Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung

Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung
Väinämöinen und Aino

Donnerstag, 1. Januar 2015

Teil 4



30. DAS KANTELESPIEL


Der nächste Schritt beim Bau des Sonnenkörpers ist die Organisierung des sog. Luftkörpers, der „Bau der Kantele“, wie die Kalevala sagt. Es handelt sich nicht um einen neuen Bewusstseinsträger, sondern um eine „Neugeburt“ des Wasserkörpers, um dessen Ausrüstung mit neuen Fähigkeiten, so dass dem Menschen eine neue Seite der unsichtbaren Welt zum Erforschen geöffnet wird.
Die Reise der Sampofahrer geht langsam vorwärts. Auch andere Wesen der unsichtbaren Welt werden von ihrem Glück angesteckt. Väinämöinen alt und wahrhaft

Laski laulellen vesiä,
Ilon lyöen lainehia.
Neiet niemien nenissä
Katselevat, kuuntelevat:
„Mi lienee ilo merellä,
Mikä laulu lainehilla,
Ilo entistä parempi
Laulu muita laatuisampi?“

Steuert singend durch die Wogen,
Voller Freude durch die Fluthen.
Auf der Landspitz’ schauen Mädchen,
Schauen sie und lauschen also:
„Was für Jubel ist im Meere,
Was für Sang dort auf den Fluthen,
Bess’rer Jubel als je früher,
Sang weit schöner als der sonst’ge?“ [40. Rune]

 Die Reise geht über „Landgewässer, des Sumpfs Gewässer und durch Ströme“. Auch Stromschnellen werden erfolgreich bewältigt:

Itse vanha Väinämöinen
Laskea karehtelevi,
Laski louhien lomitse
Noita kuohuja kovia,
Eikä puutu puinen pursi,
Vene tietäjän takellu.

Selbst der alte Wäinämöinen
Steuert fort nun durch die Wogen,
Steuerte durch Felsenspalten,
Durch den Schaum voll wilden Brausens,
Hängen blieb dort nicht der Nachen,
Stecken nicht das Boot des Kund’gen. [40. Rune]

Doch plötzlich stoßen die Sampofahrer auf ein Hindernis und das Boot bleibt daran stecken:

Äsken tuonne tultuansa
Noille väljille vesille
Puuttui pursi juoksemasta,
Venonen pakenemasta;
Pursi puuttuvi lujahan,
Vene vieremättömäksi.

Erst als es darauf gekommen
In die weitgedehnten Wasser,
Blieb das Boot im Laufe stecken,
Blieb der Nachen stehn im Eilen;
Haftet fest auf einer Stelle,
Kann vom Fleck sich nicht bewegen. [40. Rune]

Und beim Nachsehen, ob das Hindernis eine Klippe oder ein Strauch war, sieht man, dass das Boot „auf der Schulter eines Hechtes“ sitzt. Bevor wir weitergehen, müssen auch wir nun diesen „Hecht“ genauer prüfen.
Der Name erinnert uns an den „großen Hecht“, den Ilmarinen als die dritte Aufgabe aus dem Fluss von Tuonela fing, und wir erwarten beinahe, dass die Kalevala den Fluss auch an dieser Stelle den Fluss von Tuonela nennen würde. Den „Hecht Fangen“ bedeutete damals, dass Ilmarinen seine Gewohnheiten, Fähigkeiten und Instinkte, die im Innenbewusstsein und zugleich im unsichtbaren ätherischen Doppelgänger des physischen Körpers wohnten, reinigen musste. Handelt es sich vielleicht auch jetzt, auf der Sampofahrt, um die gleiche Bedeutung? Ja, obwohl Ilmarinen der Sache jetzt nicht von der Seite des Wachbewusstseins, sondern von der Seite des Innenbewusstseins her nähert, also nicht in der physischen, sondern in der unsichtbaren Welt. Die Reise als Sampofahrer geht vom Selbst des Menschen nach unten, zum Körper hin und nicht wie als Brautfahrer umgekehrt. Deshalb ist es nicht notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Hecht sich im Fluss von Tuonela befindet – obwohl das der Fall ist.[1] 
Auch jetzt geht es um Gewohnheiten, Fähigkeiten, Instinkte und den unsichtbaren ätherischen Doppelgänger des Körpers. Der Mensch handelt und bewegt sich in seinem Wasserkörper frei und bleibt am Hecht des Ätherkörpers stecken. Was bedeutet das? Ganz einfach, dass er noch nicht imstande ist, sein geheimes Wasserkörperbewusstsein in sein physisches Gehirn, in sein Wachbewusstsein, zu versetzen. Sein Selbstbewusstsein ist noch nicht ununterbrochen: In seinem Wachbewusstsein ist er Ilmarinen Nr. 1 und in seinem Traumbewusstsein Ilmarinen Nr. 2. Dieser Ilmarinen Nr. 2 ist talentierter und viel weiter entwickelt als die Nr. 1. Er ist des wachbewussten – viel kleineren – Ilmarinen bewusst, doch der wachbewusste Ilmarinen hat nur stückhafte Erinnerungen an seinen nächtlichen Zwillingsbruder, und dessen größere Fähigkeiten äußern sich im Wachbewusstsein nur als vorübergehende zauberhafte Phänomene: als Visionen, Erscheinungen, Inspirationen usw. Der Tuonela-Fluss des Vergessens trennt immer noch das Wachbewusstsein vom Unterbewusstsein. Das Entwicklungsgesetz erfordert jedoch, dass das Hindernis, das vor dem Vergessen liegt, beseitigt wird: Das Bewusstsein muss ununterbrochen und anhaltend gemacht werden. Die Fähigkeiten, Instinkte und Gewohnheiten des Wasserkörpers müssen im physischen Gehirn erweckt werden.
Wie geht das vor sich?
Väinämöinen bittet zuerst Lemminkäinen, das Hindernis zu beseitigen:

„Veä miekalla vetehen,
Katkaise kala kaheksi!“

Fahre mit dem Schwert in’s Wasser,
Schlage du den Fisch in Stücke!“ [40. Rune]

Lemminkäinen zieht das Schwert aus dem Gurte und

Veti miekalla meryttä,
Alta laian laskettavi,
Itse vierähti vetehen,
Kourin aaltohon kohahti.

Fuhr in’s Wasser mit der Klinge,
Hieb hinab am Rand des Bootes,
Stürzet selber in das Wasser,
Fährt in’s Meer mit seinen Fäusten. [40. Rune]

Weil Lemminkäinen so wenig Erfolg hat, kommt Ilmarinen zu Hilfe und fasst

Tarttui tukkahan urosta,
Nostatti merestä miehen,

Itse tuon sanoiksi virkki:
„Kaikki on mieheksi kyhätty.“

Bei den Haaren diesen Helden,
Hebt den Mann aus Meeresfluthen,
Redet selber diese Worte:
„Alle sind gemacht zu Männern.” [40. Rune]

Ilmarinen zieht sein Schwert, um auf den Fisch zu schlagen, aber dann:

Miekka murskaksi mureni,
Eipä hauki tiennytkänä.

In Stücke sprang die Klinge,
Ohne daß der Hecht was merkte. [40. Rune]

Väinämöinen kommt zu Hilfe und sein feuriges Schwert der Wahrheit tötet den Hecht:

Siitä vanha Väinämöinen
Nostalti kaloa tuota,
Veti haukia ve’estä:
Hauki katkesi kaheksi,
Pursto pohjahan putosi,
Pää kavahti karpahasen.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Zog den Fisch nun in die Höhe,
Zog den Hecht hoch aus dem Wasser:
Dieser bricht darauf in Stücke,
Auf den Boden stürzt der Fischschweif,
In das Boot der Kopf des Hechtes. [40. Rune]

Jetzt rührt sich das Boot und Väinämöinen lenkt es ans Ufer, wo der Hechtkopf gekocht und „zu einem schönen Schmause“ gegessen wird (40: 173‒204).
Mit dieser etwas scherzhaften Episode hat die Kalevala anscheinend betonen wollen, wie schwer es ist, das physische Gehirnbewusstsein zu erobern und die Ohnmachtsgrenze zwischen dem Wach- und dem Unterbewusstsein zu beseitigen. Es geht nicht im Handumdrehen: weder im ersten Augenblick des Enthusiasmus (Lemminkäinen), noch in stolzem Selbstbewusstsein (Ilmarinen), sondern nur durch vernünftige und ruhige Kraftanstrengung. Was muss man nämlich tun, damit der Wasserkörper ungehindert auf den Ätherkörper und dadurch auf das Gehirn einwirken könnte? Man muss im unsichtbaren Doppelgänger des physischen Körpers das dem Gehirn entsprechende Kraftzentrum zur vollen Funktion erwecken, das dann das Bewusstsein ungehindert durchfließen lässt. Wenn es nämlich nur in natürlicher Weise funktioniert, ist es wie ein Wirbel, das das Bewusstsein in sich hinein schluckt und es gleichsam in Ohnmacht schlägt. Was berechtigt und imstande ist, es zu erwecken, ist einzig und allein das „Schwert des Geistes“: eine klare Vorstellung über die zu erledigende Aufgabe, ein fester Glaube an die Uneigennützigkeit des Motivs und geduldige Kraftanstrengung. Das Schwert wird zum dem Gehirn entsprechenden Zentrum gerichtet, der „Hechtkopf“ wird gegessen und das geheime Innenbewusstsein öffnet sich im physischen Gehirn. Jetzt ist der Mensch in der Lage, Fähigkeiten und Eigenschaften seines Wasserkörpers auch am Tage zu benutzen. Was früher vorübergehend und nur dann und wann ausbrechen konnte, wird jetzt zu einer bleibenden Eigenschaft. Hatte der Wahrheitssuchende früher z.B. die geheime Wahrnehmungsfähigkeit seines Wasserkörpers entwickelt, wird er jetzt zu einem wahren Klarsichtigen und Klarhörigen; er zieht die unsichtbare Welt nicht ungewollt an sich, wie ein Medium oder ein psychisch sensitiver Mensch, sondern bewegt sich darin wie ein freier und über sich selbst herrschender Bürger. Hatte er wiederum, in seinem Wasserkörper arbeitend, aufgrund seines früheren Charakters, gelernt, mit höheren Wesen der unsichtbaren Welt (Göttern, Engeln, Naturgeistern, Weisen) umzugehen und von ihnen Inspirationen zu empfangen (was sich z.B. in seiner künstlerischen Tätigkeit und der sog. allgemeinen Genialität äußerte), ist er jetzt in der Lage, gleichsam in einem ständigen Inspirationszustand zu leben – sich immer wie ein König unter den Menschen zu fühlen.
Aber noch ist erst die Hälfte der Arbeit getan. Noch muss der Wasserkörper zu einem Luftkörper umgewandelt werden. Die Kalevala erzählt auch, wie Väinämöinen die von der Mahlzeit übrig gebliebenen Fischbeine auf dem Felsen liegen sieht und überlegt, was man daraus noch machen könnte.

„Noista hau’in hampahista,
Leveästä leukaluusta,
Jos oisi sepon pajassa,
Luona taitavan takojan,
Miehen mahtavan käsissä?“

”Aus den Zähnen dieses Hechtes,
Aus den weitgestreckten Kiefern,
Wär’n sie in des Schmiedes Esse,
Bei dem kund’gen Schmiedekünstler,
In der Hand des klugen Mannes?“ [40. Rune]

Wenn Ilmarinen meint, dass aus dem Nichts nichts kommt, antwortet Väinämöinen, dass man daraus zum Beispiel eine Kantele[2] anfertigen kann, und macht sich sofort an die Arbeit:

Laati soiton hau’inluisen,
Suoritti ilon ikuisen.
Kust’ on koppa kanteletta?
Hau’in suuren leukaluusta.
Kust’ on naulat kanteletta?
Ne on hau’in hampahista.
Kusta kielet kanteletta?
Hivuksista Hiien ruunan.

Macht ein Spielzeug aus den Gräten,
Macht ein Werkzeug ew’ger Freude.
Woher ist der Harfe Wölbung?
Aus des großen Hechtes Kiefer!
Woraus sind der Harfe Stifte?
Aus des grossen Hechtes Zähnen;
Woraus sind der Harfe Schrauben?
Aus dem Haar des Hiisi-Wallachs. [40. Rune]

In einer anderen Version der Rune 44 wird für die Kantele eine weinende Birke benutzt, die zu Väinämöinen über ihre Kummer und Sorgen geklagt hatte. Die Nägel für seine Kantele bekommt Väinämöinen aus einer Eiche:

Kasvoi tammi tanhualla,
Puu pitkä pihan perällä,
Tammessa tasaiset oksat,
Joka oksalla omena,
Omenalla kultapyörä,
Kultapyörällä käkönen.
Kun käki kukahtelevi,
Sanoin viisin virkkelevi,
Kulta suusta kumpuavi,
Hopea valahtelevi
Kultaiselle kunnahalle,
Hopeiselle mäelle;
Siitä naulat kantelehen,
Vääntimet visaperähän.

Wuchs ein Eichbaum an dem Wege,
In die Höhe auf dem Hofe,
Hatte Zweige gleicher Größe,
Eicheln dort auf jedem Zweige,
Goldne Kugeln an den Eicheln,
Auf der Kugel einen Kuckuck.
Wenn der Kuckucksruf ertönte,
Fünf der Töne dort erschallten,
Floß ihm Gold aus seinem Schnabel,
Goß herab sich reiches Silber
Auf die goldbedeckten Hügel,
Auf die silberreichen Höhen;
Daher nahm er Harfennägel,
Daher Pflöcke zu dem Spielzeug. [44. Rune]

Und wenn Väinämöinen endlich anfängt, Saiten für seine Kantele zu suchen, sieht er am Abend eine Jungfrau, die auf der Wiese singend auf ihren Geliebten wartet. Er fragt, ob sie aus ihren Haaren Saiten für seine Kantele machen dürfte – und

Antoi impi hapsiansa,
Hienoja hivuksiansa,
Antoi hasta viisi, kuusi,
Sekä seitsemän hivusta;
Siit’ on kielet kantelessa,
Ääntimet iki ilossa.

Ihre Haare gab die Jungfrau,
Gab von ihren weichen Haaren,
Gab derselben fünf, ja sechse,
Gab ihm sieben ganze Haare,
Daraus sind der Harfe Saiten,
Sind die ew’gen Freudenwecker. [44. Rune]

Und dann erfolgt in beiden Versionen die wunderbare und bekannte Episode über das Kantele Spielen. Zuerst versuchen andere, das neue Instrument zu spielen, ohne jedoch den richtigen Klang hervorzubringen. Endlich nimmt Väinämöinen die Kantele auf die Knie und verzaubert mit seinem Spiel die gesamte lebende Natur (40: 241‒342; 41 und 44).
Die Kalevala erzählt hier eindrucksvoll, wie der Wasserkörper zu einem Luftkörper umgewandelt wird, wie also die Kantele ins Boot geholt wird. Diese Kantele wird aus den edelsten und ästhetisch feinsten Fähigkeiten des Ätherkörpers gebaut. Insbesondere zeigt die aus der weinenden Birke gebaute Kantele, wie die feinsten Kräfte der Poesie und Liebe hier dienstbar gemacht werden. Der Kopf der Kantele befindet sich im Gehirn und ihre Saiten gehen durch das Herz. Alles, was im Menschen heilig und schön, groß und tief ist, das wird jetzt aufgesammelt und gleichsam zu einem Musikinstrument gebildet, mit dem alle ‒ Lebende und Tote ‒ getröstet, erfreut, glücklich gemacht werden.
Und wer kann ein solches Instrument spielen? Niemand anders als Väinämöinen. Weder der Mensch selbst noch das eingeweihte Selbst des Menschen, niemand anders als die herrliche Weisheit, deren Stimme im göttlichen Geist des Eingeweihten ertönt.
Hier hat auch die Kalevala den wunderbaren und merkwürdigen Umstand der mystisch-psychologischen Entwicklung des Eingeweihten beschrieben: wie er endlich für einen Augenblick das ersehnte Ideal erreicht, wie einmal sein lang ersehnter Wunsch, in seiner Person mit Gott vereint zu sein, in Erfüllung geht.
Beim Kantele Spielen fühlt er, dass er ein selbstbewusster Vermittler der Kraft und der Wirkung Gottes ‒ des Logos ‒ geworden ist. Die Kraft Gottes, das göttliche Leben und Bewusstsein, erfüllt das gesamte Universum. „In ihm leben, weben und sind wir.“ Ohne die Sonnenenergie unseres Logos gäbe es kein Leben auf der Erde; ohne sein sonnenerfülltes Bewusstsein gäbe es kein Bewusstsein im Kosmos. Wenn zwischen dem Herzen und dem Gehirn des Eingeweihten eine Kantele entsteht, wird er mit der Lebenskraft des Logos unmittelbar vereint; er wird gleichsam Gottes Sohn, der über die Reichtümer seines Vaters verfügen kann. Das ist sein Aufstieg auf den Berg der Erleuchtung, seine Krönung mit der Krone der Unsterblichkeit.
Wie schön haben die finnischen Weisen diese Stelle verstanden! Sie liebten es, in ihrem Schöpfer den Arbeiter, den Künstler, den Weisen zu sehen. Und wenn sie den menschlichen Weisen in seiner Ehre und Herrlichkeit zeigen wollten, setzten sie ihn „Auf den Freudefelsen, Auf den Stein des Sanges, Auf die silberreiche Höhe, Auf den goldbedeckten Hügel“ (41: 5‒8)  und gaben ihm eine Kantele in die Hand, aus dem das Glück spendende Leben des Schöpfers auf den Schwingen der Musik in die Herzen seiner Schöpfung drang.
Wenn der Wasserkörper zu einem Luftkörper verwandelt wird, wird der Eingeweihte mit dem „Heiligen Geist“ erfüllt. Sein Gesicht leuchtet und die Menschen fühlen sich hingerissen und möchten ihn anbeten. Dies ist natürlich kein dauerhafter Zustand. Es ist eine „Gabe aus dem Himmel“. Es geschieht, wenn der Logos es will und wenn er es für notwendig hält. „Der Wind weht, wo er will. Du hörst ihn zwar, aber du kannst nicht sagen, woher er kommt und wohin er geht. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“[3] Doch es ist wunderbar, ein Diener Gottes zu sein und seinen Willen zu erfüllen; es ist unvergesslich schön, ein Sprechrohr des Logos oder ein Finger Gottes auf Erden zu sein, selbst wenn es nur einmal im Leben geschehen würde. Wie die Tränen des Väinämöinen, so bleiben die Wirkungen für alle Zeiten „anders schon gestaltet“:

Helmiksi heristynehet,
Simpsukoiksi siintynehet,
Kuningatarten kunnioiksi,
Valtojen iki iloiksi.

