagen. [50. Rune]
Der Blick des Väinämöinen erhellte sich und strahlte jetzt vor
überirdischer Freude ‒ und Marjattas Sohn sprach weiter:
„Kun sa miesnä nuorempana
Lainasit emosi lapsen
Oman pääsi päästimeksi
Itsesi lunastimeksi.“
Als du als ein Mann voll Jugend
Deiner Mutter Kind verschenket
Als ein Lösgeld für dein Leben,
Um dich selber zu befreien.“ [50. Rune]
Der Blick des Weisen verlor seine Zauberkraft und seine Augen lächelten
strahlend, als er sich an die erste Reise des Ilmarinen nach Pohjola erinnerte.
Doch der Junge sprach erbarmungslos weiter:
„Ei sinua silloinkana,
Eip’ on vielä suolle viety,
Kun sa miesnä nuorempana
Menettelit neiet nuoret
Alle aaltojen syvien,
Päälle mustien mutien.“
„Wurdest damals nicht geführet
Und auch später nicht zum Sumpfe,
Als du als ein Mann voll Jugend
Junge Mädchen sinken ließest
In der Meeresfluthen Tiefe,
Auf den schwarzen Schlamm des Bodens.“ [50. Rune]
Der Blick des Väinämöinen verlor auch den letzten Zweifel, die letzte
Unsicherheit. Eine Träne kullerte auf seine faltenreiche Wange und die Last
fiel von seinen Schultern ab. „Du hast gewonnen, mein Sohn“, flüsterte sein
Herz voller Freude, „und ich bin frei, frei ohne Sorgen zu gehen, frei mit
Freuden wiederzukehren. Gott sei Dank und Ehre.“
Und der alte Virokannas erledigte seine Aufgabe:
Ukko risti ripsahutti,
Kasti lapsen kapsahutti
Karjalan kuninkahaksi,
Kaiken vallan vartiaksi.
Tauft der Alte rasch den Knaben,
Segnet schnell das liebe Kindlein,
Daß es König von Karjala
Hüter aller Mächte werde. [50. Rune]
Väinämöinen, voller Frieden und Freude, kehrte ernsten Schrittes um und trat
ab. Für die anderen sah es aus, als wäre er zornig geworden und hätte sich
geschämt. Doch er ging zum Ufer und sang sich noch das letzte Mal „einen
erzbeschlagnen Nachen“. Er setzt sich an das Ende und „ziehet auf des Meeres
Rücken“. Und beim Segeln „zu den höhern Länderstrecken, zu den niedern
Himmelsräumen“ beschwört er:
„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen sammon saattajaksi,
Uuen soiton suoriaksi,
Uuen kuun kulettajaksi,
Uuen päivän päästäjäksi,
Kun ei kuuta, aurinkoa,
Eikä ilmaista iloa.“
„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne
Wohl sich nie der Welt erfreuet.“[24] [50.
Rune]
V
DIE RÜCKKEHR DES VÄINÄMÖINEN
NATIONAL-OKKULTISTISCHER SCHLÜSSEL
41. VÄINÄMÖINEN UND DAS FINNISCHE VOLK
Väinämöinen ist der erste, der höchste und
der den Runensängern vertrauteste Kalevala-Held. Alle lieben und bewundern ihn,
alle erkennen, dass in ihm das tiefste, was sich im Geist des finnischen Volkes
bewegt, ausgedrückt wird. In ihm wird die Liebe unseres Stammes zu Wissen und
Weisheit, zu Gesang und Poesie, sein Glaube an die Kraft des Wortes und der
Melodie gleichsam personifiziert. Seine unbezwingbare Stärke, seine
Entschlossenheit, seine unüberwindliche Gelassenheit und Ruhe sind in den Augen
eines jeden Finnen Eigenschaften, die den idealen Charakter ausmachen.
Es ist auch kein Wunder, denn in der Persönlichkeit des Väinämöinen
verbirgt sich ein Geheimnis, das ihn zum Vater und Sinnbild unseres ganzen
Volkes macht. Die Schlüssel, die wir bisher benutzt haben, haben seine
Persönlichkeit entweder verallgemeinert oder ihn als ein menschliches Wesen
präsentiert, d.h. ihn entweder zum Gott oder zum Menschen, aber nicht in erster
Linie zu einem Finnen gemacht. Der Schlüssel, den wir noch benutzen wollen,
lässt Väinämöinen auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde stehen, macht ihn
aber zu einem so vollblütigen Finnen, dass jedes Kind des finnischen Volkes
seine Verbindung zu ihm erkennen kann.