Schimmern nun als schöne Perlen,
Schillern bläulich voller Klarheit,
Zu dem Schmucke manches Königs,
Zu der Mächt’gen ew’gen Freude. [41. Rune]

Und die Ehre wird keinem anderen erwiesen als demjenigen, der sich selbst überwunden hat, wie Ilmarinen-Väinämöinen, als er sich auf den Stein zum Singen setzte.
Die Menschen beeinflussen sich ständig gegenseitig, ob sie es wissen oder nicht, ob sie es wollen oder nicht. Ihr Einfluss ist manchmal gut, manchmal schlecht. Doch der Einfluss ist sterblich und vergänglich, bis zu dem Tag, wenn Gott durch die Menschen frei wirken kann, bis zu dem Tag, wenn der Tod seine Maske abgenommen und sein unsterbliches Gesicht gezeigt hat.


31. DER RAUB DES SAMPO


Bevor der Sampo, der Sonnenkörper, vollständig gebaut ist, muss noch der Luftkörper zu einem „Feuerkörper“ umgewandelt werden, also auch der physische Bewusstseinsträger des Menschen zum „Abbild Gottes“ gemacht werden, so dass der Eingeweihte die schwärzesten Kräfte der Hölle spürt und mit dem Propheten sagen kann: „Lege ich mich zu den Toten, da bist du auch.“
Im physischen Körper und dessen ätherischem Doppelgänger liegen nämlich die tiefsten Geheimnisse der Magie, d.h. des Wissens und der Macht, verborgen, und bevor der Wahrheitssuchende auch diese angeeignet hat, war er nach der Auffassung der altfinnischen Weisheit noch kein vollkommener Weiser. Weil einige dieser Kräfte für selbstsüchtige Zwecke nur mit unerbittlicher Selbstpeinigung, ohne wahre geistige Entwicklung, erweckt werden können, werden sie auch Kräfte der (schwarzen) Hexenkünste, der schwarzen Magie, genannt.
Das können wir verstehen, wenn wir bedenken, dass das ganze Wesen des Menschen ein Mikrokosmos, ein Miniaturbild des Sonnensystems ist, dessen Mitglied er ist, dass also sein physischer Körper mit dem großen Körper des Kosmos korrespondiert. Wir können sagen: Wie die Vernunft des Menschen ein Teil der Vernunft des Logos, deren Reflektion, deren Miniaturbild ist, so entspricht auch das Gehirn des Menschen als Organ dem Gehirn der Welt, weshalb die reine Vernunft Gottes es benutzen kann; und wie die Liebe des Menschen ein Teil der Liebe Gottes, deren Reflektion, deren Miniaturbild ist, so entspricht auch das Herz des Menschen als Organ dem Herzen der Welt, und deshalb kann auch Gottes grenzenloses Mitleid dadurch manifestiert werden. Doch im menschlichen Körper gibt es Organe, wie z.B. den Magen und die Geschlechtsorgane, die in gewisser Weise stärker sind als der Kopf und das Herz. Der Magen sagt: Ich brauche Nahrung, und der Kopf muss gehorchen. Die Geschlechtsorgane sagen: Wir wollen der Fortpflanzung dienen, und das Herz eilt zu Hilfe. Nur wer Hexenkünste lernen will, sagt sofort dem Kopf: Du darfst dem Magen nicht dienen; und dem Herzen: Du darfst den Geschlechtsorganen nicht dienen, denn ihr beide sollt nur mir, eurem Herren, dienen. Wer ein Weiser werden will, befriedigt die Bedürfnisse des Magens so, dass der Magen gern dem Kopf dient, und er stellt seine Geschlechtsorgane sofort in den Dienst des Herzens. Er macht sich jedoch nicht zum Herren seines Kopfes oder seines Herzens, sondern sucht nach der Wahrheit, in deren Dienst er seinen Kopf stellen könnte; er sucht die Liebe Gottes, in der sein Herz aufgehen könnte. Schließlich muss der Weise jedoch seinen Magen und seine Geschlechtsorgane prüfen und sie auf eine neue Weise besiegen, um sich so in Verbindung mit den entsprechenden kosmischen Kräften zu kommen. Und ähnlich verhält es sich mit den anderen physischen Organen und Korrespondenzen. Man sollte auch nicht denken, dass sie „niederer“ sind als der Kopf und das Herz; man sollte sie nicht gering schätzen oder für „tierisch“ abstempeln. In der Natur gibt es weder Höheres noch Niedereres, weder Besseres noch Schlechteres; in ihrem großen Haushalt ist alles gut, jedes Ding zweckentsprechend an seinem Platz. Und wenn wir sie in verschiedene Wertkategorien einteilen möchten, könnten wir, im Gegenteil, die „niederen“ Kräfte als die „höheren“ bezeichnen, weil sie tiefer sitzen und schwerer zu besiegen sind. Deshalb sagt man auch, dass die Kräfte der schwarzen Magie, der Hexenkünste, die letzten sind, die der Weise erwirbt.
In der Rune 42 beschreibt die Kalevala in dramatischer Weise den Bau des Feuerkörpers, die endgültige Aneignung des Sampo, die in der weißen Magie von innen her, von der unsichtbaren Welt aus, geschieht.
Nach der Fahrt durch das weite Meer kommt das Boot des Weisen nach Pohjola. Die Helden treten in die Stube und die Wirtin von Pohjola fragt, was die Männer im Sinn haben. Väinämöinen antwortet sofort ohne Umschweife:

„Sammosta sanomat miesten,
Kirjokannesta urosten;
Saimme sampuen jaolle,
Kirjokannen katselulle.“

„Männer reden von dem Sampo,
Sprechen von dem bunten Deckel;
Kamen zur Vertheilung Sampo’s,
Zu der Schau des bunten Deckels.“ [42. Rune]

„Der Sampo wird nicht verteilt“, sagt die Wirtin von Pohjola sofort:

„Ei pyyssä kahen jakoa,
Oravassa miehen kolmen.“

„Nicht vertheilet man ein Feldhuhn,
Unter drei niemals ein Eichhorn.” [42. Rune]

„Wenn du uns nicht die Hälfte gibst, nehmen wir den ganzen Sampo“, beschließt Väinämöinen. Die Wirtin von Pohjola wird ärgerlich und ruft die Männer des Hauses zum Kampf auf.
Doch Väinämöinen setzt sich zum Spielen und schläfert das Volk von Pohjola mit seinem Spiel ein. Die Helden machen sich auf den Weg, den Sampo

Pohjolan kivimäestä,
Vaaran vaskisen sisästä,
Yheksän lukon takoa,
Takasalvan kymmenennen.

Aus dem Steinberg von Pohjola,
Aus des Kupferberges Innerm,
Hinter neun der stärksten Schlösser,
Hinter zehn, zählt man den Riegel. [42. Rune]

zu rauben.
Väinämöinen singt vor sich hin, Ilmarinen schmiert die Schlösser und Angeln, bis die dicken Tore aufspringen.

„Oi sie lieto Lemmin poika,
Ylimmäinen ystäväni,
Mene sampo ottamahan,
Kirjokansi kiskomahan!“

„O du muntrer Lemminkäinen,
Du, der höchste meiner Freunde,
Geh den Sampo nun zu fassen,
Raffe fort den bunten Deckel!“ [42. Rune]

fordert Väinämöinen auf, und Lemminkäinen versucht, den Sampo aus der Erde herauszuziehen, doch seine Wurzeln liegen in der Tiefe von neun Klaftern und Lemminkäinen kann ihn nicht herausholen, bevor er mit einem kräftigen Stier von Pohjola „die Wurzeln des Sampo, die Fasern des bunten Deckels“ ausgegraben hat.
Wenn dann der Sampo ins Boot geholt ist, treten die Helden fröhlich und gut gelaunt den Heimweg an. Lemminkäinen möchte auch gern singen, doch Väinämöinen erklärt, dass es sich nicht ziemt zu singen, bevor die eigene Tür in Sicht ist. Es stehen noch Gefahren bevor.
Wenn wir sagen würden, dass auf der Hochzeit von Pohjola und insbesondere durch den Bau des Wasserkörpers das Herz des Menschen an Gott gegeben wurde, so könnten wir sagen, dass der Bau des Luftkörpers den Kopf des Menschen an Gott gibt. Damit der Mensch vollkommen ein „Tempel des Heiligen Geistes“ sein könnte, müssen also noch die anderen Organe des Körpers für Gott erobert werden. Das ist keine leichte Aufgabe, wie man es auch aus der Erzählung der Kalevala ersehen kann. Sampo, der Sonnenkörper, liegt im physischen Körper verborgen, in der Tiefe von neun Klaftern und hinter neun oder zehn Schlössern. Tatsächlich sind bereits mindestens zwei Wurzeln des Sampo herausgegraben worden: die des Herzens und des Schädelgewölbe, selbst wenn die Rune dies aus ästhetischen Gründen nicht erwähnt hat; doch die Wurzeln des Kreuzbeins, des Nabels, der Milz usw. müssen noch herausgeholt werden. Das sind ätherische Kraftzentren, denen im physischen Körper die Ganglien, die Nervenzellknoten des sympathischen Nervensystems, entsprechen. Neun oder zehn Tore wiederum sind die neun (zehn) „Öffnungen“ im Körper (in indischen Schriften wird der menschliche Körper die „Stadt der neun Tore“ genannt): Ohren, Augen, Nasenlöcher, Mund, Rektum und Geschlechtsorgan (beim anderen Geschlecht zwei).
Das Einschläfern des Volkes von Pohjola mit dem Spiel des Väinämöinen und das Öffnen der neun Tore mit seinem Gesang mit Ilmarinens Hilfe bedeutet die Erlangung der Herrschaft über die physischen Sinne. Der Körper hat sein eigenes Bewusstsein und der Wahrheitssuchende erreicht keine Herrschaft darüber, wenn er ihn nicht als ein Lebewesen behandelt. Doch es ist wunderbar, die Herrschaft über seine Sinne so zu erreichen, so dass man sie nach eigenem Willen öffnen und schließen kann: Man sieht nicht, wenn man nicht sehen will, man hört nicht, wenn man nicht hören will usw. Denn wenn man Gott sehen lässt, muss man die eigene Sicht auslöschen; wenn man seine Ohren dem Schöpfer leiht, muss man die eigenen Ohren verstummen lassen.
Die Aufgabe des Lemminkäinen, den Sampo aus dem Steinberg ans Tageslicht zu holen, bedeutet, dass diesmal alle Kraftzentren und Nervenzellknoten durch die Liebe belebt werden sollen. Das geschieht mit Hilfe des sog. „Schlangenfeuers“, und die Kalevala nennt dieses Feuer den „guten Stier in Pohjola“ und betont mit dieser Bezeichnung die mächtige Kraft, die im Schlangenfeuer steckt; denn, wenn im Menschen das physische Schlangenfeuer erwacht, wird er zuerst von einem solchen Kraftgefühl überwältigt, dass er die Worte Jesu „ich habe die Welt besiegt“ buchstäblich versteht, und genauso buchstäblich den Satz des römischen Dichters: Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinæ[4] – so unbesiegbar, so furchtlos, so stark fühlt er sich. Bald lernt er natürlich zu unterscheiden, was in diesem Gefühl Illusion ist.[5]
Nur die Liebe (Lemminkäinen) ist berechtigt, diese Kraft zu einer den ganzen Körper durchdringenden Kraft zu erwecken; sonst zieht sie den Menschen unweigerlich zur schwarzen Magie, d.h. zur Benutzung der übernatürlichen Fähigkeit für selbstsüchtige Zwecke.
Und wenn, gleich nachdem der Sampo herausgeholt worden ist, Väinämöinen bittet, ihn nach Hause zu bringen,

„Nenähän utuisen niemen,
Päähän saaren terhenisen,
Siellä onnen ollaksensa,
Ainian asuaksensa…“

”Zu der nebelreichen Spitze,
Zu dem waldungsreichen Eiland,
Wo er voller Ruhe weilen,
Wo er immer bleiben könnte…” [42. Rune]

will man damit sagen, dass der Sampo, der vollständig gebaute Sonnenkörper, nicht dem physischen Wachbewusstsein gehört, sondern im Gegenteil, dass der Sampo sich in der unsichtbaren Welt, im Innenbewusstsein, befindet, obwohl er aus dem geheimen Versteck des physischen Körpers herausgeholt, mit Hilfe und aus Bestandteilen des physischen Körpers in allen verschiedenen Daseinsformen den ganzen Weg lang erschaffen und gebaut worden ist. Das physische Bewusstsein ist sein ergebener Diener.
Die große Arbeit ist erledigt, und wer würde sich mehr darüber freuen als der Mensch, der sie durchgeführt hat?

Siitä vanha Väinämöinen
Läksi poies Pohjolasta,
Läksi mielellä hyvällä,
Iloten omille maille.
  
Zog der alte Wäinämöinen
Fort nun von des Nordlands Gränzen,
Ziehet fort mit froher Laune,
Freudig nach dem Heimathlande; [42. Rune]

 

32. DIE LETZEN ZWEIFEL


Die Vorahnung des Väinämöinen erwies sich als richtig: Lemminkäinen hätte nicht singen sollen, bevor „Die eigne Thür man siehet, Wenn die eignen Thüren knarren“ (42: 267‒268), denn die schlimmsten Gefahren und die größten Qualen standen den Sampofahrern noch bevor. Bis dahin war alles gut gegangen. Die Reise nach Pohjola war erfolgreich beendet und während die Wirtin und das Volk von Pohjola in einen hypnotischen Schlaf eingeschläfert worden waren, war der Sampo aus dem Steinberg geraubt worden. Doch jetzt erwachte Pohjola aus dem Schlaf und Louhi, die Wirtin von Pohjola, bereitete sich vor, den Sampo wiederzuerobern, denn als sie bemerkte, dass der Sampo weg war,

Louhi Pohjolan emäntä
Tuo tuosta pahoin pahastui,
Katsoi valtansa vajuvan,
Alenevan arvionsa.

Louhi, sie, des Nordlands Wirthin,
Wurde nun gewaltig böse,
Merkte, daß die Macht ihr schwindet,
Daß ihr Ansehn niedersinket. [42. Rune]

In der Natur herrscht nämlich die allgemeine Regel, dass der Mensch, wenn er sich die Herrschaft über eine Naturkraft verschafft, zu seinen Gegnern und Feinden diejenigen bekommt, die über jene Kraft gewacht haben. Wenn der Mensch bei der Erschaffung des Sonnenkörpers endlich den Sampo aus dem Versteck seines physischen Körpers raubt, genügt es nicht, dass er seinen eigenen physischen Körper besiegt hat. Die bestimmten, den Organen seines Körpers entsprechenden Zustände im Kosmos und diese Kräfte, die Bewohner dieser Zustände, stellen sich jetzt gegen ihn, den Wagemutigen. Und weil es hier um die Kräfte handelt, die für die Selbstsucht stehen, sagt man, dass nun alle „Kräfte der Finsternis“ den Menschen zum letzten, hoffnungslosen Kampf herausfordern. Auch die Kalevala hat ja einen klaren Unterschied zwischen Kalevala und Pohjola gemacht. Kalevala will den Sampo haben, damit er den Menschen Nutzen und Glück bringe, die „geheime Truppe“ des finsteren Pohjola hingegen möchte ihn im Steinberg versteckt aufbewahren, damit keiner etwas davon wüsste. Louhi, die Vertreterin der finsteren Kräfte, bereitet sich deshalb vor, die Sampofahrer zu verfolgen. Sie zaubert zuerst Nebel, Iku-Turso und Unwetter hervor, um den Sampofahrern die Fahrt auf dem Meer zu erschweren.
Diese drei Erschwernisse sind: der Nebel des Zweifels und der Verzweiflung, Iku-Turso, der „alte Drache“ der Selbstsucht und Begierde und das Unwetter der unüberlegten Taten und deren Wirkungen. Es sind keine persönlichen Schwächen, sondern kollektive Kräfte in der Menschheit, die den Eingeweihten überfallen.

Ututyttö, neiti terhen,
U’un huokuvi merelle,
Sumun ilmahan sukesi,
Piti vanhan Väinämöisen
Kokonaista kolme yötä
Sisässä meren sinisen
Pääsemättänsä perille,
Kulkematta kunnekana.

Hauchte nun die Nebeljungfrau
Einen Nebel auf die Fluthen,
Sandte Dünste in die Lüfte,
Hielt den alten Wäinämöinen
Drei der Nächte nach einander
In des blauen Meeres Innerm,
Daß er nirgendhin entkommen,
Nirgendhin entrinnen konnte. [42. Rune]

Was den Segler umgibt und seine Seele einhüllt, ist der große Zweifel, die Verzweiflung und die Trägheit der Menschheit. „Was redest du da für Unsinn? Bist du etwa besser als wir? Eben strotztest du vor Kraft, hattest die Welt besiegt, warst den Göttern ebenbürtig, und jetzt bist du unendlich müde! Wo ist die Kraft, die du in deinen Gliedern spürtest, wo ist der Gott, dem du vertrautest? Täuschung war das, verflüchtigend und vergänglich, wie alles unter der Sonne! Du bist allein gelassen, wie auch wir alle. Leere und Finsternis lacht dich ‒ wie auch uns ‒ aus. Glaubst du, dass jemand sich zu Gott gemacht hat? Es ist alles Täuschung und Lüge. Kein Mensch hat gesiegt, denn die Finsternis ist immer stärker als das Licht.“ Die Menschenseele befindet sich in der Nacht der Bedrängnis und wäre verloren, wenn er sich nicht an das Schwert des Geistes an seinem Gurt erinnern würde; wenn er nicht aus den Tiefen seines lahm gelegten menschlichen Bewusstseins die Erinnerung an die Wahrheit hervorrufen würde, für die er gelebt und gekämpft hat:

Yön kolmen levättyänsä
Sisässä meren sinisen,
Virkki vanha Väinämöinen,
Itse lausui, noin nimesi:
„Ei ole mies pahempikana,
Uros untelompikana
U’ulla upottaminen,
Terhenellä voittaminen.“
Veti vettä kalvallansa,
Merta miekalla sivalti,
Sima siukui kalvan tiestä,
Mesi miekan roiskehesta,
Nousi talma taivahalle,
Utu ilmoillen yleni,
Selvisi meri sumusta,
Meren aalto auteresta,
Meri suureksi sukeutui,
Maailma isoksi täytyi.

Als er drei der Nächt’ im Meere,
In den Fluthen so geruhet,
Sprach der alte Wäinämöinen,
Redet selber diese Worte:
„Selbst ein schlechterer der Männer,
Selbst ein schwächerer der Helden
Wird im Nebel nicht versinken,
Nicht in Dünsten untergehen.“
Fuhr durchs Wasser mit der Klinge,
Schlug das Meer mit seinem Schwerte,
Honig fließet von der Klinge,
Süßer Seim von seinem Schwerte,
Stieg der Dunst empor zum Himmel,
Hob der Nebel sich nach oben,
Rein vom Dampfe ward das Wasser,
Von dem Dunste bald die Fluthen,
Weiter dehnt sich aus das Wasser,
Größer muß die Welt nun scheinen. [42. Rune]

Ist die erste Gefahr nun vorbei, erscheint eine andere:

Oli aikoa vähäinen,
Pirahteli pikkarainen,
Jo kuului kova kohina
Viereltä veno punaisen,
Nousi kuohu korkeaksi
Vasten purtta Väinämöisen.

Wenig Zeit war hingegangen,
Kaum ein Augenblick verflossen,
Ist ein gar gewaltig Brausen
An des Bootes Rand zu hören,
Dort hebt Schaum sich in die Höhe
Zu dem Boote Wäinämöinen’s. [42. Rune]

Ilmarinen erschrak so sehr, dass „das Blut ihm aus den Wangen floß“, und Väinämöinen, als er den Blick auf die Seite warf, erblickte dort ein Wunder:

Iku Turso Äijön poika
Vieressä veno punaisen
Nosti päätänsä merestä,
Lakkoansa lainehesta.

Iku-Turso, Sohn des Alten,
Hebt zur Seit’ des rothen Bootes
Seinen Kopf jetzt aus dem Meere,
Seinen Scheitel aus den Fluthen. [42. Rune]

Es handelt sich hier um die uralte Selbstsucht und Tierheit der Menschheit, die in der Gestalt des alten Drachen seinen Kopf aus der Tiefe des kosmischen Bewusstseins hervorhebt. „Was glaubst du mit deiner Selbstlosigkeit erreichen zu können? Wie willst du damit der Welt nützen? Kennst du mich nicht? Weißt du nicht, dass ich die Menschen in der Hand habe? Mir dienen alle, ich bin der Gott der Menschen. Was erreichst du mit deinen Kenntnissen? Glaubst du, dass sich jemand für sie interessiert? Und du willst die Erkenntnis der Wahrheit besitzen! Du erkennst mich ja gar nicht? Ich bin die Wahrheit, nach der die Menschen suchen. Ich schenke ihnen das Glück und die einzige Glückseligkeit, nach denen sie sich sehnen: die Befriedigung ihrer Begierden. Diene auch du mir und lass die Schwärmerei über die Erhebung der Menschheit!“
Der Mensch erschrickt, wie Ilmarinen, über den Anblick des Mammonmonsters, vor dem sich die Menschheit kniet, zweifelt aber nicht mehr:

Vaka vanha Väinämöinen
Saipa korvat kourihinsa,
Korvista kohottelevi,
Kysytteli lausutteli,
Sanan virkkoi, noin nimesi:
„Iku Turso Äijön poika!
Miksi sie merestä nousit,
Kuksi aallosta ylenit
Etehen imehnisille,
Saanikka Kalevan poian?“

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Packt die Ohren mit den Fäusten,
Hebt ihn auf an seinen Ohren,
Fragte ihn und redet’ kräftig,
Redet’ Worte solcher Weise:
„Iku-Turso, Sohn des Alten!
Weshalb stiegst du aus dem Meere,
Weshalb kamst du aus der Tiefe
Vor das Aug’ der Menschenkinder
Und zumal der Kalewsöhne?“ [42. Rune]

Mit scharfen Worten fragt er den Mammonmonster, wie er sich erfrecht hat, sich vor einem Gottessohn zu erscheinen, und von Angst überwältigt bekennt Iku-Turso: „Hatt’ in meinem Sinn die Absicht, Kalew’s Stamm hier zu vertilgen, Sampo nach dem Nord zu bringen“, und verspricht zugleich, dass er nicht mehr daran denkt, wenn er lebend in die Meerestiefe zurückkehren kann. Was hätte man mit ihm sonst machen können? Die Selbstsucht zittert vor der Gerechtigkeit und ihr wortloses Beten lautet: Verschone mich, lass mich noch leben, ich lasse dich in Ruhe! Und die Gerechtigkeit verschont die Selbstsucht, denn die Uneigennützigkeit eines einzigen Menschen lässt das Böse nicht aus der Welt verschwinden. Väinämöinen schmeißt Iku-Turso zurück ins Meer und verbietet ihm, noch einmal aus den Wogen zu steigen.

Senpä päivyen perästä
Ei Turso merestä nouse
Etehen imehnisille,
Kuni kuuta, aurinkoa,
Kuni päiveä hyveä,
Ilman ihailtavata.

Niemals ist seit diesem Tage
Turso aus dem Meer gestiegen
Vor der Menschenkinder Augen,
So lang’ Mond und so lang’ Sonne,
So lang’ als das Licht des Tages,
Als die Lüfte Freude leihen. [42. Rune]

Die zweite Bedrängnis ist vorbei, und jetzt kommt die dritte. Nach einiger Zeit lässt Ukko, der Gott im Himmel, ein Unwetter heraufkommen, wie es Ilmarinen noch nie gesehen hatte:

Nousi tuulet tuulemahan,
Säät rajut rajuamahan;
Kovin läikkyi länsituuli,
Luoetuuli tuikutteli,
Enemmän etelä tuuli,
Itä inkui ilkeästi,
Kauheasti kaakko karjui,
Pohjoinen kovin porasi.
Tuuli puut lehettömiksi,
Havupuut havuttomiksi,
Kanervat kukattomiksi,
Heinät helpehettömiksi;
Nosti mustia muria
Päälle selvien vesien.

Winde fingen an zu blasen,
Heft’ge Stürme an zu toben;
Gräßlich blies der Wind aus Westen,
Heftig schnitt der Wind aus Südwest,
Kräft’ger kam der Wind aus Osten,
Scheußlich heulte er aus Südost,
Gräulich schrie der Wind aus Nordost,
Heftig brüllt’ der Wind von Norden.
Blies die Blätter von den Bäumen,
Blies vom Nadelholz die Nadeln,
Blies die Blumen von der Heide,
Blies die Fäserchen vom Grase;
Trieb den schwarzen Sand des Grundes
Auf des klaren Wassers Fläche. [42. Rune]

Hier handelt es sich um die Unselbständigkeit und die gedankenlose Hast, die die Menschen, ohne einen einzigen zu verschonen, in ihren Strudel ziehen. „Siehst du, der du ein Weiser genannt werden möchtest, nicht, welch eine blinde Naturkraft hinter dem menschlichen Leben steht? Siehst du nicht, dass der Mensch wie ein Espenblatt im Sturm der Entwicklung und des Schicksals flattert? Welche neuen Pfade willst du gehen, was willst du den Menschen lehren? Willst du etwa die Menschen selbständig machen, willst du etwa die Menschen befreien! Menschen, die um Hilfe rufen, sobald ich meine Hand los lasse, wobei sie für eine Weile die Stille atmen und nachdenken können! Die Menschen kennen mich nicht: Sie nennen meine Stille Sturm und haben Angst vor ihr, mein Wüten aber fasziniert sie. Je weniger sie selbst nachdenken und sich anstrengen müssen, desto glücklicher sind sie. Sie lieben es, mit dem Wind zu gehen. Was willst du mit deiner Selbständigkeit bei ihnen erreichen? Du erweckst nur ihren Zorn und wirst von ihnen verfolgt!“
Ilmarinen verliert für eine Weile die Beherrschung, doch Väinämöinen tadelt ihn: „Nimmer hilft aus Unglück Weinen, Jammern nie aus bösen Tagen.“ Zusammen mit Lemminkäinen stillt Väinämöinen dann mit seinen Worten die Winde und Wellen und repariert das Boot, um es besser gegen die Wellen zu schützen.
Der Eingeweihte überwindet auch diese letzte Bedrängnis so, dass er sich um das, was er hört und sieht, nicht kümmert. „Sei die Hand des Schicksals noch so hart, sei der Wirbelwind der Entwicklung noch so heftig, die Aufgabe des Menschen ist es, Herr seines Schicksals zu werden und die Zügel seiner Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen, denn nur so kann er Sohn des Gottes werden, dem auch das Schicksal dient und für den die Entwicklung da ist.“


33. DER LETZTE KAMPF


Der letzte Kampf gegen die dunklen Kräfte Pohjolas, gegen die Engel des Bösen und der Finsternis, findet in der unsichtbaren Welt statt, selbst wenn ein Schatten des „himmlischen Kampfes“ sich auf das irdische Leben reflektieren und hier Hass, Verfolgung, Schmähung und Unterdrückung seitens der Welt hervorrufen würde.
Der Kampf beginnt mit der großen Qual in Gethsemane. Der Mensch ahnt, was kommen wird, und kämpft in seiner Seele; er ist erschüttert über das letzte Opfer. „Vater, erspare es mir, diesen bitteren Kelch zu trinken!“ betet er und Blutschweiß fließt über sein Gesicht. Doch bald darauf sagt er: „Doch nicht mein Wille soll geschehen, sondern der deine.“
Die Kalevala schildert diese Qual so dramatisch wirkungsvoll und zugleich so schlicht, dass wir deshalb die gesamte Beschreibung hier wiederholen möchten (43. Rune, Strophen 23‒101).

Vaka vanha Väinämöinen
Laskevi sinistä merta,
Itse tuon sanoiksi virkki,
Puhui purtensa perästä:
„Oi sie lieto Lemmin poika,
Ylimmäinen ystäväni,
Nouse purjepuun nenähän,
Vaatevarpahan ravaha,
Katsaise etinen ilma,
Tarkkoa takainen taivas,
Onko selvät ilman rannat,
Onko selvät vai sekavat!“

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Steuerte im blauen Meere,
Redet’ selber diese Worte,
Sprach am Steuer seines Bootes:
„O du muntrer Sohn von Lempi,
Du, der höchste meiner Freunde,
Steige an des Mastbaums Spitze,
Klettre auf die Segelstange,
Blicke vor dir in die Lüfte,
Spähe hinterwärts am Himmel,
Ob der Lüfte Ränder klar sind,
Ob sie klar sind oder trübe!“ [43. Rune]

Lemminkäinen steigt an die Spitze des Mastbaums und schaut auf den Himmel. „Klar erscheinen vorn die Lüfte“, meldet er, nur „eine kleine Wolk’ im Norden.“

Sanoi vanha Väinämöinen:
„Jo vainen valehtelitki;
Ei se pilvi ollekana,
Pilven lonka lienekänä,
Se on pursi purjehinen;
Katso toiste tarkemmasti!“

Sprach der alte Wäinämöinen:
„Redest wahrlich nicht die Wahrheit;
Ist wohl schwerlich ein Gewölke,
Schwerlich eine Hängewolke,
Ist ein Boot mit seinen Segeln;
Schaue nochmals scharfen Blickes!“ [43. Rune]

Lemminkäinen schaut noch einmal und meldet: „Scheint von Ferne her ein Eiland, Espen angefüllt mit Falken, Birken voll von Auerhähnen.“

Sanoi vanha Väinämöinen:
„Jo vainen valehtelitki;
Havukoita ei ne olle,
Eikä kirjokoppeloita,
Ne on Pohjan poikasia;
Katso tarkoin kolmannesti!“

Sprach der alte Wäinämöinen:
„Redest wahrlich nicht die Wahrheit,
Sind daselbst ja keine Falken,
Auch nicht Auerhähne dorten,
Sind die Knaben von Pohjola,
Schaue scharf zum dritten Male!“ [43. Rune]

Und wenn Lemminkäinen zum dritten Mal schaut, bemerkt er seinen Irrtum und sagt: „Kommt ein Boot daher von Norden, hundert Männer sind am Ruder, tausend sitzen in dem Boote.“

Silloin vanha Väinämöinen
Jo tunsi toet totiset.

Wußt’ der alte Wäinämöinen
Endlich nun die ganze Wahrheit. [43. Rune]

Und ohne zu zögern befiehlt er den Ruderern, ihr Bestes zu geben, damit das Boot von Pohjola sie nicht einholen könnte.

Souti seppo Ilmarinen,
Souti lieto Lemminkäinen,
Souti kansa kaikenlainen;
Lyllyivät melat lyhyiset,
Hangat piukki pihlajaiset,
Vene honkainen vapisi;
Nenä hyrski hylkehenä,
Perä koskena kohisi,
Vesi kiehui kelloloissa,
Vaahti palloissa pakeni.

Ruderte Schmied Ilmarinen,
Munter rudert Lemminkäinen,
Mit ihm rudern alle Leute;
Knarren that das Fichtensteuer,
Zischen auch die Ruderhaken,
Beben mußt der Tannennachen;
Wie ein Seehund lärmt die Spitze,
Wie ein Wasserfall das Ende,
Voller Wallung ist das Wasser
Und der Schaum enteilt in Ballen. [43. Rune]

Das Segelboot von Pohjola ist jedoch schneller als das Ruderboot von Kalevala, und der alte Väinämöinen sieht

Jo tunsi tuhon tulevan,
Hätäpäivän päälle saavan.

Jetzo schon das Unglück kommen,
Unheil seinem Haupte drohen. [43. Rune]

Väinämöinen ahnt, dass der Kampf gegen das Volk von Pohjola auch für sein Volk verheerend sein wird, doch bevor er den Mut verliert, probiert er noch sein letztes Machtmittel. Er greift zur Magie und zaubert einen großen Felsen ins Meer, um das Boot von Pohjola darauf auffahren zu lassen. So geschieht es auch:

Tulla puikki Pohjan pursi,
Halki aallon hakkoavi,
Jopa joutuvi karille,
Puuttui luottohon lujasti;
Lenti poikki puinen pursi,
Satakaari katkieli,
Mastot maiskahti merehen
Purjehet putoelivat
Noiksi tuulen vietäviksi,
Ahavan ajeltaviksi.

Eilt herbei des Nordens Fahrzeug,
Kommt gerudert durch die Fluthen,
Fährt gerade auf die Klippe,
Haftete am Fels im Meere,
Mitten brach das Boot von Planken,
Ging entzwei mit hundert Rippen,
In das Wasser stürzt der Mastbaum,
Nieder sinken alle Segel,
Daß der Wind sie so entführte,
Fort die scharfe Luft sie raffte. [43. Rune]

Louhi, die Wirtin von Pohjola, eilt zu Fuß, das Boot aus dem Wasser zu heben, doch wenn sie bemerkt, dass es zersplittert und zerstört ist, überlegt sie eine Weile und verwandelt sich zu einem riesigen Adler: „Streift die Wolken mit dem Flügel, Schlägt das Wasser mit dem andern.“ Ihr bewaffnetes Volk nimmt sie auf ihren Schweif und unter die Flügel und fängt an, das Kalevala-Volk zu belästigen.

Jo tulevi Pohjan eukko,
Lintu kumma liitelevi,
Harteista kuin havukka,
Vaakalintu vartalolta.
Yllättävi Väinämöisen,
Lenti purjepuun nenähän,
Vaatevarpahan rapasi,
Päähän pielen seisotaikse;
Oli pursi päin puota,
Laiva laioin kallistua.

Schon erscheint des Nordlands Alte,
Kommt der sonderbare Vogel,
An der Schulter wie ein Habicht,
Wie ein Adler an dem Körper.
Schon erreicht er Wäinämöinen,
Flieget zu des Mastbaums Spitze,
Klettert auf die Segelstange,
Setzt sich auf des Mastes Ende;
Nah dem Stürzen war der Nachen,
Auf die Seite neigt das Schiff sich. [43. Rune]

Ilmarinen betet zu Gott um Hilfe im bevorstehenden Kampf, doch Väinämöinen fragt die Wirtin von Pohjola halb spottend, ob die Wirtin von Pohjola nun gekommen sei, um den Sampo zu teilen. „Werde nicht den Sampo theilen, Nicht mit dir, du Unglücksel’ger“, schreit Louhi als Antwort und greift nach dem Sampo, der im Boot liegt.
Es beginnt ein bitterer Kampf. Lemminkäinen zieht sein Schwert aus dem Gurte, schlägt zu und schreit:

„Maahan miehet, maahan miekat,
Maahan untelot urohot,
Sa’at miehet siiven alta,
Kymmenet kynän nenästä!“

„Nieder Männer, nieder Schwerter,
Nieder mit den schwachen Helden,
Hundert Männer in den Flügeln,
Zehn auf jeder Kralle Spitze. [43. Rune]

Väinämöinen sieht, dass das Ende nahe ist:

Vaka vanha Väinämöinen,
Tietäjä iän ikuinen
Arvasi ajan olevan,
Tunsi hetken tulleheksi.

Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Glaubte, daß die Zeit gekommen,
Daß die Stunde sei erschienen. [43. Rune]

Er zieht das Steuer aus dem Meer und haut damit dem Adler die Krallen ab, eine nach dem anderen, so dass nur die kleinste übrig bleibt.

Pojat siiviltä putosi,
Melskahti merehen miehet,
Sata miestä siiven alta,
Tuhat purstolta urosta;
Itse kokko kopsahtihe,
Kapsahutti kaaripuille,
Kuni puusta koppeloinen,
Kuusen oksalta orava.

Von den Flügeln fielen Knaben,
Männer stürzten in die Fluthen,
Hundert Männer von den Flügeln,
Tausend Helden von dem Schweife;
Selber rauscht der Adler hastig,
Fällt er auf des Bootes Rippen,
Wie vom Baum die Auerhenne,
Von dem Fichtenzweig das Eichhorn. [43. Rune]

Aber, oh weh! Mit dem „Finger ohne Namen“ greift Louhi nach dem Sampo und

Sammon vuoalti vetehen,
Kaatoi kaiken kirjokannen
Punapurren laitimelta
Koskelle meren sinisen;
Siinä sai muruiksi sampo,
Kirjokansi kappaleiksi.