Es handelt sich hier um den okkultistisch-nationalen Schlüssel. Es
bedeutet erstens, dass mit Väinämöinen der Geist und die Seele des finnischen
Volkes, unser sogenannter Nationalgeist, dargestellt wird. In ihm
personifizieren sich, wie wir eben sagten, die tiefsten Bestrebungen, der
tiefste Glaube und die tiefste Liebe unserer Nation. Doch es bedeutet auch
etwas anderes. Es bedeutet, dass Väinämöinen als ein „heidnisches“ Gottwesen
nicht gestorben ist, sondern lebt; dass er als Vertreter des finnischen
Nationalgeistes nicht nur eine poetische Vorstellung, sondern auch eine
lebende, persönliche Wirklichkeit ist.
Wie soll man das verstehen? Weil wir hier ein gewisses Geheimnis der
unsichtbaren Welt berühren, müssen wir die Sache ein wenig erläutern.
Die Unterschiedlichkeit der Völker, die äußere wie die innere, hängt von
der Sprache, den natürlichen Lebensbedingungen, dem Klima und vielen anderen
bekannten Faktoren ab. Jede Nation bildet eine Einheit, die in der unsichtbaren
Welt die Form einer über sie schwebenden geistigen Atmosphäre, einer Aura, annimmt. In der Aura sind die
seelischen, für das Volk typischen Eigenschaften zu sehen: sein Charakter,
seine mentalen Eigenschaften, seine Art zu fühlen, seine geistigen Bestrebungen,
seine künstlerischen Neigungen, seine vorherrschenden Meinungen usw., die alle
zusammen die sog. persönliche Volksseele bilden.
Doch hinter dieser kollektiven Volksseele verbirgt sich ein geistiges
Geheimnis. Wie der Mensch sein höheres Selbst hat, dessen vorübergehende
Manifestation seine Persönlichkeit ist, so gibt es für die kollektive Einheit
des Volkes eine geistig zusammenhaltende Kraft, ein individuelles
Intelligenzwesen, das wir den Nationalgeist nennen können. Es handelt sich um
ein selbständiges Geistwesen, das nicht zu unserem menschlichen
Entwicklungssystem gehört, sondern zu einem anderen, dem sog. Engel- oder ‒ in
Sanskrit ‒ Deva-Entwicklungssystem.
In seinem eigenen System ist er ein verhältnismäßig hohes Wesen und hat – vielleicht
um seine eigene Entwicklung zu fördern – die Lebensaufgabe übernommen, für das
Schicksal der Nation und deren geistiges Wachstum zu sorgen. Die von ihm
gewählte Nation steht seinem Herzen sehr nahe, und im Charakter dieser Nation
gibt es etwas, was seinem eigenen Wesen entspricht, denn Herrscher und
gleichzeitig Diener eines Volkes zu werden ist eine schwierige und
verantwortungsvolle Aufgabe. Aus der Nationalaura wird gleichsam sein äußerster
Körper, seine Wohnung, und er nimmt das Seelenleben des Volkes als sein eigenes
an. So entsteht eine ständige Wechselwirkung zwischen dem persönlichen
Seelenleben des Volkes und dem Bewusstsein des Schutzgeistes. Der Engel
versucht, die Seele des Volkes zu schulen und seine eigenen, erhabenen
Inspirationen und Empfindungen in dessen Aura einfließen zu lassen. Auf ein verkörpertes
Volk kann er nicht unmittelbar Einfluss ausüben, sondern nur durch solche
Individuen, die, voller Vaterlandsliebe, auf seine Stimme hören und dann durch
Kunst, Literatur oder Heldentaten seine
Worte und seinen Willen zum Ausdruck bringen. Der Schutzengel steht natürlich
nicht allein, sondern ist von einer mächtigen Schar von Engeln und
Schutzgeistern der niedereren Stufe umgeben; doch die tiefste geistige Wurzel
aller Vaterlandsliebe liegt ausgerechnet darin, dass hinter dem Volk dieses
große, liebende und göttliche Wesen steht, der in den Individuen Liebe erweckt
und diese Liebe mit seiner Gegenliebe beantwortet. Ist es dann verwunderlich,
dass einige Völker ihn als ihren einzigen Gott verehrt haben?[25]
Dass nun Väinämöinen den Nationalgeist Finnlands vertritt, bedeutet nicht
nur, dass in Väinämöinen das Seelenleben des finnischen Volkes personifiziert
ist, sondern auch, dass er, Väinämöinen der alten Runen, des alten Glaubens
und der Kalevala, der Schutzengel ist, der dem finnischen Volk gegeben worden
ist.