Zieht den Sampo in das Wasser,
Läßt den bunten Deckel sinken
Von des rothen Bootes Kanten
In des blauen Meeres Tiefe;
Dort zerbricht entzwei der Sampo,
Geht in Stücke ganz der Deckel. [43. Rune]

Das Volk von Pohjola war nun besiegt, aber zugleich auch der Sampo zerstört worden!
Wie soll man das nun sinnbildlich verstehen? Weshalb wurde der Sampo erneut verloren?
Den Kampf gegen das Volk von Pohjola müssen wir nicht sinnbildlich erklären, weil es sich dabei um eine farbenfrohe und lebendige Schilderung eines wirklichen Kampfes in der unsichtbaren Welt handelt; was darin physischer Realismus ist, das hat im Jenseits seine wahren seelischen Entsprechungen. Doch es bleibt die Frage, warum der Sampo, der Sonnenkörper, für dessen Erreichung und Erschaffung so viel Arbeit geleistet wurde, so viele Gefahren und Schwierigkeiten überwunden waren, noch einmal verloren wird, warum er in Stücke zerbricht. Wir bedauern das Schicksal der Helden von Kalevala, wenn wir daran denken, dass Ilmarinen ursprünglich den Sampo geschmiedet hat, und fragen: War der scheinbare Sieg eigentlich nicht ein großer Verlust?
Hier zeigt die Kalevala jedoch wieder – mit dem mystisch-psychologischen Schlüssel geöffnet – welch eine tiefe Lebenserfahrung und Weisheit in ihren Runen verborgen liegt. Denn hätte sie den Sampo in heilem Zustand dem Volk von Kalevala überlassen, wäre dann nicht Pohjola ohne alles geblieben? In diesem Fall hätte die Kalevala den Dualismus betont, den ewigen Unterschied zwischen Gut und Böse, den es in der göttlichen Weisheit nicht gibt. Kalevala hätte – natürlich – das Gute vertreten, aber das Schicksal hätte Pohjola sozusagen zur hoffnungslosen Finsternis und Verdammnis verurteilt, und die Helden von Kalevala ‒ oder zumindest wir ‒ hätten denken können, dass das Gute und Rechte seine Belohnung und das Böse die verdiente Strafe bekommen hätten.
Wenn die Kalevala hingegen den Sampo in Stücke zerbrechen lässt, gibt sie uns damit ihre höchste sittliche Lehre. Der Sampo ‒ der Glücksbringer, die Quelle der Weisheit ‒ ist nicht für den Einzelnen bestimmt. Mögen Ilmarinen oder Väinämöinen noch so gut sein, der Sampo konnte nicht allein in ihrem Besitz bleiben, solange sie gegen die Kräfte der Finsternis kämpften. Als sie gegen sie kämpften, trennten sie sie von sich selbst ab; als sie sich zu Helden Gottes machten, stießen sie gleichsam das Böse aus Gott hinaus. Doch ist das möglich? Kann überhaupt etwas von Gott und seinem Leben unbeteiligt bleiben? Kann es Bosheit geben, die Gott mit seiner Liebe nicht besiegen würde; kann es so schwarze Unwissenheit geben, worauf das durchdringende Licht Gottes nie scheinen könnte?
Nein, antworten wir darauf, so etwas gibt es nicht. Es gibt keinen Teufel, den das grenzenlose Mitleid Gottes nicht eines Tages retten würde. Deshalb wäre es ein psychologischer und noch mehr ein okkultistischer Irrtum gewesen, den Sampo in heilem Zustand in den Händen des Volkes von Kalevala bleiben zu lassen. Der Sampo musste in Stücke zerbrechen, so dass alle einen Teil davon erhielten: Auch Louhi trug einen Teil davon, den Deckel, nach Pohjola. So wurde dem Kalevala-Einge­weih­ten die letzte große Lektion erteilt: die der vollkommenen Selbstaufopferung!
Nur wer sich ganz und endgültig opfern kann, kann ganz und endgültig zum Vertreter Gottes, des Logos, auf Erden taugen. So ging ja auch Christus seinen Weg auf Golgatha und starb am Kreuz für die Menschheit.
Mit tiefer menschlicher Wärme beschreibt die Kalevala die demütige und frohe Dankbarkeit des Väinämöinen, als er sah, wie die Sampo-Stücke von Wind und Fluten an Land getrieben wurden:

Vaka vanha Väinämöinen
Näki tyrskyn työntelevän,
Hyrskyn maalle hylkeävän,
Aallon rannalle ajavan
Noita sampuen muruja,
Kirjokannen kappaleita.
Hän tuosta toki ihastui,
Sanan virkkoi, noin nimesi:
„Tuost’ on siemen sikiö,
Alku onnen ainiaisen,
Tuosta kyntö, tuosta kylvö,
Tuosta kasvu kaikenlainen,
Tuosta kuu kumottamahan,
Onnen päivä paistamahan
Suomen suurille tiloille,
Suomen maille mairehille!“

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Siehet dort der Brandung Stoßen,
Sieht das Treiben zu dem Ufer,
Sieht wie zu dem Strand die Fluthen
Diese Sampotrümmer führen
Und des bunten Deckels Splitter.
Hatte darob große Freude
Redet Worte solcher Weise:
„Daher kommt des Samens Sprießen,
Wechselloser Wohlfahrt Anfang,
Daraus Pflügen, daraus Säen,
Daraus Wachsthum jeder Weise,
Daraus kommt der Glanz des Mondes,
Kommt der Sonne Licht voll Wonne
Auf den weiten Fluren Finnlands,
In Suomi’s Heimathsstrecken.“ [43. Rune]

Und das Gebet des Väinämöinen für sein Volk, nachdem er selbst alles verloren hat, zeigt, wie vollkommen er sich selbst vergessen hat:

„Anna luoja, suo Jumala,
Anna onni ollaksemme,
Hyvin ain’ eleäksemme,
Kunnialla kuollaksemme
Suloisessa Suomen maassa,
Kaunihissa Karjalassa!“

„Gieb, o Gott, gewähr’, o Schöpfer,
Daß des Glückes wir genießen,
Glücklich durch das Leben gehen,
Ehrenvoll es auch beschließen
In dem lieben Finnenlande,
In der Heimath der Karelen!“ [43. Rune]

So endet die Erzählung über den Sampo und somit auch die Darstellung der Kalevala über das große Einweihungsdrama. Das weitere Leben der Helden wird allerdings noch aufgegriffen, und es wird erzählt, wie die Wirtin von Pohjola, die ihre Macht verloren hat und im Wert gesunken ist, nach Rache trachtet und dem Volk von Kalevala allerlei Schwierigkeiten bereitet (Runen 45 und 46), um erst in der Rune 49 endlich besiegt zu werden. Doch der Kampf um den Sampo ist beendet und der Sampo erscheint nicht mehr in heilem Zustand.
Jetzt fragen wir mit Recht: Kann denn der Eigeweihte seinen Sonnenkörper nicht behalten? Wie soll man dann sein Verhältnis zu seinem eigenen, ewigen Zauberkörper verstehen? Ist der Sampo für immer verloren? Wie steht es dann mit der Unsterblichkeit des Eingeweihten? Liegt hier vielleicht nicht dennoch ein noch größeres Mysterium verborgen?
Und wir antworten: Doch. Hinter dem Verlust des Sampo liegt sein erneutes Wiederfinden verborgen. So ist das Gesetz des Lebens. Alles, was geistig verloren wird, wird wiedergewonnen. „Wer seinen Geist verliert, der bekommt ein ewiges Leben.“
Der Sampo-Körper wird eines Tages wieder dem Eingeweihten gehören. Darauf weist die Kalevala in den folgenden Worten von Väinämöinen deutlich hin:

„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä, toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen Sammon saattajaksi,“

„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe, [50. Rune]

Und wenn wir fragen, wann das im Leben des Eingeweihten geschehen wird, finden wir die Antwort gerade in dem oben geschilderten Kampf um den Sampo. Natürlich dann, antwortet die geistige Sicht der Kalevala, wenn der Eingeweihte nicht mehr kämpft, wenn er sich nicht mehr vom Bösen trennt und sich nicht an die Seite Gottes gegen den Teufel stellt, sondern sich selbst dem Bösen als Lösegeld gibt und sagt: „Ich kämpfe nicht mehr gegen die Kräfte der Finsternis, sondern liebe sie und fange sie in mir selbst ein. Möge alles Böse über mich und in mich herein kommen, damit ich es zum Guten verwandeln und als Gutes aus mir hinaussenden könnte. Möge aller Fluch über mich kommen, damit er sich in mir zum Segen verwandle!“
Diese Lehre verbirgt sich zugleich in der Erzählung als ein wunderbares Versprechen für die Zukunft und die Auferstehung.
Wir kennen ein anderes Einweihungsdrama, in dem diese Auferstehung als realistische Wirklichkeit dargestellt wurde. Das Neue Testament erzählt, wie Christus in seinem unsterblichen Sonnenkörper die Macht des Tuoni besiegt und aus den Toten aufersteht. Er ist ja demütig wie ein Opferlamm gestorben, ohne jeden Widerstand zu leisten; er verbietet sogar Petrus, der zum Schwert greift, ihn zu verteidigen. Doch was er in seiner größten menschlichen Qual am Kreuze verliert, das gewinnt er in der größten göttlichen Freude in seiner Auferstehung wieder. Und das, worauf die Kalevala als eine Vorahnung hinweist, erfüllt sich also in einer anderen heiligen Schrift als ein leuchtendes Wunderereignis.


IV

MAGIE IN DER KALEVALA

 

OKKULTISTISCH-HISTORISCHER SCHLÜSSEL



34. UNSERE ERKLÄRUNG DER MAGIE


Unter dem Wort Magie versteht man normalerweise Hexenkunst oder Zauberkunst, womit gewünschte Ziele des materiellen Lebens schneller und sicherer als mit natürlichen Mitteln erreicht werden können. Sie wird gut oder weiß genannt, wenn man damit nach Nutzen und Vorteile für sich selbst oder seine Freunde sucht, wenn man sie hingegen benutzt, um damit den anderen Schaden zuzufügen, wird sie böse oder schwarz genannt.
Allan Menzies[6] sagt in seinem im Jahr 1910 auf Finnisch erschienenen Buch History of Religion: „Jede primitive Religion enthält eine gewisse Menge Magie, sogenannte Zauberkünste, mit denen man glaubt, Ereignisse beeinflussen oder voraussagen zu können. Der Mensch der alten Zeit weiß nicht, dass die Ereignisse bestimmten Naturgesetzten oder der Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung unterworfen sind; deshalb glaubt er, den Gang der Natur in mancher Weise beeinflussen zu können. Er kopiert etwas, was er für die Ursache der Ereignisse hält, und glaubt, dadurch ähnliche Resultate erzielen zu können; oder er benutzt die Macht, die er glaubt, über die Geister zu besitzen, um diese dazu zu bewegen oder zu zwingen, seine Wünsche zu erfüllen; oder er manipuliert Gegenstände, in denen er irgendeine geheime Kraft vermutet, auf eine solche Weise, wie er das gewünschte Ziel zu erreichen glaubt. Der Aberglaube befasst sich also mit Animismus und Fetischismus, d.h. sowohl mit dem Geisterglauben als der Anbetung zufälliger Gegenstände. In einem Stamm gibt es gewöhnlich eine gewisse Person, die diese Dinge kennt und damit umzugehen versteht.“[7]
Man hat also beinahe den Eindruck, als würde sich Prof. Menzies bei der Magie und Mystik auf den Standpunkt des Zeitalters der Aufklärung stellen und sie als bloßen Aber- und Irrglauben abstempeln. Einen wissenschaftlich richtigeren und vorsichtigeren Standpunkt vertritt Prof. Heinrich Schurtz[8] in seinem umfangreichen, im Jahr 1915 auf Finnisch erschienenen Buch Kulttuurin alkuhistoria (Urgeschichte der Kultur)[9], in dem er sagt: „Der Forscher der heutigen Zeit steht vor sehr schwierigen Problemen. Genauere Kenntnis des Hypnotismus hat gezeigt, dass eine ausschließlich negative Einstellung und zerreißende „Skepsis“ nicht ausreichen, sondern ein Großteil davon, was bei den primitiven Völkern als Mystik erscheint, einen wissenschaftlich beweisbaren Grund und Boden hat. So hat zum Beispiel die bequeme Meinung, dass alle Schamanen und Medizinmänner geschickte Gaukler und Taschenspieler waren, einen Todesstoß erlitten.“[10] 
Die Finnen und Lappen waren nach der Meinung der Nachbarvölker immer mächtige Hexen und Zauberer, und sie haben natürlich einen guten Grund für ihre Meinung gehabt. So viele Zaubersprüche und Beschwörungsformeln hat sicherlich kein anderes christliches Volk aufbewahrt als unser Volk. C. A. Gottlund sagt in seiner Abhandlung „Vanhoin Suomalaisten viisaus ja opin keinot“ (Weisheit und Künste der Lehren der alten Finnen): „Sie (die finnischen Völker) sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass kein anderes Volk der Erde so berühmt für ihre Zauberei und Hexenkünste geworden ist als dieses finnische Volk. Durch diese Künste haben sie Lehren oder Erkenntnisse erworben, die ‒ zum Teil durch rohe und seltsame Bilder, zum Teil durch merkwürdige Ereignisse, die bisher keiner erforscht hat ‒ sehr gut sichtbar sind. Innerlich enthält diese Lehre nicht nur unsinnige Sachen, sondern auch viele große Erkenntnisse und Weisheiten. Dadurch erklärt sich, dass die Finnen, selbst wenn sie damals in einer Geistesverdunkelung lebten, trotzdem eine natürliche und vielleicht seltsame Weisheit besaßen, die ganz groß war, obwohl sie unnatürlich gemacht und auf eine merkwürdige Weise gezeigt wurde. Mit dieser Weisheit und diesem Unsinn flößten sie den anderen Völkern Angst ein und wurden für mächtiger und wissender als andere Menschen gehalten. Man sagte allerdings, dass sie im Bund mit dem Teufel standen und von diesem ihre Weisheit und ihre Macht bekamen. Die Menschen waren schon immer bereit, unerklärliche Dinge auf eine unnatürliche Weise zu erklären. Und wenn die Ausübung der Magie ein Zeichen mangelnder Aufklärung des finnischen Geistes wäre, so waren auch die nicht klüger, die daran glaubten und darauf vertrauten.“[11]
Bereits im Jahr 1782 erschien in Turku eine Dissertation von K. S. Lencqvist über den theoretischen und praktischen Aberglauben der alten Finnen (Dissertatio de superstitione veterum Fennorum theoretica et practica), und weil darin magische Phänomene ausführlicher als in den späteren Büchern, die wir gesehen haben, aufgeführt und klassifiziert werden, möchten wir die Klassifizierung von Porthan Lencqvist hier kurz wiedergeben.[12]
„Guttuende Beschwörungskunst“, weiße Magie ist:
1) Weissagung a) mit Hilfe eines mit Wasser (später mit Branntwein oder Kaffee) gefüllten Bechers, b) aus Kleidungsstücken eines Kranken, c) mit Hilfe der Geister, d) durch Verlosung (mit einem Sieb oder Hexentrommel) und e) durch Auswahl der Tage.
„Geister waren gleichsam Vorboten kommender Ereignisse, und diese sah man in vielen Vorkommnissen und zufälligen Begebenheiten. So bedeutete das Ohrensausen, dass Neuigkeiten zu erwarten waren; die Begegnung eines Weibes, das Stolpern an der Schwelle und das vom Pferd Fallen waren angeblich böse Geister; das Krähen der Dohlen, das Miauen der Katze und das Kitzeln der Backen oder des Kinns bedeuteten, dass Gäste zu erwarten waren. Vorboten des Todes gab es viele: z.B. das Klopfen der Totenuhr an der Wand (Thermes Pulsatorium), das Heulen der Hunde und der Schrei des Uhus, kreuzweise gelegte Grashalme oder Späne vor der Tür“ usw.
Die Auswahl der Tage gründete sich anscheinend auf astrologische Angaben. „Sie hatten ihre glücklichen und unglücklichen Tage.“ Die letzten Tage des abnehmenden und die ersten des zunehmenden Mondes waren „leere Tage“, weil der Mond nicht zu sehen war. An diesen Tagen war es nicht ratsam, das Feld zu besähen oder zu düngen.
2) Verzaubern, womit die Magier sich selbst gegen Schäden und Unfälle stärkten und imstande waren, sie zu verhindern und von sich abzuwenden.
a) Mit ihren Beschwörungsformeln und anderen Mitteln versuchten sie, ihren Körper unverletzbar zu machen und gegen allerlei Waffen zu sichern, das Vieh gegen Angriffe von Raubtieren zu schützen, ihre Wohnungen gegen Feuer und ihre Vehikel gegen Diebe zu sichern und ihre Sache mit Erfolg vor Gericht zu verteidigen.
b) Durch Vereidigung versuchten sie, Schäden durch Naturgewalten und schädliche Tiere abzuwenden.
c) Mit Beschwörungen versuchten sie, Bären, Krankheiten und andere Übel zu von sich und ihren Freunden abzuwenden.
d) Durch Vorbeugung (Kreuzzeichen, die Socken verkehrt herum drehen, bestimmte Knoten machen, Geschenke, Opfergaben usw.) dachte man, dass man Ränke und Vorhaben böser Menschen, die einem mit ihren Zaubertricks schaden wollten, abwenden könnte.
e) Durch Zurückdrehen glaubte man, sich gegen von Feinden zugefügte Schäden und Frevel sichern zu können. Die Meister dieser Kunst versuchten also, ihnen zugefügte böse Taten zurückzudrehen.
f) Durch Zurückschicken versuchten die Magier, Schäden zu reparieren und verlorene Gegenstände in unversehrtem Zustand zurückzubringen. So zwangen sie z.B. den Dieb, die gestohlene Ware zurückzubringen und die sich von ihrem Mann entfremdete Ehefrau, die Liebe zu ihrem Mann zurückzufinden.
3) Glück erstreben oder bringen. Das geschah zum Teil durch mancherlei Geheimtricks, zum Teil mit Hilfe eines gewissen Hausgeistes (Lencqvist nennt ihn spiritus familiaris, „piritys“; wir würden ihn Heinzelmännchen oder Schutzgeist nennen), der seinen Freunden Reichtum, Geld und andere Gaben bringt.
„Als Böses tuende Beschwörungskunst“ oder schwarze Magie wird folgendes aufgezählt:
1) Augendrehen. „Dabei verwirren die Zauberer mit ihren Zaubertricks alle seelischen und körperlichen Funktionen anderer Menschen bis zu dem Grad, dass diese nicht Herr ihrer selbst sind, sondern das, was man von ihnen erwartet, hören, sehen und fühlen usw., oder sich selbst Schaden zufügen.“ Lenc­qvist nennt Methoden, mit denen man Augen, Ohren, Zunge und Phantasie trügt, wie man den anderen außer sich bringt, wie man die Bewegungsfreiheit des anderen erschwert oder ganz lahm legt, wie man nach Belieben Gefühle des anderen in Wallung bringt. Alle diese Phänomene werden heute als Hypnotismus bezeichnet.
2) Magie in einem engeren Sinne, wobei man „mit gottlosen Tricks nach Leben, Erfolg und Eigentum der anderen trachtet und kein Mittel scheut, um das verbrecherische Ziel zu erreichen, wenn bloß die Sache geheim und ohne Gefahr durchgeführt werden kann.“ Für diesen Zweck benutzte man insbesondere den Hexenschuss, den man „tyrä“ nannte. Es handelte sich dabei um ein knäuelartiges Ding, das im Inneren des Körpers so heftige Schmerzen verursachte, dass die Folge davon unweigerlich der Tod war. Man konnte auch den Feind mit Krankheiten quälen oder ihn zu Wahnsinn, Lähmung, Blindheit oder Hinken treiben. Auch die Ehe des anderen versuchten die Magier zu stören und unglücklich, unfruchtbar, zänkisch oder auf eine andere Weise elend zu machen. Sogar den Charakter seines Feindes versuchte man zu verderben, so dass aus ihm ein Räuber, Ehebrecher, Säufer, Verschwender oder sonst ein schlechter Menschen wurde.
3) Stöße und Flüche, die man „seinem Feind oder Gegner lauthals ausstieß und ihm selbst und seiner ganzen Sippe alles Böse wünschte“. Diese wurden durch bestimmte Zeremonien und Sprüche durchgeführt, die noch mit allerlei gottlosen Hilfsmitteln verstärkt wurden.
Von Hilfsmitteln, die die Zauberer – sowohl die weißen als die schwarzen – für ihre Zeremonien benutzten, erwähnt Lencqvist u.a. folgende:
1) Zauberzeichen, Buchstaben, Nummern oder andere Zeichen, und wir können noch hinzufügen:
2) Zaubergegenstände, z.B. Siebe, Hexentrommel usw.
3) Formeln, d.h. Wörter und kurze Sätze, mit denen Krankheiten geheilt, Schlangen usw. verzaubert wurden.
4) Sprüche, d.h. Entstehungsworte und eigentliche Beschwörungsformeln.
5) Gänge und Tricks. „Man muss also vor dem Sonnenaufgang mehrere Male um Friedhöfe gehen, hier und da menschliche Gebeine eingraben, einen Gegenstand, welchen auch immer, ohne die Augen zu drehen hinter sich schmeißen, sich einen Talisman umhängen, mit einem Atemzug, ohne mit den Augen zu zwinkern, eine bestimmte Strecke durchlaufen“ usw.
6) Seltsame leidenschaftliche Emotionen und Bewegungen. „Wenn man das Böse erwecken oder beseitigen muss, macht man sich an diese Arbeit mit fürchterlichen und gleichsam furiosen Bewegungen, murmelnd und den Körper in alle Richtungen drehend.“
7) Bünde mit dem Teufel. „Es besteht nämlich keinen Zweifel, dass es solche gegeben hat, die in ihrer Gottlosigkeit und Dummheit so weit gegangen sind, dass sie einen Bund mit dem Feind Gottes und der Menschheit geschlossen haben, um von ihm für ihre gottlosen Vorhaben ewig Hilfe zu bekommen. Die Wahrheit ist, dass der Samen der Gottlosigkeit dem Heidentum zuzuschreiben ist. Denn wir haben mit unseren Ausführungen bewiesen, dass unsere Vorfahren glaubten, dass es gewisse böse Feen und Geister gab, bei denen manche Menschen Hilfe suchten.“
Damit haben wir uns eine in seinen Grundzügen ziemlich zufriedenstellende Vorstellung über die geheimen Methoden der sogenannten Magie oder Zauberkunst – soweit bekannt – machen können. Auch die Kalevala ist voll von dieser Magie. Alle ihre Helden, Lemminkäinen, Ilmarinen, Joukahainen und Louhi, beherrschen die Beschwörungskunst, und vor allem Väinä­möi­nen, dessen Worte, Gesang und Spiel nicht nur eine verzaubernde, sondern eine geradezu schöpferische und Wunder wirkende Kraft haben. Als Talisman erscheint die Bürste des Lemmin­käinen, aus der, als er gestorben war, seine Mutter und seine Frau Blut rinnen sahen. Väinämöinen benutzt einmal die Losung, als der Mond und die Sonne aufgehört hatten zu scheinen (49: 75‒110). Es wird auch erzählt, dass er Kranke mit Salben und magnetischen Blicken, mit Hand Auflegen, Pusten, Beten und Beschwörungsformeln heilte (45: 313‒362).
Beim Lesen der Kalevala fallen diese magischen Einzelheiten jedoch nicht so sehr auf, weil sie darin vorwiegend als natürliche und alltägliche Nebensachen erscheinen. Die Handlung, der edle Inhalt und die ästhetische Harmonie der Schilderung sind Merkmale, die beim Lesen der Kalevala den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck machen. Doch die Frage, die sich jeder aufmerksame Leser stellt, lautet: „Derartige Erzählungen haben wohl keinen wahren Grund und Boden?!“ Und manch ein Leser gibt sich selbst ohne zu zögern die Antwort: „Natürlich nicht!“
Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Schroffe Ablehnung führt nicht sehr weit. Der Forscher, wie Prof. Schurtz oben bemerkt, ist heute nicht mehr in derselben Lage wie der Wissenschaftler der Aufklärungszeit. So viele geheime Kräfte der menschlichen Seele (z.B. Hypnotismus, Hellsehen, Psychometrie) sind bereits allgemein bekannt, dass wir uns für unwissend oder Humbugwissenschaftler abstempeln, wenn wir zu „Märchen“ und „Wun­der­geschichten“ nur mit den Achseln zucken.
Was den Autor dieses Buches anbelangt, so hat er keinen Grund, die Wahrhaftigkeit der magischen Phänomene und der Magie zu leugnen. Im Gegenteil, er muss – auch auf Grund seiner eigenen Erfahrung – sagen, dass er weiß, dass viele der oben genannten Phänomene mit der Wirklichkeit übereinstimmen; er könnte sogar noch solche erwähnen, die hier nicht angegeben sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sie, moralisch gesehen, ohne Weiteres gutheißen würde.
Wir wundern uns nämlich nicht über die allgemeine Meinung und über die Kritiker, in deren Augen die Zauberei und Magie wesentliche Merkmale jeder Weltanschauung sind, deren Blick nicht über das gegenwärtige materielle Leben hinaus reicht. Ständige Sorge um Vorteile und Bedürfnisse, Erfolg und das materielle Leben und dessen Sicherung ist wirklich kleinlich und verachtenswert, und, wenn man sich Sorgen machen muss, ist zweifellos ehrliche Arbeit und Aufrichtigkeit mit der Zeit bessere Magie als allerlei Beschwörungsformeln und Zaubertricks. Aufklärung, Bildung und die christliche Weltanschauung haben in dieser Hinsicht ohne Zweifel erhebende Wirkung auf die Völker ausgeübt. Doch die allgemeine Meinung und Kritik hängen von der Auffassung über die Magie ab, die heute vorherrschend ist. Würde sich die Auffassung ändern, würde auch die Kritik anders lauten.
Wir wollen hier durchaus nicht versuchen, die allgemeine Meinung über die Magie zu verändern. Wir wollen nur unsere eigene Meinung vorbringen, die dem Leser sicherlich bereits klar geworden ist, nämlich dass die Magie in Wirklichkeit und ursprünglich etwas ganz anderes als nur Zaubertricks und Beschwörungsformeln ist. In Wahrheit ist Magie Tätigkeit in der Unsichtbaren Welt und also identisch mit dem Wissen. Ein Weiser ist gerade der Mensch, der gewisse Kräfte in der unsichtbaren Welt beherrscht. Deshalb ist seine Tätigkeit als Weiser in Wahrheit Magie, magische Tätigkeit. Diese Tätigkeit bewegt sich durchaus nicht auf dem Gebiet des materiellen, physischen Lebens; im Gegenteil, seine Ziele sind überphysischer und spiritueller Art. Wahre Magie betrifft das materielle Leben nur mittelbar; sie fördert nur das geistige Wachstum und die Geistesbildung der Menschheit. Andersartige Magie, wenn man dabei wirklich geheime Kräfte benutzt, ist Prostitution der göttlichen Kunst.
In der magischen Tätigkeit des Weisen äußert sich die Art und Weise, wie er sich zu seiner Umgebung und der Menschheit verhält. Eine Seite seiner Tätigkeit ist geradezu erzieherischer Art, ist eigentlich Erziehung. Seine Aufgabe ist es, Menschen zu bilden, auf sie einzuwirken, ja sogar einige als seine Jünger zu werben. Wir können also sagen, dass die Magie in dieser begrenzteren Bedeutung eine seelische Methode ist, die der Weise bei der Erziehung der Menschen und bei der Beschaffung der Jünger anwendet.
Im Folgenden wollen wir über ein paar Einzelheiten von dieser Erziehungsmethoden der Kalevala-Weisen berichten. Dabei wird es vermutlich klar werden, warum wir sie magisch oder mit dem Sammelbegriff Magie nennen.