Wann er das Schicksal des finnischen Volkes mit dem seinen in diesem
Sinne zusammenband, das können wir mit Sicherheit nicht sagen. Es geschah in prähistorischer
Zeit, in der Kalevala-Zeit, in der die Kultur unserer Ahnen ihre Blütezeit
erlebte. In den Kalevala-Runen über die Lebensschicksale des Väinämöinen
möchten wir gern auch Hinweise auf die Geschicke unseres Schutzengels sehen. In
alten Zeiten war der finnische Stamm groß und mächtig. Dazu gehörten nicht nur
die Ahnen der heutigen Finnen, sondern auch die der Lappländer und der anderen
zur finnischen Völkergruppe gehörenden Völkerstämme. Große Teile Europas
gehörten zu seinem Machtbereich, und die Herrschaft gründete sich eher auf die
Kraft der Weisheit als auf Gewalt. Seine Kultur war eher geistiger als
materieller Art. Es war ein Landwirtschaft, Jagd, Fischerei und andere Gewerbe
und Handel treibendes, aber auch ein feinfühlendes, religiöses und Musik
liebendes Volk, und das Leben hätte für die Menschen ohne Gesang und Poesie,
ohne tieferes Wissen über die Natur und ohne die Kunst der Weisen keinen Wert
gehabt. Seine Weisen waren in die hohe Mysterienweisheit eingeweiht und waren
berühmt für ihre magischen Beschwörungskünste. Es war die Zeit der
Kalevala-Kultur, es war die Zeit des Väinämöinen.
Dann kamen Veränderungen und Umwälzungen. Andere Völker traten auf die
Bühne der Geschichte.[26]
Väinämöinen zog sich zurück, sein Reich brach zusammen. Doch sein Volk begann,
gruppenweise und während langer Zeit, auf die finnische Halbinsel nach dem
Nordland zu wandern. Es kamen Tawastländer, Karelier, Kainu- und Birkarl-Folk,
Bjarmen usw. Und sie bewahrten die alten Zeiten in der Erinnerung. An langen Winterabenden
sangen und rezitierten sie Gedichte darüber. Und merkwürdigerweise glaubten sie
fest daran, dass die alten Zeiten irgendwann zurückkommen werden. Die
Erinnerung an das Versprechen des Väinämöinen, irgendwann zurückzukehren,
bewahrten sie als Überlieferung. Später, nachdem das Christentum nach Finnland
gebracht worden war und das Volk allmählich gelernt hatte, seine alten Götter aufzugeben,
wurde der Abgang des Väinämöinen mit der Einführung des Christentums verbunden,
doch die Prophezeiung wurde nicht vergessen. Bis zu unseren Tagen war sie in
den Abschiedsworten des Väinämöinen zu hören:
„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä, toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen sammon saattajaksi,
Uuen soiton suoriaksi,
Uuen kuun kulettajaksi,
Uuen päivän päästäjäksi,
Kun ei kuuta, aurinkoa,
Eikä ilmaista iloa.“
„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne
Wohl sich nie der Welt erfreuet.“ [50. Rune]
Wie sollte man nun dieses Versprechen des Väinämöinen verstehen? Hat es
eine wahre Bedeutung? Steckt Wahrheit dahinter? Geht es dabei um eine wahre
Tradition oder war es nur ein Zusatz, geboren aus der Phantasie der
Runensänger?
Wir sagten bereits, dass es nicht aus der heidnisch-christlicher
Umbruchszeit stammt, sondern aus einer viel früheren Periode; es wurde am
Anfang der Kullervo-Periode gegeben,[27] und
nach unserer Überzeugung ist es ein wahres Versprechen, das unser Nationalgeist
Väinämöinen durch einen von ihm inspirierten menschlichen Väinämöinen gegeben
hat.
So gesehen können wir fragen: Wenn unser Nationalgeist sich damals nicht
endgültig und für immer zurückzog, was garantiert uns, dass er wiederkehren
wird, und wann wird es geschehen?
Darauf antworten wir: Es wird nicht genau auf die gleiche Weise wie
damals geschehen. Als Väinämöinen zuletzt die finnischen Stämme führte, stand
er gewissermaßen auf dem Standpunkt der Gruppenseele: Sein Volk oder sein Reich
bestand aus verschiedenen Elementen, oder besser gesagt aus verschiedenen
Elementmöglichkeiten. Danach hat sich die europäische Bühne geändert. Bei
seiner Rückkehr muss Väinämöinen einen bestimmten Stamm aus der finnischen Völkerfamilie
wählen. Er muss ein besonderes, ein „auserwähltes“ Volk haben. Woher bekommt er
es und wann wird Väinämöinen wiederkehren?
Väinämöinen ist bereits zurückgekehrt und das Volk hat er bereits
auserwählt. Das Volk ist das finnische Volk und die Rückkehr des Väinämöinen
geschah, als in Europa nach dem Ende des Mittelalters die Neuzeit anbrach. Wir
können diese stufenweise historische Vereinigung unseres Nationalgeistes und
Schutzengels mit unserer Nationalaura in den Worten der Kalevala verfolgen.
„Man wird meiner schon bedürfen“ ‒ wenn die neue Zeit anbricht und die
europäischen Völker auf dem Weg zu einer Zukunft sind, in der es mehr Freiheit
und Kultur gibt. Das Geschah, wie gesagt, am Ende des Mittelalters, und der
Einfluss des Väinämöinen in Finnland war u.a. in der Arbeit Mikael Agricolas zu
sehen.
„Nach mir schauen, nach mir blicken“ ‒ wenn das Volk selbst zu erwachen
und sich als ein eigenständiges Volk zu sehen beginnt und sich gleichzeitig
nach freieren äußeren Verhältnissen und Lebensbedingungen sehnt. Die ersten
Zeichen dieser Bestrebungen fingen etwa vor zweihundert Jahren an, erkennbar zu
werden, mit der Folge, dass in der Geschichte des finnischen Volkes, innerlich
gesehen – teilweise auch äußerlich – eine große Veränderung stattfand: Finnland
löste sich aus der schwedischen Vorherrschaft und wurde in das Russische Reich
einverleibt.[28]
„Daß ich neu den Sampo schaffe“ ‒ wenn das finnische Volk geistig so weit
vorbereitet war, dass es Erinnerungen an die vergangene finnische Kultur aufehmen
konnte. Das geschah im 19. Jahrhundert, vor allem durch die Arbeit Elias
Lönnrots, aber auch Snellmans und der anderen bedeutenden Forscher. Elias
Lönnrot wurde zum Werkzeug des Väinämöinen gewählt, und seine Kalevala und alle
anderen Runen, Gedichte, Beschwörungsformeln usw., die bisher gesammelt worden
sind und immer noch gesammelt werden, bilden den neuen Sampo,[29] den
Väinämöinen uns vorbereitet hat.
„Daß ich neu das Spiel beginne“ ‒ wenn wir, nachdem wir den neuen Sampo (die
Kalevala) erhalten haben und in der Volksseele die Erinnerungen erwacht sind,
selbständige Kulturarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kunst, Religion,
Philosophie usw. beginnen können. Diese Zeit begann, nachdem im neunzehnten
Jahrhundert Kalevala in Buchform erschienen war; danach hat das finnische Volk
auf vielen Gebieten der Kultur wirklich eigenständige Leistungen gebracht. In
großen Kulturländern spricht man bereits allgemein über finnische Musik,
finnische Literatur, finnische Baukunst usw. Väinämöinen hat uns nicht
enttäuscht; seine Worte haben sich buchstäblich bewahrheitet.
„Neu den Mond zum Himmel führe, Frei die neue Sonne mache, Da man ohne
Mond und Sonne Wohl sich nie der Welt erfreuet“ ‒ wenn unser schwer geprüftes
Volk zusammen mit anderen Völkern leidet. Heute leidet Europa wirklich
furchtbare Geburtswehen, und man glaubt auch im Allgemeinen, dass für die
Völker, wenn sie das jetzt herrschende Fegefeuer überstanden haben, eine bessere
Zeit anbricht. Das Versprechen des Väinämöinen wurde also in dieser Hinsicht
noch nicht erfüllt, doch wir glauben fest daran, dass er auch hier nicht falsch
gesehen hat. Es wird auch für Finnland der Tag anbrechen, der Brudertag der
Völker, an dem jede Nation ungehindert sein Heiligstes und Innerstes
verwirklichen kann und auch unser finnisches Volk die Gelegenheit haben wird,
auf die Stimme seines eigenen Nationalgeistes zu hören und seine Verpflichtung
darin sieht, dass es eine echt finnische Kultur, nicht nur auf wenigen
Gebieten, sondern auf allen Lebensbereichen schafft.[30]
Jetzt sollte der Leser nicht ausrufen: „Ist unser Schutzengel etwa der
alte heidnische Väinämöinen! Ist er vielleicht zurückgekehrt und soll er an die
Stelle Christi treten!“ Wer so sagt, der hat uns nicht verstanden. Väinämöinen
ist weder „heidnisch“ noch „christlich“, nicht mehr und nicht weniger als
Christus. Väinämöinen als unser Nationalgeist ist eine lebende, geheime
Wirklichkeit, und wenn wir mit Christus z.B. den Logos meinen, so ist
Väinämöinen natürlich sein Diener. Wenn wir wiederum mit Christus den großen
eingeweihten Weisen meinen, der in der Person Jesu vor ein paar Tausend Jahren
auf Erden lebte, so ist er ‒ Christus ‒ ein ganz anderes Wesen als Väinämöinen
als Nationalgeist; er ist ein Wesen, das gar nicht zu unserer Menschheit
gehört; und sein Werk steht in keinerlei Weise im Widerspruch mit dem Einfluss
des Väinämöinen, der sich in der eigenständigen Entwicklung des finnischen
Volkes manifestiert. In der Wirklichkeit des Lebens, in der Entwicklung der
Völker und der Individuen geht es nicht um den einen oder anderen „Glauben“.
Darin sind alle Religionen und Weltanschauungen Geschwister, Zweige und Blätter
im gleichen Baum der Weisheit; es geht nur darum, wie das einzelne Individuum,
wie das Volk ist und was ein jeder macht.