35. IN VERGANGENHEIT UND HEUTE ‒ ZWEI

MENSCHENTYPEN


Um die magischen Erziehungsmethoden der Kalevala-Weisen richtig zu verstehen, müssen wir einen Blick auf den Hintergrund, auf die menschliche Umgebung, werfen, in der sie arbeiteten. Diese Umgebung sollte man nicht in der Zeit suchen, in der die Kalevala-Runen in ihrer heutigen Form gesungen oder verfasst wurden, sondern in einer viel weiter zurückliegenden Zeit – in der Zeit, von der die Runen, zumindest stellenweise, wirklich erzählen. Wir wollen nicht einschätzen, wie viele Jahre wir uns in der Zeit zurückversetzen müssen. Die Kalevala singt, wie wir sehen werden, von so vielen Zeiten, dass wir über mehrere Jahrhunderte, Jahrtausende, ja sogar mehrere Jahrtausende zurückliegende Zeiten sprechen können. Wir müssen uns zeitlich nur so weit zurückversetzen, bis wir in eine Umgebung kommen, die sich in seelischer Hinsicht am meisten von der heutigen Menschheit unterscheidet und zugleich die erste ist, in der die weisen Helden der Kalevala tätig waren. Denn, wenn wir die magische Atmosphäre der Kalevala sehen und fühlen können, führt sie uns ‒ ungeachtet der Zweifel der Wissenschaftler ‒ sehr weit in die „prähistorische“ Zeiten zurück, in der das heutige finnische Volk noch nicht existierte, in der aber unsere Vorfahren – und warum sollten wir sie nicht auch Finnen nennen – lebten und wirkten. Die Vergangenheit und der Ursprung des finnischen Volkes liegt in einer weit zürückliegenden Vorzeit, aber eines ist aus okkulter Sicht sicher: Unser Geist, unsere Kultur, wie sie in der Kalevala dargestellt wird, ist atlantischen Ursprungs.[13] Der Form und der Darstellungsweise nach ist die Kalevala natürlich ein arisches Erzeugnis, doch wenn man ihren Geist tiefer erforscht, so treten die atlantischen Bilder und Eindrücke zum Vorschein. Und um die Magie der Kalevala richtig zu verstehen, müssen wir uns deshalb eine Vorstellung von der Seele des atlantischen Menschen machen.
Wir haben bereits von dieser vierten, atlantischen Wurzelrasse der Menschheit gesprochen und dabei gesagt, dass die atlantischen Menschen viel mehr Gefühlsmenschen waren als die der heutigen fünften, der arischen Wurzelrasse.[14] Eine so kurze Definition ist natürlich sehr unvollständig. Um uns wenigstens irgendeine Vorstellung von dem atlantischen Menschen zu machen, sollten wir ihn am besten mit dem europäischen Individuum vergleichen.
Wie könnten wir ihn, den Menschen von heute, in seelischer Hinsicht definieren? Sein innerstes und geheimstes Wesen ist zwar das Gefühl, aber er ist bestrebt, mehr und mehr seinen Verstand einzusetzen und dadurch sich selbst und seine Taten zu zügeln und zu lenken. Offiziell erkennt er die Übermacht des Verstandes an und bedauert, dass er sich in seinem alltäglichen Leben bei weitem nicht immer von ihm beherrschen lässt; zugleich hat er eine vage Ahnung, dass der Verstand viel mehr ist als die egoistisch kalkulierende und eigennützige Scharfsinnigkeit. Sein Wachbewusstsein ist im Wesentlichen Gedankentätigkeit; der Mensch, der seinen Verstand nicht einsetzen kann, ist in seinem Wachbewusstsein krank und wird von anderen Menschen als geisteskrank isoliert. Sein Gedankenleben wiederum gründet sich auf sinnliche Wahrnehmungen. Sein Traumbewusstsein ist unklar, oft verworren und unsinnig, und er macht einen klaren Unterschied zwischen dem Wach- und dem Traumbewusstsein.
Je mehr er sich europäisiert, desto selbständiger möchte er werden. Die geistige Kraft der Bildung liegt darin, dass sie ihn zu einem individuellen und persönlichen Wesen macht. Er ist sich selbst, nicht nur „Sohn seines Vaters“ oder Mitglied einer gewissen Familie. Individuelle Freiheit ist seine Losung, und in der Gesellschaft, in der er lebt, möchte er möglichst viel freie Konkurrenz walten sehen.
In seinem Inneren bleibt der Mensch sich immer gleich, doch in seiner Persönlichkeit ändert er sich, je nach Zeiten und Umständen. Die alte atlantische Persönlichkeit war wirklich ganz anders als die europäische!
Der durchschnittliche Atlantis-Mensch war in der Entwicklung seiner Vernunft und seines Denkens bei weitem nicht so fortgeschritten wie der Europäer; er war gar nicht so selbständig, nicht einmal in gleichem Maße individualisiert. Er besaß keinen „eigenen Willen“. Er dachte und betrachtete alle Dinge wie seine Eltern, seine Familie und sein Stamm; er lebte gleichsam in ihnen und sie in ihm ‒ auch die Verstorbenen waren in seiner Erinnerung immer anwesend. Er bestand beinahe nur aus Gefühl und Phantasie. Er war eher ein Teil der Gruppenseele als eine selbständige Individualseele; und dies ist bei den alten Völkern der Ursprung und der psychologische Hintergrund der  Anbetung der Verstorbenen.
Auch sein Wachbewusstsein war anders organisiert als das des heutigen Menschen. Es bestand nur in geringem Maße aus Denken und Vernunft; das Gefühl war seine Welt. Es bedeutete, dass ein Großteil davon, was wir heute das Traumbewusstsein nennen, damals zum Wachbewusstsein gehörte. Die Seele des Atlantis-Menschen war voll von „Traumbildern“: Die Gefühle der anderen traten in sein Bewusstsein als Bilder ein; bei gegenseitiger Kommunikation benutzte man weniger Worte als heute; das physische Äußere der Menschen und Tiere erschien ihm – insbesondere in der atlantischen Frühzeit – beinahe unklarer als deren Gefühle; auch die Natur sprach ihm ihre eigene Sprache; Blumen auf der Wiese, Steine auf der Erde, Bäume im Wald, Seen, Berge, Wolken, Winde, Gewitter, Sonne, Mond und Sterne – sie alle reflektierten gewisse Stimmungsbilder auf sein Bewusstsein. Deshalb ist es nicht schwer zu verstehen, warum alle alten Völker auch Animisten waren. Der Manismus und der Animismus, wie wir sie bei den uns bekannten alten Völkern antreffen, stammen direkt aus der atlantischen Frühzeit.
Doch für den atlantischen Animismus gibt es auch einen anderen Grund. Gerade weil der Atlantis-Mensch sich in seinem Wachbewusstsein zum Teil im Traumbewusstsein befand, konnte er nicht nur Gefühle der Natur, sondern auch unsichtbare Naturwesen, sogenannte „Feen“, sehen. Diese sind zum Teil phantastische, sich verflüchtigende Gestalten, die aus den inneren Lebensströmungen in der Pflanzenwelt, in der Luft, im Wasser und im Feuer entstehen, aber zum Teil auch lebende Wesen, wirkliche Schutz- oder Naturgeister, die in den Elementen wohnen und zu einem völlig anderen Entwicklungssystem gehören als z.B. Menschen und Tiere. Wenn der hellsehende Geheimwissenschaftler heute in der unsichtbaren Welt diesem Leben und diesen Geistern begegnet, kann er sie ohne Weiteres mit seinen Gedanken und seinem Willen beherrschen. Anders verhielt es sich mit dem Atlantis-Menschen. Seine Vernunft war nicht genug entwickelt, und deshalb konnte er auch seinen Willen nicht selbstbewusst einsetzen. Er musste sein Gefühl benutzen und auf diese Weise, ohne es zu wissen, seinen Willen erwecken. Wie ging es vor sich? Durch Beschwörungsformeln. Der Atlantis-Mensch hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Von klein an lernte er mancherlei Beschwörungsformeln und „Entstehungsworte“ auswendig. Diese benutzte er, falls erforderlich, in seinem Alltag und durch sie kommunizierte er mit der Natur und deren Wesen, bat sie um Hilfe oder zwang sie mit seinen Beschwörungen und Zaubersprüchen, ihm zu gehorchen.
Beim Schlafen versetzte sich sein Bewusstsein, viel leichter als beim Menschen von heute, in den Teil des Bewusstseins, den wir das Innenbewusstsein genannt haben. Wen der Schlafende heute ohne störende Traumbilder schlafen kann, fühlt er sich beim Erwachen besonders frisch und gestärkt. In diesem Fall ist er aus dem Traubewusstsein in sein Innenbewussten geschlüpft, und dieses Getrenntsein von den Sorgen des Wachbewusstseins und die Ruhe auf dem Schoß seiner eigenen Seele haben ihm natürlich neue körperliche und seelische Kräfte verliehen. Für den Atlantis-Menschen war das eine allnächtliche Erfahrung, und auch das ist ein Grund, warum die alten Völker im Allgemeinen gesünder waren als die Menschen von heute. (Wenn sie krank wurden, wurden sie oft so geheilt, dass sie an irgendeinem heiligen Ort, in einem Tempel oder anderswo, zum Schlafen gebracht wurden. Der Umgang in der inneren Welt mit dem guten und reinen Geist des Platzes brachte schnell die Heilung. Und weil eine Vorstellung im Bewusstsein auch in der Krankheit ihr Gegenstück hatte, konnte wiederum ein anderes Mal der „Arzt“, d.h. der Heiler oder Magier, mit seinen Zaubersprüchen und Beschwörungen die Vorstellung und damit oft auch die Krankheit vertreiben.) Der Schlaf des Atlantis-Menschen unterschied sich jedoch wesentlich von dem traumlosen Schlaf des heutigen Menschen. Wenn der Mensch von heute aus dem traumlosen Schlaf erwacht, erinnert er sich an nichts: Er glaubt vielleicht, dass er die Nacht in einem bewusstlosen Zustand verbracht hat. Anders verhielt es sich bei dem Atlantis-Menschen. Damals entsprach das Versinken in das Innenbewusstsein dem heutigen Übergang zum Traumbewusstsein, und als der Atlantis-Mensch davon erwachte, brachte er die Erinnerung daran mit sich. Er war in einer anderen Welt gewesen, er war als Seele in der Welt der Verstorbenen und Götter gewandert, er hatte mit höheren Wesen gesprochen und gleichsam am kosmischen Leben der Welt teilgenommen. Deshalb glauben die Naturvölker immer noch, dass die Seele des Menschen beim Schlafen in fremden Ländern schwebt. Doch wenn man heute die Erinnerung an den Übergang des Bewusstseins in das Innenbewusstsein auf jene Weise beibehalten will, muss man eine gewisse psychische Trainingsmethode anwenden und lernen, „in Trance zu gehen“; wie wir bereits erwähnt haben.[15]
Wenn wir diese psycho-physiologischen oder seelisch-kör­per­lichen Unterschiede zwischen dem alten atlantischen Menschen und dem heutigen Europäer im Auge behalten, verstehen wir ohne Weiteres, dass die heutige und die damalige Erziehungsmethode der Magie sich grundlegend voneinander unterscheiden.
Nehmen wir an, dass der Weise in unseren Tagen die Aufmerksamkeit der Welt auf die uralte Weisheit, die Existenz des geheimen Wissens, auf die Möglichkeit der Rettung aus der Unwissenheit und dem Bösen richten möchte und dass er Jünger um sich sammeln möchte, welche Methode würde er wohl dabei anwenden?
Es gibt nur eine ehrliche, aufrichtige und wahre Methode: das Denken und die Vernunft der Menschen zu erwecken, an ihr Wahrheits- und Rechtsgefühl zu appellieren, sie aufzufordern, nach der Wahrheit zu suchen und ihnen den Weg zur Wahrheit zu zeigen. Das alles geschieht am besten durch das gesprochene und geschriebene Wort. Der Mensch von heute ist gegen alle Beeinflussung und Autorität so empfindlich, dass er z.B. die kirchlichen Zeremonien und Feierlichkeiten, die im Mittelalter die Menschenseelen zur Andacht und Frömmigkeit erhoben, geradezu für Einschläferungsmethoden der Vernunft und der Gedankenfreiheit hält. Und wenn der weiße Magier seine Jünger in Geheimwissenschaft und Weisheit unterrichten möchte, sollte er ihnen von Anfang an den Unterschied zwischen dem blinden Glauben und dem natürlichen, menschlichen Vertrauen erklären und ihnen beweisen, dass die okkulte Selbsterziehung keineswegs vernunftwidrig ist, sondern, im Gegenteil, dass auch die Entwicklung des Intellektes eines ihrer wesentlichsten Merkmale ist.
Kurz gesagt: Für das heutige Wachbewusstsein wird die Vernunft als Herrscher anerkannt, und an sie muss man sich bei der magischen Erwachsenenschulung wenden. Erst wenn das vernunftmäßige Wachbewusstsein sein Einverständnis gegeben hat, kann der Mensch von seinem Glauben an sein höheres, gottgeborenes Selbst Nutzen ziehen und wirklich angeregt werden, nach ihm zu suchen und sich ihm zu nähern.
Lasst uns nun an einen weisen Magier denken, der vor Tausenden von Jahren auf dem Atlantis lebte. Auch er wollte die Menschen zum rechten Leben führen. Er wollte in ihnen den Willen zur Erkenntnis Gottes und der Wahrheit erwecken. Auch seine Aufgabe bestand darin, Jünger um sich zu sammeln, um ihnen zu zeigen, wie sie ihre Entwicklung beschleunigen und zur Erkenntnis des aus dem Übel rettenden höheren Selbstes gelangen konnten. War er, der Magier der alten Zeit, in derselben Lage wie sein Bruder in unserer Zeit? Konnte er an die gleichen Erfahrungen seiner Jünger und vor allem an die gleiche Vernunft appellieren?
Keineswegs. Er war in einer ganz anderen Lage. Das reale Ich, an das er appellieren konnte, war inhaltlich ganz anders; die ärmliche Vernunft, die er zur Funktion erwecken musste, war recht schwach und unbeholfen. Die Gefühlskraft hingegen war groß und die Phantasie weitreichend und empfänglich. Wie hätte man also die seelische Fähigkeit, die Seite des Bewusstseins, die bekanntlich im Vordergrund stand und am weitesten entwickelt war, ignorieren können? Natürlich musste der Magier dann gerade an die Vorstellungs- und Gefühlskraft der Menschen appellieren. Und wie ging das vor sich?
Mit einer Methode, die wir heute vielleicht Suggestion ‒ nicht Hypnotismus ‒ nennen würden. Mit Hypnotismus, zumindest im engeren, eigentlichen Sinne, meinen wir die Fesselung des Willens und des Bewusstseins des anderen, so dass er sein eigenes Selbstbewusstsein und die Macht über sich selbst verliert; beim Hypnotismus wird der Mensch oft in einen künstlichen Schlaf versetzt. Diese Methode hat der atlantische weiße Magier in seiner Magieschule nicht eingesetzt, denn sie hätte damals genauso wenig genützt wie heute; sie hätte nur geschadet. Die Grundlage der okkulten Entwicklung ist die Selbsterziehung, die nicht mit der Fesselung des Schülers begonnen werden kann. Die Suggestion, die der Magier der alten Zeit benutzte, war Befreiung des Schülers aus der Gruppenseele, der Gruppensuggestion. Diese Art von Suggestion musste der Magier aber einsetzen, um in seinem Schüler den Willen zur Befreiung und Selbständigkeit zu erwecken. Sie bestand in der Erweckung von Affekten, die stärker waren als das alltägliche Gefühlsleben, sowie in der Öffnung von Perspektiven für die Phantasie, die weiter und interessanter waren als die alltäglichen Erfahrungen.
Der Anfang bestand gewöhnlich darin, dass der Magier in seinen Schülern Liebe zu sich selbst, dem Magier, erweckte. In älteren Zeiten musste er für diesen Zweck keine Suggestion einsetzen. Seine eigene Erscheinung, sein mit Liebe erfülltes Herz erweckte in empfindsamen Menschen von alleine Gegenliebe. Doch, insbesondere in späteren Zeiten, benutzte der Magier ohne Zweifel die Kraft seiner Imagination, um die Aufmerksamkeit und das Herz der anderen für sich zu gewinnen. Und wenn der Magier nicht genug Erfahrung hatte, drohte dabei natürlich auch eine Gefahr.
Das gesamte Gefühl bezieht seine Kraft und seine Erscheinungsform aus der menschlichen Sexualität, wie wir bereits bemerkt haben.[16] Wenn also die Liebe im Herzen des Jüngers erwachte, entstand zwischen ihm und dem Lehrer eine Beziehung. Diese Beziehung war notwendig und gut, wenn sie rein und uneigennützig blieb. Sie half dem Jünger, sich aus der Suggestion der Stammseele zu befreien, und mit deren Hilfe erzog der Lehrer seinen Jünger zur Selbständigkeit und Intelligenz. Allmählich befreite sich der Jünger auch aus der Suggestion des Lehrers.
Anders verhielt es sich jedoch, wenn der Magier unerfahren oder selbstsüchtig war. In diesem Fall verfiel er den persönlichen Fesseln, die seine Liebe hervorgerufen hatte, und das Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem Jünger bekam einen eigennützigen, ja sogar einen physischen Charakter. Wir können auch die Tatsache nicht leugnen, dass manche, deren Intelligenz und Phantasie weiter entwickelt war, diese Kräfte zu geradezu falschen und egoistischen Zwecken benutzten, d.h. um Macht über die Schwächeren zu gewinnen. Eine größere Intelligenz und Schlauheit kann man auch heute noch missbrauchen, wenn schon nicht direkt durch das Appellieren an die Gefühle, dann aber durch die Verzauberung und Fesselung des Verstandes und der Intelligenz der anderen. Der Weg zur schwarzen Magie steht immer offen.
Als eine allgemeine Definition der atlantischen Magie könnten wir sagen, dass sie sich auf die Kraft der Gefühle ‒ und somit also auf die Geschlechtskraft ‒ gründete.