Wenn aber das Volk eine geistreiche, beglückende und bleibende Kultur
schaffen will, ist es notwendig, dass das Volk in seinem Inneren die Verbindung
mit der geheimen Welt der Weisheit aufrechterhält. Die Kultur blühte und trug
Früchte so lange wie die Völker der alten Zeit durch ihre Mysterien mit der
geheimen Bruderschaft und dem heiligen Sampo-Tempel der Weisheit wirklich in
Verbindung blieben. Als aber die Verbindung unterbrochen wurde, mussten die
Völker ihre eigenen Irrwege gehen, wobei ihre Kultur degenerierte. In der
christlichen Zeit ist die Kirche an die Stelle der alten Mysterien getreten –
zum Teil die Kirche, zum Teil die Universität. Anfangs erhielt die Kirche die
Verbindung mit Jesus und der geheimen Welt aufrecht, doch im Laufe der
Jahrhunderte wurde die Verbindung immer lockerer, so dass heute vermutlich nur
wenige Individuen in der Christenheit persönliche Jünger Jesu selbst sind,[31] und
auch diese wohl kaum innerhalb der Kirche. Wenn man will und wünscht, dass die
heutige christliche Kultur weiterleben, sich entwickeln und sich vergeistigen
wird, ist es deshalb notwendig, dass ‒ entweder innerhalb oder außerhalb der
Kirche ‒ die Mysterien wiederbelebt werden und die ursprüngliche Verbindung mit
Jesus und der geheimen Bruderschaft wiederhergestellt wird.
Und diese Renaissance der Mysterien kann nur so geschehen, dass jede
Nation zuerst sein eigenes höheres Selbst findet. Das 19. Jahrhundert war für
die Christenheit eine Vorbereitung dazu; das wissen wir Finnen aus unserer
eigenen Geschichte. Für ein Volk, das eine Vergangenheit hinter sich hat,
bedeutet das Finden des höheren Selbstes, dass es aus der Nacht der Finsternis
all das ans Tageslicht bringt, was in seiner Vergangenheit geistreich, edel und
schön war. Und es reicht nicht, wenn man sich nur förmlich daran erinnert,
sondern der alte Geist muss im Bewusstsein des Volkes erneut und in erläuterter
Form auferweckt werden. Deshalb war die Wiederbelebung der alten Erinnerungen,
das Schmieden des neuen Sampo usw., ein Zeichen dafür, dass Väinämöinen zum
finnischen Volk zurückgekehrt ist. Die förmliche Arbeit wurde bereits zum Teil
getan. Die Aufgabe des finnischen Volkes besteht nun darin, den alten
Väinämöinen-Geist und seine Weisheit wiederzubeleben und diesen Geist in das
vom heutigen Christentum geschulte und aufgeklärte Bewusstsein einzuverleiben.
Und das zwanzigste Jahrhundert wird sehen, inwiefern das finnische Volk – so
wie auch andere Völker – bei dieser großartigen Arbeit erfolgreich sein wird.
Das Versprechen des Väinämöinen haben wir; und wir sind sicher dass er, unser
lieber Nationalgeist, seinerseits seine Aufgabe erfüllen wird…
Suuni jo sulkea pitäisi,
Kiinni kieleni sitoa,
Laata virren laulannasta,
Herätä heläjännästä:…
„Eipä koski vuolaskana
Laske vettänsä loputen,
Eikä laulaja hyväinen
Laula tyyni taitoansa;…
Mieli on jäämähän parempi
Kuin on kesken katkemahan.“
Niin luonen, lopettanenki,
Herennenki, heittänenki...
Elkätte hyvät imeiset
Tuota ouoksi otelko,
Jos ma lapsi liioin lauloin,
Pieni pilpatin pahasti!
En ole opissa ollut,
Käynyt mailla mahtimiesten,
Saanut ulkoa sanoja,
Loitompata lausehia...
Vaan kuitenki, kaikitenki
Laun hiihin laulajoille,
Laun hiihin, latvan taitoin,
Oksat karsin, tien osoitin;
Siitäpä nyt tie menevi,
Ura uusi urkenevi
Laajemmille laulajoille,
Runsahammille runoille
Nuorisossa nousevassa,
Kansassa kasuavassa.
Werd’ den Mund nun schließen müssen,
Meine Zunge fest nun binden,
Werde von dem Liede lassen,
Von dem muntern Sange abstehn…
„Selbst des Wasserfalles Strömung
Läßt nicht alles Wasser fließen,…
Also wird der gute Sänger
Auch nicht alle Lieder singen;
Besser ist es aufzuhören,
Als zur Mitte abzubrechen.“
So beginnend, also endend,
So beschließend, so verlassend,…
Mögt ihr nicht, o guten Leute,
Darob ein Befremden fühlen,
Daß als Kind ich viel gesungen,
Daß ich Kleiner schlecht gezwitschert!
Bin in keiner Lehr’ gewesen,
War nicht bei den mächt’gen Männern,
Hab’ nicht fremde Wort’ empfangen,
Keine Rede aus der Ferne…
Doch wie dieses nun auch sein mag,
Hab’ den Weg gezeigt den Sängern,
Zeigt’ den Weg und bog den Wipfel,
Brach die Zweige, bahnt’ die Pfade;
Hier nun führt der Weg in Zukunft,
Hier eröffnet sich der Fußpfad
Für die Sänger, die begabter,
Für die reichlicheren Lieder
In der Jugend, die sich hebet,
In dem wachsenden Geschlechte. [50. Rune]
[1] In den ersten Aufzeichnungen
Lönnrots werden Pohjola (das Nordland) und Manala (das Totenreich)
nebeneinander erwähnt. Siehe Kalevalan esityöt,
I, Väinämöinen (Vorbereitungsarbeiten zur Kalevala I, Väinämöinen), z.B. S.
230‒231: „Poikki Pohjolan joesta, Manalan alantehesta („Durch den Fluss
Pohjolas, Aus dem untern Raum Manalas“), S. 550‒551: „Noille Pohjolan vesille,
Manalan alantehille“ („Auf die Gewässer Pohjolas, In die untre Flut Manalas“). [In
den ingermanländischen Versionen der Rune über die Werbung um die
Nordlandstochter steht, anstatt Pohjola, Manala. ‒ J.M.]
[2] [In der Kalevala-Übersetzung
von Anton Schiefner steht anstatt der Kantele die ”Harfe”. ‒ M.H.]
[3] Johannesev. 3: 8.
[4] [Zitat aus der Ode in Carmina, III/III, 7 von Horatius. ‒ J.M.]
[5] Dieses Schlangenfeuer hat
tatsächlich bereits früher auf der Bühne gestanden, obwohl die Kalevala nichts
darüber berichtet. Der „große Stier“ Pohjolas, der auf der Hochzeit von Pohjola
erscheint, ist möglicherweise ein Hinweis auf das Schlangenfeuer. Das Erwecken
der psychischen Kräfte steht im Allgemeinen im Zusammenhang mit dem
Schlangenfeuer. Das Schlangenfeuer heißt auf Lateinisch kundalini, auf Griechisch speirema.
[6] [Allan Menzies (1845‒1916),
Professor of Divinity and Biblical Criticism an der Universität St Andrews,
Schottland, Herausgeber des Review of
Theology and Philosophy. Die erste Auflage des Buches History
of Religion, A Sketch of Primitive Religious Beliefs and Practices, and of
the Origin and Character of the Great Systems, erschien im Jahr 1895. ‒ J.M.]
[7] Op. cit. S. 56, 57.
[8] [Heinrich Schurtz (1863‒1905),
deutscher Theologe und Historiker.
‒ J.M.]
[9] [Leipzig 1912, hier aus
der finnischen Ausgabe übersetzt. ‒
M.H.]
[10] Op. cit.
S. 757.
[11] Otava eli Suomalaisia huvituksia, I osa
(Otava oder finnische Belustigungen, Teil I), Stockholm 1831, S. 26, 27.
[12] Henrik Gabriel Porthanin tutkimuksia (Nachforschungen von Henrik
Gabriel Porthan), finnische Übersetzung Edv. Rein. Suom. Kirjallisuuden Seura,
Helsinki 1904, S. 173‒207.
[13] Mad. Blavatsky sagt in ihrer
Geheimlehre, dass Chinesen, Japaner, Mongolen, Finnen, Türken usw. zur
siebenten (mongolischen) Unterrasse der atlantischen Wurzelrasse gehören.
Gewisse Gelehrte, z.B. Yrjö Koskinen* in seiner Dissertation Tiedot Suomensuvun muinaisuudesta
(Angaben über die Vergangenheit des finnischen Völkerstammes), meinen, dass die
finnische Völkerfamilie turanischen** Ursprungs sei und dass dazu im alten
Babylon die Chaldäer und Sumerer gehörten. Nach theosophischer Einteilung waren
auch sie atlantische Völker; Kaleva könnte, wie Ganander meint, historisch
gesehen der Name eines Riesen gewesen sein. Der Sage nach hatte er zwölf Söhne,
von denen, wie wir bereits bemerkt haben, die Haupthelden der Kalevala am
bekanntesten sind; alle Namen sind auch gar nicht bekannt. J. R. Aspelin hatte
ohne Zweifel Recht, als er annahm, dass, wenn die Namen und Leistungen aller
Söhne bekannt werden, die alte Geschichte Finnlands in einem neuen Licht
erscheinen wird. Und wer weiß, inwiefern Bischof Daniel Juslenius*** mit seinem
Irrtum Recht hatte, als er glaubte, dass Finnland in uralter Zeit ein mächtiges
Reich war, beherrscht von Königen aus dem eigenen Volk? Es waren
„Kalevala-Zeiten“, und Kalevala war nicht die heutige finnische Halbinsel.
Lönnrot erwähnt auch, dass in einem Volksmärchen die Söhne Kalevas für Riesen
gehalten werden. Das kann man mit der Überlieferung und dem Geheimwissen, dass
die Atlantis-Bewohner grösser waren als die heutigen Arier, vergleichen.