 

36. ATLANTISCHE MAGIE IN DER KALEVALA


Als wir über die innere Sittenlehre der Kalevala sprachen, versuchten wir, die Bedeutung einiger Runen mit dem psychologischen Selbsterziehungsschlüssel zu öffnen. Dieser Schlüssel ist allgemeingültig, nicht an eine bestimmte Zeit gebunden und berührt nicht den historischen Inhalt der Kalevala. Jetzt haben wir eine ganz andere Aufgabe. Wir müssen jetzt die Kalevala als eine okkultistisch-historische Zeitdarstellung verstehen und ihre Helden als Menschentypen betrachten, die auf der Erde gelebt haben. Wir sagen „als Menschentypen“, denn wir glauben, wie bereits im Kapitel 5 bemerkt, dass die Heldennamen Väinä­möi­nen, Lemminkäinen usw. generisch, d.h. Familiennamen oder in dem Sinne typisch sind, dass sie vielen Personen gegeben worden sind; auch und aus dem wesentlichen Grund, dass wir bei der Anwendung des Schlüssels der atlantischen Magie unsere Helden noch nicht als Personen betrachten, die auf der Erde gelebt hätten. Weshalb wohl? Deshalb, weil die poetische Ausdrucksform der Kalevala nicht atlantisch ist und deren atlantischer Inhalt deswegen herausgesucht werden muss. Die Runen der Kalevala wurden in der arischen Zeit für arische Zuhörer gesungen und deren Anschauungsweise ist arisch, selbst wenn einige Teile davon noch so alt wären.
Indem wir also den historischen Schlüssel benutzen, der uns den atlantischen Aspekt der Kalevala-Magie öffnet, setzen wir voraus, dass die Haupthelden, Väinämöinen, Ilmarinen, Lemmin­käinen und Louhi, die Wirtin von Pohjola, atlantische Magier sind, die letztgenannte eine Vertreterin der sog. schwarzen Magie.
Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen sind weiße Magier, die sich Jünger suchen, um so die Entwicklung der Menschheit zu fördern. Ihre Jünger werden als junge Mädchen dargestellt. Damit will man zeigen – nicht nur, dass die Seelen der Jünger sich ihrem Lehrer gegenüber immer in einem empfänglichen, also „weiblichen“, Zustand befinden – sondern auch, dass sie unerfahren und zum Guten bereit sind und dass man bei der Erziehung an das Gefühl und die Phantasie appellieren musste. Wir müssen also nicht denken, dass die Jünger immer Frauen oder die Lehrer immer Männer gewesen wären. Sie wurden deshalb als Männer dargestellt, weil der Lehrer in der Rolle des Gebers erscheint.
Lemminkäinen ist ein typischer atlantischer Magier. Wenn wir ihn von diesem Standpunkt aus richtig verstehen, sehen wir in ihm einen großen, kräftigen und liebenswerten Mann. Er weiß viel, er ist in seinen Gefühlen unbesiegbar, er ist ein unermüdlicher Helfer. Seine zahlreichen Liebesabenteuer sind Beschreibungen der unzähligen Situationen, in denen er Menschenseelen mit seiner Liebe half. Denn er war ein großer Liebhaber und hatte grenzenloses Vertrauen auf seine persönliche Zauberkraft.

„Jos en ole koiltani korea,
Su’ultani aivan suuri,
Mie valitsen varrellani,
Otan muilla muo’oillani.“

„Bin ich nicht aus hohem Hause,
Nicht aus gar zu großem Stamme,
Werde ich nach meinem Wuchse,
Nach dem Aussehn eine wählen.“ [12. Rune]

Er appellierte immer an Gefühle und weckte die Gefühle der anderen allein durch die Kraft seiner eigenen Gefühle. Er ließ allenfalls zu, dass Gerüchte über seine Unwiderstehlichkeit verbreitet wurden; er selbst appellierte an die Phantasie auf keine andere Weise. Er war auch in seinem Selbstbewusstsein und seinem Glauben an sich selbst ungeheuer stark. Wer ihm gefiel, wen er erziehen wollte, der konnte ihm nicht widerstehen. Kyllikki aus der Insel (Poseidonis), die „Saarijungfrau“, war entschlossen, standhaft zu bleiben, doch als Lemminkäinen kam und ihr gegen ihren Willen sein brennendes Herz öffnete, war sie überwältigt, und als sie sich von Lemminkäinen führen ließ, war sie glücklich.
In seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ging Lemminkäinen wie ein Wirbelwind seinen Weg. Erst am Ende sah er ein, dass seine persönliche Zauberkraft nicht ausreichte. Als er auch unter den Inselländern keine Menschenseelen fand, die er ‒ so lange und so weit wie er wollte ‒ hätte unterrichten können, beschloss er, nach Pohjola zu gehen, wo angeblich ein stolzes, schönes und in Magie bewandertes Volk wohnte. Dort angekommen sah er sofort ein, dass man an die Phantasie, nicht nur an die Gefühle, appellieren musste. Er sang und zauberte mit so viel Feuer, dass die besten Sänger sich schlecht und armselig fühlten: Ihre Poesie, ihre Zauberkraft versiegte und ihre Phantasie fügte sich kraftlos dem Willen des anderen:

Tulta iski turkin helmat,
Valoi silmät valkeata
Lemminkäisen laulaessa,
Laulaessa, lausiessa,
Lauloi laulajat parahat
Pahimmiksi laulajiksi,
Kivet suuhun syrjin syösti,
Paaet lappehin lateli
Parahille laulajille,
Taitavimmille runoille.
Niin lauloi mokomat miehet
Minkä minne, kunka kunne:
Ahoille vesattomille,
Maille kyntämättömille,
Lampihin kalattomihin,
Aivan ahvenettomihin,
Rutjan koskehen kovahan,
Palavahan pyörtehesen,
Virran alle vaahtipäiksi,
Kosken keskelle kiviksi,
Tulena palelemahan,
Säkehinä säykkymähän.

Feuer sprüht der Saum des Pelzes,
Flammen glänzten in den Augen
Bei dem Sange Lemminkäinen’s,
Bei dem Sange, bei dem Zauber.
Sang die allerbesten Sänger
Zu den allerschlechtsten Sängern,
Stopft den Mund ganz voll mit Steinen,
Stapelt Felsen auf die Fläche
Diesen allerbesten Sängern,
Den geschicktesten der Zaubrer.
Bannte drauf die stolzen Männer,
Diesen hierhin, jenen dorthin
Auf die schößlingsarmen Fluren,
Auf die ungepflügten Strecken,
In die Seeen ohne Fische,
Wo die Barsche nimmer weilen,
Nach dem wilden Rutjafalle,
In den flammenreichen Wirbel,
In die schaumbedeckten Flüsse,
Zu des Wasserfalles Steinen,
Um als Feuer dort zu brennen,
Um als Funken dort zu knistern. [12. Rune]

Und als einer der Zuhörer – Naßhut der Heerdenhüter – unberührt blieb, weil er von dem Gesang des Lemminkäinen keine Wirkung spürte, und als er verwundert, vielleicht Lob erwartend, fragte, warum der Zauber auf ihn nicht einwirkte, antwortete Lemminkäinen offen und ehrlich: „Du bist ein so schlechter Mensch, dir fehlt vollkommen das heilige Feuer der Phantasie, deshalb spürtest du auch von meinem göttlichen Gesang keine Wirkung.“ Das war eine öffentliche Verleumdung, und der Heerdenhüter beschloss, es ihm heimzuzahlen.
Doch als Lemminkäinen sich nach seiner Kraftprobe Jünger wünschte, antwortete ihm Louhi, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen sei. Über seine magischen Künste würde er noch manche Proben bestehen müssen, bevor man ihm glauben würde. Mit seinen Heldentaten zeigt er auch, dass er mancherlei Zauberkünste beherrscht, doch bei dem letzten fällt er bewusstlos um ‒ die schwarzen Kräfte des Heerdenhüters konnten ihn überwältigen; Lemminkäinen war nicht in der Lage, sich vor seinen Hexenschüssen zu schützen. Und als er später die zweite Reise nach Pohjola machte, gelang es ihm immer noch nicht, bei dem kaltblütigen Volk von Pohjola Fuß zu fassen.
Väinämöinen hingegen, als atlantischer Magier interpretiert, ist ein anderer Menschentyp als Lemminkäinen. Er ist weiser und erfahrener, doch er liebt die Menschen nicht mit der gleichen feurigen Leidenschaft wie Lemminkäinen. Und wenn er das Interesse der Menschen wecken will, appelliert er auch nicht direkt an die Gefühle. Er lässt den guten Ruf seiner Weisheit ihr Interesse wecken und verzaubert sie mit seiner persönlichen Erscheinung, mit Gesang und Spiel. Der Grundton seiner Methode ist anders als der des Lemminkäinen und, mit atlantischen Augen gesehen, nicht gleich effektiv. Es gelingt ihm auch nicht, Jünger unter gewöhnlichen Menschen zu finden; nur Weise, solche wie Ilmarinen und Lemminkäinen, sind für seine Führung geeignet.
Er ist jedoch so berühmt, dass er in Pohjola mit großem Respekt empfangen, umsorgt, bewirtet und zum Bleiben aufgefordert wird. Doch Väinämöinen hat Heimweh nach seinem eigenen Lande; er vertraut dem Volk von Pohjola nicht. Es stellt sich auch bald heraus, dass das Volk von Pohjola eine selbstsüchtige „Geheimtruppe“ ist, denn Louhi fragt Väinämöinen:

„Niin mitä minulle annat,
Kun saatan omille maille,
Oman peltosi perille,
Kotisaunan saapuville?“

„Was denn wirst du mir wohl geben,
Wenn ich dich nach Hause schaffe,
An den Saum des eignen Feldes,
Hin zur Badstub’ deiner Heimath?“ [7. Rune]

Und wenn Väinämöinen ihm „eine Mütz’ voll Goldes“ anbietet, antwortet die Wirtin von Pohjola: „Gold ist wie der Kinder Blumen“, fragt aber zugleich, ob Väinämöinen in der Lage ist, den Sampo zu schmieden. Wenn ja,

„Niin annan tytön sinulle,
Panen neien palkastasi,
Saatan sun omille maille“

”Dann geb’ ich meine Tochter,
Dieses Mädchen dir zum Lohne,
Bringe dich zum Heimathlande” [7. Rune]

Väinämöinen, der den Sampo nicht selbst schmieden kann, verspricht dann, Seppo Ilmarinen nach Pohjola zu senden, wo er den Sampo schmieden und „die Jungfrau beglücken“ soll.
Doch auf dem Weg nach Hause sieht er die wunderschöne Nordlandstochter, ist entzückt von ihr und bittet sie, ihm zu folgen. In Pohjola gab es also zumindest einen Menschen, der seiner Meinung nach für seine Lehre empfänglich war und den er zu seinem Jünger genommen hätte. Die Nordlandstochter willigte jedoch nicht ohne Weiteres ein, sondern wollte zuerst sehen, ob Väinämöinen wirklich ein Magier war, der verzaubern konnte. Sie lässt Väinämöinen ein Haar mit dem Messer ohne Schneide spalten, ein Ei in die Schlinge bringen, aus dem Stein die Rinde schälen und aus dem Eis eine Gerte hauen „ohne daß die Splitter sprangen“; doch wenn Väinämöinen schließlich ein Boot aus den Splittern ihrer Spindel zimmern und es dann „ohn’ es mit der Hand zu fassen“ ins Wasser schieben muss, gelingt es ihm doch nicht sofort und er fällt manchem Schicksal zum Opfer. Und wenn das Boot endlich fertig ist und Väinämöinen damit nach Pohjola fährt, erfährt er, dass die Tochter sich bereits einem anderen Magier, dem Ilmarinen, versprochen hat. Väinä­möi­nen ist weise und fügt sich in sein Schicksal, denn er selbst hatte ja Ilmarinen nach Pohjola geschickt und war also selbst daran schuld, dass das Volk von Pohjola von Ilmarinen entzückt war und diesen als Lehrer vorzog. 
Ilmarinen ist am allerwenigsten ein atlantischer Magier. Wenn wir uns vorstellen würden, wie er sich Jünger sucht, würden wir sehen, dass er gar nicht an die Gefühle appellieren und auch kaum mit seiner persönlichen Erscheinung auf die Phantasie der anderen einwirken würde. Die einzige Art und Weise, bei den Menschen Interesse zu erwecken, wäre, dass er seine Taten für sich sprechen ließe. Doch die Kalevala erzählt auch nicht, dass er sich aus Menschenliebe Jünger suchen würde. Erst wenn ihn Väinämöinen nach Pohjola sendet, entsteht in seinem Herzen dort der Wunsch, sich dem Volk von Pohjola zu nähern; doch wenn diejenigen, die er sich zu Jüngern wünscht, zögern, kehrt er betrübt in seine Heimat zurück.
Er hat jedoch für das Volk von Pohjola den Sampo geschmiedet, d.h. ihnen vieles, was sie nicht wussten und nicht konnten, beigebracht, und das Schicksal fügt es schließlich, dass Ilmarinen diejenigen, die er ausgewählt hatte, als Jünger bekommt.
 Louhi, die Wirtin von Pohjola, ist, wie wir bereits sagten, eine Vertreterin der schwarzen Magie. Man sieht es daran, dass sie nach Wissen und Macht trachtet. Von Liebe ist da gar keine Rede. Lemminkäinen hält sie für nichtsnutzig. Bei dem Wunsch, Väinämöinen zu ihrem Schwiegersohn zu bekommen, denkt sie heimlich an all die Macht und Weisheit, die sie ihm entlocken könnte. Und obwohl Väinämöinen zu klug ist, um Louhi selbst zu unterrichten (den Sampo zu schmieden), ist er jedoch dermaßen von Louhi eingewickelt worden, dass er versprechen muss, Ilmarinen nach Pohjola zu senden. Es gelingt Louhi auch leicht, Ilmarinen auf ihre Seite zu gewinnen. Ilmarinen ist zu aufrichtig, um Böses zu ahnen, und er bringt Louhi alle seine geheimen Kenntnisse bei. Er bekommt jedoch schließlich seinen Lohn, sieht aber zu spät, dass er seine Kenntnisse einem Volk beigebracht hatte, das sie nicht richtig einsetzen konnte, sondern lediglich auf seine eigene Macht und seinen eigenen Wohlstand bedacht war. Schließlich nimmt auch das Schicksal Ilmarinen all das weg, was ihm teuer ist, damit er einsehe, dass es seine Pflicht war, das Wissen und die Macht, die er in Pohjola vergeudet hatte, zurück zu erkämpfen. Pohjola wird somit in der Kalevala als die Brutstätte der schwarzen Magie betrachtet.
Manch ein Leser würde vielleicht heute der Meinung sein, dass Lemminkäinen viel „schwärzer“ sei. Seine Methode, persönliche Liebe zu sich selbst zu erwecken, ist ja beinahe „verachtenswert“. Und auch die Kalevala spricht von ihm mit einer leichten Ironie; sie sieht es ja als seinen Fehler, dass „sein Leben stets bei Weibern“ war.
Ja, so sieht es aus, wenn man die Sache mit den Augen des Ariers betrachtet; und was beweist uns wohl besser als das, dass auch die Kalevala, wie wir bereits sagten, aus der arischen Sicht zusammengestellt ist? Doch „Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit der Zeit“. Was heute schwarz aussieht, mag gestern weiß gewesen sein, und umgekehrt. Daran sehen wir, dass der Schein trügt!
Doch noch tiefer müssen wir in das Wesen der Kalevala-Helden eindringen.


37. IM WECHSEL DER ZEITEN


Im vorhergehenden Kapitel haben wir uns einen Überblick über das Leben der Haupthelden der Kalevala im Hinblick auf die atlantische Magie verschafft, doch damit haben wir den okkultistisch-historischen Inhalt der Kalevala keineswegs ausgeschöpft, nicht einmal aus der Sicht der Magie. Die Kalevala-Runen wurden nämlich in der arischen Zeit gedichtet und sie erzählen nicht nur von atlantischen Erinnerungen.
 Wenn wir uns eingehender in den Inhalt der Kalevala aus magischer Sicht vertiefen, sehen wir, dass die Kalevala ganz deutlich von mindestens drei Zeitaltern, d.h. von der atlantischen, der arischen und der dazwischen liegenden Übergangszeit spricht. Wenn wir z.B. denken, dass die Ahnen des finnischen Volkes vor Urzeiten, nachdem sie als ein atlantischer Stamm auf den Hochländern Asiens gewohnt hatten,[17] anfingen, nach Europa zu wandern und sich in Mittel-, Süd und Osteuropa siedelten und von dort erst lange Zeit danach in Richtung Norden zogen, ist es nicht schwer zu verstehen, dass sie in Europa, und vielleicht schon früher, arische Züge annahmen und dass die Kalevala Erinnerungen aus verschiedenen Zeitaltern enthält.[18]
Als eigentlicher Überbleibsel und Denkmal aus der atlantischen Zeit dient dann die Erzählung über Lemminkäinen. Dieser Kalevala-Held ist, wie bereits gesagt, ein typischer atlantischer Magier, und Kyllikki vertritt das Inselvolk, in dessen Mitte er sich am wohlsten fühlte und erfolgreich war. Wir haben bereits genug von ihm gesprochen und weisen hier nur auf ein paar Züge auf, die ebenfalls echt atlantisch sind. Lemminkäinen liebt seine Mutter zutiefst und vertraut ihr, und sein Ungehorsam ist nur ein Beweis dafür, dass er als Magier selbständiger geworden ist als ein gewöhnlicher Atlantis-Mensch; man kann aus gutem Grund sagen, dass er seine Mutter mehr liebte als alle anderen. Bei seinen Wanderungen in der Natur und beim Begegnen von Gefahren greift er immer auf Beschwörungen zü­rück. Seine Bürste, die er als Vorzeichen zu Hause lässt, hat er mit seinem eigenen Magnetismus versehen und mit Beschwörungsformeln an sich gebunden, so dass sie, wenn ihm etwas Böses zustößt, in den Augen der Mutter und der Kyllikki aussieht, als würde Blut aus ihr triefen. Kriegerisch ist er auch und zieht sein Schwert aus der Scheide, wenn seine Beschwörungen auf Lebewesen, insbesondere auf Menschen, keine Wirkung haben.
Ilmarinen hingegen gehört voll und ganz der arischen Zeit, und die Nordlandstochter vertritt die Menschenseelen, bei denen er am erfolgreichsten war. Wir haben auch über den vernunftbetonten und äußerlich kalten Charakter des Ilmarinen bereits gesprochen und weisen deshalb hier nur auf ein paar Einzelheiten hin, aus denen hervorgeht, dass sein Blut nicht viele atlantische Spuren aufweist. Er benutzt niemals Beschwörungen, sondern will lieber arbeiten und Taten vollbringen. Er ist „der ew’ge Schmie­de­künstler“. Wann immer er ein Gebet oder einen Wunsch äußert, sind diese kurz und bündig, überhaupt nicht wie Beschwörungen, sondern solche, wie sie auch aus unserem Herzen kommen können. Wenn er z.B. die Reise nach Pohjola antritt und sich in den Schlitten setzt, betet er:

„Laske ukko uutta lunta,
Visko hienoa vitiä,
Lunta korjan liukutella,
Vitiä ve’en vilata!“

„Sende frischen Schnee, o Ukko,
Lasse weiche Flocken fallen,
Daß der Schlitten drüber gleite,
Auf dem Schnee vorübersause!“ [18. Rune]

und fügt noch einen Wunsch hinzu:

„Lähe nyt onni ohjilleni,
Jumala rekoseheni,
Onni ei taita ohjaksia,
Jumala ei riko rekeä!“

„Glück, sei nun bei meinen Zügeln,
Gott beschütze du den Schlitten,
Nicht Zerreißt das Glück die Zügel,
Nicht zerschmettert Gott den Schlitten!“ [18. Rune]

Man erzählt, dass er bei der Durchführung seiner Aufgaben eine Beschwörungsformel, nämlich die Schlangenvertreibungsworte, eingesetzt hätte. Dabei könnte es sich aber, historisch gesehen, um einen Metachronismus handeln, und die Feuerentstehungsrune, in der Ilmarinen die Feuerbrennungsworte rezitiert, ist ihrem Inhalt nach so eindeutig mythologisch, dass man sie historisch außer Acht lassen kann. Ilmarinen hat weder hypnotische noch suggestive Fähigkeiten.
Ein anderer arischer Zug in seinem Charakter ist eine leicht aufkommende Skepsis. Eine Eigenschaft seines Denkens ist die Ahnung über den richtigen Stand der Dinge sowie sein Vertrauen auf die „fünf Sinne“. (Die gleichen Charaktereigenschaften findet man auch bei seiner Schwester Annikki.) Das zeigt sich gleich beim ersten Auftritt des Ilmarinen in der Kalevala. Väinämöinen ist von seiner missglückten Reise nach Pohjola zurückgekehrt, „schiefen Hauptes, trüben Sinnes“, weil er, „um sein eigen Haupt zu retten“, versprochen hatte, Ilmarinen dorthin zu senden. Nachdem er von der schönen Nordlands­tochter erzählt hat und nun Ilmarinen ermutigt, sich nach Pohjola zu begeben, antwortet dieser, den eigentlichen Zweck ahnend:

„Ohoh vanha Väinämöinen,
Joko sie minun lupasit
Pimeähän Pohjolahan
Oman pääsi päästimeksi,
Itsesi lunastimeksi! “

„O du alter Wäinämöinen,
Hast mich ja bereits versprochen
Nach dem nimmerhellen Nordland,
Um dein eignes Haupt zu lösen,
Um dich selber zu befreien! [10. Rune]

Und wenn Väinämöinen von einem anderen Wunder, einer Fichte, in dessen Wipfel das Mondlicht leuchtet, erzählt, widerspricht ihm Ilmarinen:

„En usko toeksi tuota,
Kun en käyne katsomahan,
Nähne näillä silmilläni.“

„Glaube nicht, daß dieses wahr sei,
Wenn ich’s selber nicht gesehen,
Mit den Augen nicht geschauet.“ [10. Rune]

Väinämöinen muss auch seine großen Magischen Fähigkeiten benutzen, u.a. die Kunst, physische Gegenstände von einem Ort zum anderen zu versetzen, bevor Ilmarinen sich bereit erklärt, die Reise nach Pohjola anzutreten.
Der dritte Beweis von dem arischen Ursprung der Ilmarinen-Episode ist das Schmieden des Sampo. Obwohl der Sampo ein ganz magischer Gegenstand ist, ist er mit Beschwörungsformeln nicht zu schaffen. Väinämöinen kann z.B. ein Boot mit der Kraft des Wortes bauen, aber er lehnt es ab, den Sampo zu bauen. Das beweist, dass der Sampo etwas Neues und Unerhörtes ist, den man nicht nur mit Gefühl und Phantasie schaffen kann. Dazu braucht man hingegen vor allem Genialität, Vernunft und Denken. Es ist gut möglich, dass der Sampo die höhere, wissenschaftliche und auf der Vernunfttätigkeit basierende Bildung und deren Errungenschaften sowie die vielfältige materielle Kultur, das Kennzeichen der fünften Rasse, darstellt. Der Sampo, auch der bunte Deckel genannt, kann sogar mit gutem Grund auch als eine Art Buch[19] verstanden werden, in dem die ursprüngliche Botschaft und Lehre des Ilmarinen mit geheimen Zeichen aufgezeichnet war.[20] Und es ist nicht verwunderlich, dass ihn Louhi als ihren wertvollsten Schatz behalten wollte. Doch der Sampo-Schmied llmarinen ist in diesem Fall zugleich als Vertreter des finnischen Volkes zu einem der Erzieher und Wohltäter unserer arischen Rasse geworden.
Und wie steht es denn mit Väinämöinen? Er ist ebenso weit entfernt von Lemminkäinen wie von Ilmarinen. Er ist atlantischer Magier und auch wieder nicht. Intelligenzmäßig ist er wie ein Arier entwickelt und ist kein Kind der fünften Wurzelrasse. Er ist der weiseste von allen, weiser als der weiße Ilmarinen, weiser als Lemminkäinen, weiser als die schwarze Louhi. Und dennoch ist er eine tragische Person, denn er ist in seiner Persönlichkeit ein Kind der Umbruchzeit, der weder voll und ganz zur alten, noch zur neuen Zeit gehört. Das sieht man an seiner Beziehung zu Aino, der einzigen Frau in der Kalevala, die man mit Väinämöinen vergleichen kann, sowohl in Bezug auf die geheime Größe als die tragischen Konflikte ihrer Seele.
Das Studium seiner mächtigen Persönlichkeit und des Schicksals der Aino stellt für den Forscher eine äußerst interessante Aufgabe. Lasst uns also versuchen, Väinämöinen als ein lebendiges und weises, aber ein leidendes Individuum zu verstehen!


38. VÄINÄMÖINEN UND AINO


Väinämöinen war alt ‒ alt in Jahren und alt in Weisheit ‒ aber jung in seiner Seele. Er hatte ein langes Leben hinter sich, und als er seinen Blick auf die Vergangenheit warf, konnte er sich an viele gute Taten für sein Volk erinnern. Er hatte sich auch geirrt – wer hat es nicht? – doch er hatte sich bemüht, die ihm auferlegte Lebensaufgabe gewissenhaft zu erfüllen. Wie viele Menschenseelen hatte er doch erzogen! Die Eltern hatten ihm ihre Kinder anvertraut. Mit Gesang und Spiel, mit Märchen und Wundertaten hatte er ihre jungen Seelen an sich gebunden und ihnen auf diese Weise geholfen, sich aus den Blutsbanden zu befreien, mit denen sie an ihren Stamm und ihre Familie gefesselt waren. Er hatte sie frei von der Erbsünde gewaschen und in ihnen das Bewusstsein für das Selbst erweckt. Er hatte ihnen die Grundregeln des Denkens beigebracht und ihre noch wackeligen Schritte auf dem Weg zur Selbstständigkeit und zum Wissen überwacht. In seinem Volk gab es auch viele dankbare Schüler von ihm; bei Tausenden Familien war er ein willkommener Gast, sein Ruf erstreckte sich weit über Land und Meere…
Und dennoch war sein Herz leer. Denn er, der alte, weise und berühmte Väinämöinen war trotzdem einsam und fühlte sich verlassen.
Bei den alten Weisen war es üblich, dass sie einen von ihren Schülern zu ihrem nahen Freund und Familienmitglied nahmen. Sie heirateten jung, um im Alter nicht bereuen zu müssen. Auch er, Väinämöinen, hätte ja früher die Gelegenheit gehabt, sich mit einem anderen Menschen mit unverbrüchlichen Banden zu verbinden. Er konnte sich an viele Mütter und Väter erinnern, die aus ganzem Herzen gewünscht hätten, dass er ihre Tochter als „ein Hühnchen im Arme“ zu sich genommen hätte. Und er erinnerte sich an viele schöne und tugendhafte Mädchen oder Jungfrauen, die, wenn er um ihre Hand gehalten hätte, sicherlich vor lauter Glück rot geworden wären. Doch er selbst war immer kalt geblieben – sein Herz schlug niemals so hoch, dass er gedacht hätte, dass es jetzt an der Zeit wäre – und bei solchen Sachen konnte er nicht auf andere Hören.
So vergingen die Jahre und Väinämöinen wurde älter. Und er lebte immer noch allein.
Dann fügte es das Schicksal, dass ihm auf dem Weg Joukahainen entgegenkam. Nachdem er mit seiner Gesangskunst diesen übermütigen jungen Mann niedergeschlagen hatte und dieser ihm die junge Aino, seine Schwester, versprochen hatte, um sich selbst loszukaufen, spürte Väinämöinen eine seltsame Freude in seinem Herzen. Woher kam diese Freude so plötzlich? War das ein Vorzeichen? Sollte er nun für seine alten Tage eine Freundin bekommen? Würde er jetzt eine Seele finden, über die er sich freuen könnte, eine Jüngerin, der er sein Alles geben könnte?... Wie gut er dann wäre, wie zärtlich und feinfühlend. Hand in Hand gehend wie ihr bester Freund würde er diese Seele im Garten des Wissens, im Reich der Visionen und Ahnungen führen. Aus den goldenen Saiten der Gefühle dieser Seele würde er Melodien herauslocken und die Töne als Worte erklingen lassen. Und wenn er sie lehren würde, auf das Firmament des Himmels emporzusteigen und auf dem Bogen der Lüfte zu sitzen, wo er selbst in seiner inneren Strahlung sie dort begrüßen würde, was könnte noch ihre Herzen voneinander trennen?
Väinämöinen, alt und wahrhaft, fing an, sich Hoffnungen zu machen. Es war eine Vorahnung von etwas…
Es war eine Vorahnung einer großen Trauer. Denn bald darauf begegnete Väinämöinen dem Mädchen im Wald, wo es Birkenzweige brach. Fröhlich und voller Vertrauen näherte er sich Aino, die in ihrem schön geschmückten Kleid hübsch aussah, und sagte scherzend:

„Eläpä muille, neiti nuori,
Kun minulle, neiti nuori,
Kanna kaulan helmilöitä,
Rinnan ristiä rakenna,
Pane päätä palmikolle,
Sio silkillä hivusta!“

„Nicht für andre trag, o Jungfrau,
Nein für mich nur trag, o Jungfrau,
An dem Halse hübsche Perlen,
Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,
Trag für mich die feine Flechte,
Bind für mich das Haar mit Seide.“ [4. Rune]

Die junge Aino errötete zuerst bis über beide Ohren und senkte ihren Blick. Doch die Errötung verschwand, ihre Wangen wurden blass und ihr Blick richtete sich nach oben. Sie sah den zärtlichen und wohlwollenden Blick des Alten, und es war, als ob sie für eine Weile unschlüssig geworden wäre, als hätte sie für eine Weile die unerklärliche Wärme und Kraft jener Augen gespürt. Doch plötzlich riss sie sich los von ihrem Zaudern und sagte:

 „En sinulle, enkä muille
Kanna rinnan ristilöitä,
Päätä silkillä sitaise,
Huoli en haahen haljakoista,
Vehnän viploista valita,
Asun kaioissa sovissa,
Kasvan leivän kannikoissa
Tykönä hyvän isoni,
Kanssa armahan emoni.“

„Nicht für dich und nicht für andre
Hänget mir am Hals das Kreuzchen,
Schmücke ich mein Haupt mit Seide,
Brauch’ ja nicht des Schiffes Balken,
Brauche nicht des Bootes Leisten,
Geh’ in einfachem Gewande,
Nähr’ mich von des Brotes Kanten,
Bleib’ bei meinem lieben Vater,
In der Nähe meiner Mutter.“ [4. Rune]