[* Yrjö Sakari Yrjö-Koskinen (1830‒1903),
Professor für allgemeine Geschichte an der Universität von Helsinki, Senator
und Politiker. ‒ J.M.]
[** Turanisch: Ein von dem Sprach- und
Religionswissenschaftler F. Max Müller (1823‒1900) erfundener philologischer
Begriff, zu dem er alle europäischen und asiatischen Sprachen, außer
indogermanischen, semitistischen und chinesischen Sprachen, gezählt werden. ‒
J.M.]
[*** Daniel Juslenius 1676‒1752, Professor für Hebräisch, Griechisch und
Theologie an der Akademie von Turku, außerdem Bischof von Porvoo und Skara
(Schweden). ‒ J.M.]
[14] Siehe Kapitel 10. Lemminkäinen-Kräfte.
[15] Siehe Kapitel 27, Die jüngere
Schwester der Nordlandstochter. In seinem Buch Suomen suvun pakanallinen jumalanpalvelus (Heidnische Gottesanbetung
des finnischen Völkerstammes) erzählt J. Krohn über „Muzhan“, den Schamanen
oder Hexen der Tsheremissen [heute Mari], folgendes: „Auch muss er in seinem
Leben absolut sittlich sein. Doch vor allen Dingen wird vorausgesetzt, dass er
in unmittelbarer Verbindung mit den Göttern steht. Er muss die Zukunft
voraussagen können, Diebe aufdecken, Krankheiten erkennen usw. Seine Visionen
bekommt er manchmal in wachem Zustand, meistens jedoch im Traum. Es handelt
sich nicht nur um ein natürliches, nächtliches Träumen in der Nacht, sondern auch
künstliches Träumen wird ausgeübt… Das Einschlafen ist hier nichts anderes als
eine neue Art, den unbewussten Zustand zu erstreben, von dem man glaubt, dass
darin die Seele, vom Einfluss der Umgebung befreit, in den Bereich der übersinnlichen
Erfahrung emporsteigt.“ (S. 105).
[16] Siehe Kapitel 10, Die Lemminkäinen-Kräfte.
[17] Unser berühmter Historiker Yrjö
Koskinen sagt: „Doch wir sollten wenigstens bedenken, dass der Name Suomi,
Same, nicht nur dem heutigen finnischen Volk gehört, sondern sich
möglicherweise früher über die ganze Finnische Völkerfamilie erstreckt hat.
Wenn wir nun in einem Satz alles zusammenfassen wollen, was im Vorhergehenden
erklärt wurde, so sagen wir, dass der Historienschreibung eine wichtige
Tatsache hinzugefügt worden ist, nämlich die alte Macht der Turaner auf dem
Gebiet zwischen Sindh und Eufrat. Dass die Turaner in diesem Fall zur
finnischen Völkerfamilie gehören, ist eine Vermutung, die von aller
Wahrscheinlichkeit untermauert wird; darauf verweisen die allgemeinen
sprachwissenschaftlichen Aspekte; dazu neigen auch die Nachforschungen zu Pfeilspitzenschriften.
Doch wie auch immer das endgültige
Urteil lauten mag, offenbar ist, dass die finnische Sprache und die alte
finnische Dichtung, die beide auf einem uralten Fundament zu stehen scheinen,
in der Waage der Forschung ein hohes Gewicht gewinnen werden.“ Tiedot Suomensuvun muinaisuudesta
(Angaben über die Vergangenheit des finnischen Völkerstammes), Helsinki 1862,
S. 18, 19.
[18] In der Zusammenfassung seiner
Abhandlung Hafva Lappar och Finnar på
skilda tider invandrat till Norden? (Haben die Finnen und Lappländer zu
unterschiedlichen Zeiten nach dem Norden gezogen?) schreibt Joh. Ad. Lindström*
folgendes: „Als Schlussfolgerung dieser Abhandlung bleibt also, dass die Finnen
das älteste Volk Europas waren und dass sie seit ungeahnter Zeit die
nördlichsten Länder Europas beherrscht haben. Siehe Suomi (Finnland), 1859, Ebd.,
S. 40. Man sieht, dass die älteren Historiker in ihren Schlussfolgerungen
mutiger waren als die heutigen. Ist das vielleicht allein auf „mangelhaftere
Kenntnisse“ zurückzuführen? Wie Wettenhovi-Aspa** in unseren Tagen, so
vermutete auch Dr. K. Meijer, dass ein Teil der turanischen Urbevölkerung aus
Afrika nach Europa gekommen war. Vgl. o.a. Dissertation von Koskinen, S. 31. Es
scheint, dass die Gelehrten in Bezug auf Skandinavien heute den Standpunkt
vertreten, dass die Menschen der älteren Steinzeit (vor ca. 10.000 Jahren)
Lappländer, aber die Bevölkerung der späteren Steinzeit (vor ca. 6.000 Jahren)
bereits germanischen Ursprungs waren. Vgl. C. Grimberg, Svenska folkets underbara öden (Wunderbare Schicksale des
schwedischen Volkes), I Stockholm 1913, S. 20. Dass diese späteren Menschen
einen langen Schädel hatten, beweist unserer Meinung nach nicht unbedingt, dass
sie Germanen waren, denn auch Finnen, zumindest die Karelier und die
Kainuu-Bewohner, hatten einen langen Schädel.
* [Johan
Adolf Lindström 1819‒1874, Pfarrer, Philologe und Historiker. ‒ J.M.]
** [Georg Sigurd Wettenhovi-Aspa 1870‒1946,
Bildhauer und Kunstmaler. ‒ J.M.]
[19] [Der bunte Deckel – kirjokansi,
vgl. Buch – kirja und Deckel – kansi. ‒ M.H.]
[20] Das kann man mit der von dem Norweger
Friis sehr gut begründeten Behauptung vergleichen. Er sagt, dass der Sampo eine
besonders wertvolle und berühmte lappländische Hexentrommel sei.
[21] Die zuletzt und weiter oben
zitierten Worte sind der Rune ”Vellamon neidin onginta” (Das Angeln der
Seejungfrau Wellamo) entnommen, gehören aber dem Inhalt nach zur Aino-Episode.
[22] In der Allegorie ist dieser
alte „Virokannas“ der Manu der neuen
Rasse, d.h. ein geistiger Typ und Führer. Der Name „Virokannas“ bedeutet also
das gleiche wie das indische Wort „Vaivasvata“
(Vaivasvata Manu). Merkwürdigerweise gibt es ein sanskrit-Wort, das dem Wort
„Virokannas“ ähnelt und etymologisch das gleiche bedeutet wie „Vaivasvata“,
selbst wenn es in der Mythologie der Name eines Daimons ist. „Vaivasvata“ bedeutet
nämlich „von der Sonne kommend“; wie auch das Wort „Vairocana“, das aus dem Wort „Virocana“,
Sonne, kommt.
[In dem von Mikael Agricola
zusammengestellten Götzenverzeichnis erscheint Virokannas mit dem Namen Virancannos als Gott der Karelier, der Hüter
des Hafers. ‒ J.M.]
[23] [Nach der von dem Folkloristen Martti Haavio im Jahr 1950
vorgebrachten Interpretation ist das auf dem Sumpf gefundene Kind der Sohn des
Väinämöinen. (Martti Haavio, Väinämöinen,
Eternal sage (1952, 2. Auflage 1992. S. 183). ‒ J.M.]
[24] Marjattas Sohn ist in der
Volksdichtung nicht Christus, sondern Kullervo. Die Kullervo-Episode erzählt
von der Geschichte und dem Seelenleben der arischen Rasse, obwohl wir dieses
Thema hier nicht behandeln.
[Nur in einem der
verschiedenen Paralleltexte der Volksdichtung steht der Name des Kindes; darin
heißt es Kaukamoinen. ‒ J.M.]
[25] Das Verhältnis zwischen dem
Deva und dem Volk usw. habe ich etwas umgehender im Heft Suomen kansallishaltia (Der Nationalgeist Finnlands), Helsinki
1913, Teosofinen Kirjakauppa ja Kustannusliike, geschildert.
[26] Nach dieser Auffassung sind
z.B. die Germanen später nach Europa gekommen als unsere finnischen Ahnen, und
die alte Edda-Religion der Germanen, in der vieles mit der der Kalevala übereinstimmt,
hat mit gleich gutem Grund Züge aus der Weltanschauung der Finnen geliehen als
umgekehrt. Vgl. Yrjö Koskinen: „Wenn es nun in den europäischen Sprachen im
Allgemeinen finnisch-stämmige Züge gibt, deren Ursprung nicht durch Umstände
und Verhältnisse der historischen Epochen zu erklären sind, ist das meiner
Meinung nach einer der bedeutendsten Beweise dafür, dass die Bevölkerung, die
bereits in prähistorischer Zeit im europäischen Gebiet lebte, zur finnischen
Völkerfamilie gehörte.“ Tiedot Suomen suvun
muinaisuudesta (Angaben über die Vergangenheit finnischer Völkerstämme), S.
25, 26.
[27] In diesem Buch sprechen wir
nicht über Kullervo.
[28] [Im Jahr 1809 ‒ M.H.]
[29] Vgl. Kapitel 37 „Im Wechsel der
Zeiten“, in dem die Bedeutung des Sampo behandelt wird.
[30] Vgl. was darüber in meinem Buch
Suomen
kansallishaltia (der Nationalgeist Finnlands), Helsinki 1913, berichtet
wird.
[31] Darüber mehr in meinem Buch Jeesuksen salakoulu. [Deutsche Übersetzung:
Die Geheimschule Jesu, Mänttä 2008 ‒
M.H.]
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