Sie brach in Tränen aus, riss den Schmuck ‒ Perlen, Ringe, Bänder ‒ von sich und schmiss sie auf den Boden. Und bevor Väinämöinen sich von seiner Bestürzung erholen konnte, war das Mädchen schon davongelaufen.
In tiefen Gedanken versunken kehrte Väinämöinen zurück nach Hause. Er konnte den Blick der jungen Aino nicht vergessen, den Blick, den er in all seinen Schattierungen nicht vollkommen verstehen konnte. Er sah darin Furcht und Bitte, Vorwurf, Hass und Bitterkeit, aber es gab noch etwas anderes… Die Gefühle des Mädchens blitzten vor seinen Augen, doch es steckte etwas Geheimnisvolles dahinter, was er nicht verstehen konnte… Und das Benehmen des Mädchens verstand er auch sonst gar nicht. Hatte er Aino irgendwie beleidigt, hatte er etwas falsch gemacht? Gehörte Aino nicht ihm? Hatte nicht Joukahainen ihm seine Schwester versprochen, um sein eigenes Leben zu retten? War das nicht recht und billig, war das nicht eine heilige, von den Vätern geerbte Tradition?... Doch die Augen der Jungfrau und ihre flatternden Gefühle! Einem solchen Blick war er noch nie begegnet. Warum fürchtete ihn die Jungfrau, warum machte sie ihm Vorwürfe, warum hasste sie ihn? Wäre sie bereits…?
Und Väinämöinen blieb plötzlich stehen, wie von einem Blitz geschlagen; so seltsam war der Gedanke, der ihm in den Sinn kam. Vielleicht war die Jungfrau nicht mehr an ihre Familie und ihren Stamm gebunden, vielleicht waren die Fäden der Seele bereits zerrissen! Vielleicht war sie bereits ein Mensch, ein denkender, selbständig werdender Mensch!... Aber wie wäre es möglich? Kein Weiser hatte die Jungfrau erzogen; wo hätte sie also denken gelernt? Oder fingen die Menschen bereits an, als selbständige Individuen geboren zu werden? War die neue Zeit im Kommen?... Wenn es so war, dann wären die Kinder nicht mehr Eigentum ihrer Eltern, ihrer Familie, ihres Stammes ‒ dann würden sie selbst über sich herrschen… Wenn es wirklich so war, dann verstand er auch Aino. Dann hatte man ihre Menschlichkeit verletzt und dann gab es keine andere Wahl als auf sie zu verzichten… Der Alte seufzte aus tiefem Herzen. Adieu meine Wünsche, adieu meine goldenen Träume…
Doch plötzlich, als er glaubte, den Schmerz der Aino zu verstehen, war sein Herz voller Mitleid. Die arme Jungfrau, die von ihrem Bruder an dessen Feind verkauft wurde, ohne ihre Meinung zu fragen. Sie kann mich doch nur fürchten und hassen.
Tränen in den Augen und Mitleid und Trauer im Herzen setzte sich Väinämöinen auf einen Stein. Und wieder einmal fragte er sich, wie das alles möglich war, wie die Jungfrau bereits mit der Seele eines Weisen geboren war. Die Menschen hatten sich doch noch nicht geändert. Die neue Rasse gab es noch nicht in der Welt. Sie sollte allerdings kommen, aber erst nach einer langen Zeit…
Dann gingen ihm die Augen auf und er sah hinter den Schleier des Lebens und des Todes. Er sah ein Mädchen, das von einem Weisen unterrichtet wurde. Der Weise erzog es zu einem denkenden und selbständig fühlenden Menschen, und das Mädchen hing mit der ganzen Kraft ihrer Seele an seinem Lehrer. Doch der Tod ereilte das Mädchen gerade, als es, das Herz voller Dankbarkeit, bereit war, den geliebten Lehrer mit einem Gegendienst zu belohnen. Doch dem Herzen des Mädchens konnte der Tod nichts anhaben. Im Jenseits träumte es weiter und baute sich Luftschlösser. Und als ihm die Stunde schlug, wurde es ‒ als Aino ‒ auf Erden Wiedergeboren… Und in jenem Weisen hatte Väinämöinen bereits sich selbst erkannt.
Jetzt war das Rätsel gelöst. Jetzt war es ihm klar, dass Aino bereits bei ihrer Geburt eine Weise war, jetzt war es ihm auch klar, warum. Und jetzt war es natürlich, dass sie Bitterkeit über ihr Schicksal empfand. Solche Seelen durfte man nicht wie normale Menschen behandeln; sie betrachteten die Dinge bereits mit anderen Augen. Natürlich hasste ihn die Jungfrau, denn sie konnte sich ja nicht erinnern und nicht wissen, wer Väinämöinen war. Sie erinnerte sich auch nicht an ihre eigene Vergangenheit. Jetzt musste man schleunigst die Jungfrau und ihre Eltern benachrichtigen und Joukahainen – wegen Aino – von seinem Versprechen lösen…
Das war ein guter Beschluss, dachte Väinämöinen, doch glücklich fühlte er sich dabei nicht. Denn in Ainos Blick hatte er etwas Geheimnisvolles gesehen, etwas, was er sich immer noch nicht erklären konnte…
Doch auch das wurde ihm mit der Zeit klar ‒ gefolgt von einer noch größeren Trauer…
Was höre ich jetzt, was ist das für eine seltsame Nachricht? Die junge Schwester des Joukahainen hat sich ertränkt, die Jungfrau Aino hat Erleichterung für ihren seltsamen Kummer in den Wogen gesucht!
Väinämöinen wollte es zuerst nicht glauben, doch wenn ihm die fürchterliche Wahrheit langsam klar wurde, kam er, der alte Weise, vor Trauer beinahe um.

Itki illat, itki aamut,
Yöhyet enemmän itki,
Kun oli kaunis kaatununna,
Neitonen nukahtanunna,
Mennyt lietohon merehen,
Alle aaltojen syvien.

Weinte Abends, weinte Morgens,
Weint’ die ganzen lieben Nächte,
Da die Schöne hingeschwunden,
Da die Jungfrau so versunken

In des Meeres weiten Spiegel,
In die flutenreiche Tiefe. [5. Rune]

Und das meinetwegen, sagte sich Väinämöinen, wegen meiner Sinnlosigkeit, meiner Dummheit und Verständnislosigkeit:

„Ohoh hullu hulluuttani,
Vähämieli miehuuttani,
Olipa minulla mieltä,
Ajatusta annettuna,
Syäntä suurta survottuna,
Oli ennen aikoinansa,
Vaanpa nyt tätä nykyä,
Tällä inhalla iällä,
Puuttuvalla polveksella
Kaikki on mieli melkeässä,
Ajatukset arvoisessa,
Kaikki toimi toisialla!“

„O ich Narr mit meiner Thorheit,
O ich Mann mit wenig Einsicht,
Wohl war mir Verstand verliehen,
Einsicht mir gewiß gegönnet,
Mir ein großes Herz gegeben;
Hatte es in frühern Zeiten,
Nun ist es gewiß verschwunden,
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten,
Bei dem Sinken meiner Kräfte,
Mein Verstand ist wie gestorben,
Fort die Einsicht mir geflohen,
Alle Klugheit steckt bei andern!“ [5. Rune]

Denn jetzt verstand er Aino! Der Tod hatte ihm das Geheimnisvolle im Blick der Jungfrau erklärt: Aino hatte ihn erkannt, sie hatte gewusst, wer er war; sie hatte ihn geliebt.

„Kuta vuotin kuun ikäni,
Kuta puolen polveani…
Ikuiseksi ystäväksi,
Polviseksi puolisoksi,
Se osasi onkeheni,
Vierähti venoseheni,
Minä en tuntenut piteä,
En kotihin korjaella,
Laskin jälle lainehisin,
Alle aaltojen syvien!“

„Welche ich mir immer wünschte,
Mir mein Lebelang ersehnte,…
Mir als Freundin für das Leben,
Mir als Gattin für das Alter,
Diese fing ich mit der Angel,
Zog sie rasch in meinen Nachen,
Konnte sie jedoch nicht halten,
Nicht nach meinem Hause bringen,
Ließ sie wieder in die Fluthen,
In des Meeres dunkle Tiefen!“ [5. Rune][21]

Er konnte seine Freundin nicht behalten, weil er selbst nicht lieben konnte. Er hatte die Tiefe der Liebe nicht verstanden, die ihm erst jetzt durch den Tod klar wurde. Das Kind brachte es ihm bei. Er, der alte Weise, hatte das Geheimnis der neuen Liebe nicht verstanden, der Liebe, die zwei freie, selbständige Menschenseelen miteinander verbindet. So weit in die Zukunft hatte sein weiser Blick nicht eingedrungen. Doch als die Liebe selbst kam, nahm sie ihre Wohnung im Herzen einer jungen Frau, in der reinen Seele des Kindes und lehrte diesem das, was vor den Weisen verborgen war. Und nun hatte das Kind durch seinen Freitod auch den Weisen aus der Unwissenheit gerettet! Oh, du seltsamer Weg des Schicksals, oh, du unendliche Weisheit des Schöpfers!


39. MARJATTA


In der Kalevala gibt es eine Rune, die noch deutlicher als die Aino-Legende auf die Zukunft weist. Es wird auch angenommen, dass diese Rune in der christlichen Zeit und aus christlicher Phantasie entstanden sei. Es handelt sich um die fünfzigste, also die letzte Rune der Kalevala, die von Marjatta und ihrem Sohn handelt. Weil auch die Marjatta-Episode als die letzte Szene zur Lebensgeschichte des Väinämöinen gehört und den Abgang des Väinämöinen vor der neuen Zeit schildert, werden wir auch darauf einen Blick werfen. Diese Episode ist also ‒ aus der sicht des Väinämöinen gesehen ‒ eine direkte Fortsetzung der Aino-Sage.
Aino wurde in eine atlantische Familie und in atlantische Verhältnisse geboren, doch ihre Seele gehört bereits zur arischen Zeit und zur arischen Rasse. Sie ist bereits ein denkendes Individuum. Aber wie fein und zart ist noch alles Neue in ihr! Ihr persönliches Wesen ist mit sehr festen Banden an die Familie gebunden. Ihre Liebe zu Mutter, Vater, Bruder, Schwester und zu ihrer häuslichen Umgebung ist rührend. Ihre neugeborene arische Individualität lebt in diesem persönlichen Wesen wie ein Vogel im Käfig. Erst wenn sie zutiefst beleidigt wird, erwacht sie zu ihrem höchsten Bewusstsein. Wenn sie als Mensch verkauft wird, erwacht ihre sittliche Kraft und sie sieht, in welch einer unglücklichen Lage sie sich befindet. Doch ihr Erwachen führt sie zu keinem positiven Ergebnis, sondern nur zum passiven Widerstand. Der Konflikt spitzt sich zu, wenn sie sieht, dass auch der alte Väinämöinen sie nicht versteht. Und wenn ihr zugleich das Geheimnis ihrer eigenen Seele – ihre Liebe zu Väinämöinen – klar wird, wird ihr Schicksal tragisch. „Es wäre besser, gar nicht geboren zu sein.“ Sie richtet die ganze Kraft ihrer Seele darauf, dass niemand ahnen könnte, was sie, die arme Jungfrau, gefühlt und gedacht hat. Weil niemand sie von sich aus versteht, darf auch niemand sie verstehen… Diese fixe Idee führt sie am Ende – ohne dass sie es selbst merkt – zum Selbstmord:  Niemand hat mich erkannt, niemand wird um mich trauern… In gewisser Weise ist Aino die Apotheose der Jungfräulichkeit und der Unfruchtbarkeit.
Anders verhält es sich bei Marjatta. Sie ist zwar wie die wiedergeborene Aino. Das Streben nach Selbständigkeit und persönlicher Selbsterhaltung, die sich in Aino nur schwach und unklar ausdrückt, entwickelt sich in Marjatta zum vollen Selbstbewusstsein. Doch Marjattas Schicksal ist anders. Es führt sie von der unfruchtbaren Jungfräulichkeit zur fruchtbaren Mütterlichkeit, doch durch welches Leid und durch welche Qualen!

Marjatta korea kuopus
Se kauan kotona kasvoi
Korkean ison kotona,
Emon tuttavan tuvilla.

Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Wuchs schon lange in dem Hause,
In dem Haus des großen Vaters,
In der lieben Mutter Stube. [50. Rune]

So fängt die Rune an und erzählt ausführlich und beinahe spöttisch, wie jungfräulich stolz und ihrer Reinheit bewusst Marjatta war:

Marjatta korea kuopus,
Tuo on piika pikkarainen
Piti viikoista pyhyyttä,
Ajan kaiken kainoutta;
Syöpi kaunista kaloa,
Petäjätä pehmeätä,
Ei syönyt kanan munia,
Kukerikun riehkatuita,
Eikä lampahan lihoa,
Ku oli ollut oinahilla.

Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Dieses Mädchen klein von Größe,
Pflegte lange ihre Keuschheit,
Alle Zeit war sie voll Demuth;
Nährte sich von schönen Fischen,
Aß die weiche Tannenrinde,
Niemals aß sie Hühnereier,
Eier von den muntern Gackrern,
Aß auch niemals Fleisch des Schaafes,
War das Schaaf gepaart dem Widder. [50. Rune]

Als die Mutter sie zum Melken schickt, antwortet diese feine Dame:

„Ei neiti minun näköinen
Koske sen lehmän nisähän,
Jok’ on häilynyt härillä,
Kun ei hiehoista herune,
Vasikkaisista valune.“

„Nicht wird eine solche Jungfrau
Je der Kühe Euter fassen,
Die mit Stieren munter spielten,
Wenn nichts von der Stärke fließet,
Wenn nichts von dem Kalbe tropfet.“ [50. Rune]

Als der Bruder sie bittet, sich in den mit einer Stute bespannten Schlitten zu setzen, antwortet die stolze Schönheit:

„En istu hevon rekehen,
Joka lie orilla ollut,
Kun ei varsaset vetäne,
Kuletelle kuutiaiset!“

„Setze mich nicht in den Schlitten,
Bei dem Hengste war die Stute,
Wenn mich nicht die Füllen ziehen,
Welche sechs der Monde zählen.“ [50. Rune]

Zum Schluss wird „Marjatta, das Kind voll Schönheit, Welche stets als Jungfrau lebte“ Schafshirtin. Hätte die Rune nun wirklich über die Jungfräulichkeit des Mädchens spotten wollen, so hätte sie die Geschichte anders verlaufen lassen. Stattdessen betont sie im Lichte der Tatsachen, wie unschuldig rein ihre Phantasie wirklich war. Zuerst drückt die Rune ein wenig Kritik aus:

Marjatta korea kuopus
Viikon viipyi paimenessa;
Paha on olla paimenessa;
Tyttölapsen liiatenki:
Mato heinässä matavi,
Sisiliskot siuottavi.

Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Lebte lange so als Hirtin;
Elend ist das Hirtenleben,
Und zumal für eine Jungfrau:
Schlangen kriechen in dem Grase,
Auf dem Boden schleicht die Eidechs’. [50. Rune]

Und dann erfolgt die Legende über die seltsame Preiselbeere, die Marjatta aß und von der sie schwanger wurde. Und wir verstehen die Legende so, dass Marjatta an einem Sommertag, auf einem Mooshöcker liegend, in einen tiefen Schlaf versunken war und eine schöne Vision gesehen hatte: „Von dem Berge rief die Beere, von der Flur die Preiselbeere: „Komm, o Jungfrau, mich zu pflücken!“

Marjatta korea kuopus
Meni matkoa vähäisen,
Meni marjan katsantahan,
Punapuolan poimintahan
Hyppysillähän hyvillä,
Kätösillä kaunihilla,
Keksi marjasen mäeltä,
Punapuolan kankahalta;
On marja näkemiänsä,
Puola ilmoin luomiansa,
Ylähähkö maasta syöä,
Alahahko puuhun nousta.
Tempoi kartun kankahalta,
Jolla marjan maahan sorti;
Niinpä marja maasta nousi
Kaunoisille kautoloille,
Kaunoisilta kautoloilta,
Puhtahille polviloille,
Puhtahilta polviloilta
Heleville helmasille.
Nousi siitä vyö rivoille,
Vyö rivoilta rinnoillensa,
Rinnoiltansa leuoillensa,
Leuoiltansa huulillensa,
Siitä suuhun suikahutti,
Keikahutti kielellänsä,
Kieleltänsä keruksisihin,
Siitä vatsahan valahti.

Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ging ein wenig auf dem Wege,
Ging die Beere anzuschauen,
Ging die rothe abzupflücken
Mit den schönen Fingerspitzen,
Mit den wunderhübschen Händen.
Sieht die Beere an dem Berge,
Auf der Flur die Preiselbeere;
Ist der Form nach eine Beere,
Eine Preiselbeere deutlich,
Doch nicht konnt’ man sie vom Boden,
Nicht vom Baume aus sie fassen.
Nahm ein Stäbchen von der Heide,
Um die Beer’ herabzudrücken;
Von dem Boden stieg die Beere
Hin auf ihre schönen Schuhe,
Von den schönen Lederschuhen
Auf das Knie der keuschen Jungfrau,
Von dem Knie der keuschen Jungfrau
Auf den Saum, der munter rauschte.
Stieg dann zu des Gürtels Streifen,
Von dem Gürtel zu den Brüsten,
Von den Brüsten zu dem Kinne,
Von dem Kinne zu den Lippen,
Schlüpfte dann zu ihrem Munde,
Schaukelt’ sich auf ihrer Zunge,
Von der Zunge zu der Kehle,
Eilet darauf in den Magen. [50. Rune]

Das war Marjattas Traum. Doch der Traum hatte eine offenbare Folge:

Marjatta korea kuopus,
Tuosta tyytyi, tuosta täytyi,
Tuosta paksuksi panihe,
Lihavaksi liittelihe.

Marjatta, das Kind voll Schönheit,
Ward hiedurch nun voll und schwanger,
Sie erlangte große Fülle
Und ihr Leib ward voller Schwere. [50. Rune]

Das war das bittere Ende ihres jungfräulichen Traumes. Ihre Mutter konnte bald die richtige Sachlage erraten, behielt aber ihre Gedanken für sich. Doch als die Geburtswehen begannen und Marjatta ihre Mutter bat, die Sauna zu heizen, antwortete ihre eigene Mutter herzlos:

„Voi sinua Hiien huora!
Kenen oot makaelema,
Ootko miehen naimattoman,
Eli nainehen urohon?“

„Wehe dir, du Hiisi-Buhle!
Neben wem hast du geruhet,
Bei dem unbeweibten Manne
Oder beim beweibten Helden?“ [50. Rune]

Der Tag der Qual wurde also für Marjatta zum Tag der Rache und Vergeltung: All die sinnlose Überheblichkeit, mit der sie ihre Familie belästigt hatte, wandte sich jetzt als kalte, verdammende, unbarmherzige Demütigung gegen sie. Was nützte es, wenn sie versuchte, ihrer Mutter zu erklären, wie sie ihrer eigenen Meinung nach schwanger geworden war. Auch der Vater nannte sie eine Buhle und bat sie, ihr Kind im „Felsenhaus des Bären“ zu gebären.
Daraufhin verließ sie ihr Zuhause, rief aber beim Gehen, auch in ihrer Verzweiflung noch stolz:

„En mä portto ollekana,
Tulen lautta lienekänä,
Olen miehen suuren saava,
Jalon synnyn synnyttävä,
Joll’ on valta vallallenki,
Väki Väinämöisellenki.“

„Keineswegs bin eine Buhle,
Bin ich eine Feuerbuhle,
Werde einen großen Helden,
Werd’ gebähren einen Edlen,
Der den Mächt’gen wird gebieten
Und zumal dem Wäinämöinen.“ [50. Rune]

Die arme Marjatta! Die heiligen Muttergefühle waren bereits in ihr erwacht. Jetzt lässt die Rune auch das letzte spöttische Lächeln und erzählt über ihr hartes Schicksal mit größtem Mitgefühl.
Von Menschen bekam sie keine Hilfe. Alle jagten sie weg. Allein und verlassen floh sie in den Wald, „zu dem Haus im Tannenwalde, zu dem Stall am Tapioberge“ und betete zu Gott um Hilfe.

 „Tule luoja turvakseni,
Avukseni armollinen
Näissä töissä työlähissä,
Ajoissa ani kovissa!“

„Komm, o Schöpfer, mir zu Hülfe,
Eil’, Erbarmer her zum Schutze,
Bei dem müherfüllten Werke,
In der gar zu schweren Stunde! [50. Rune]

Und dort gebar sie ihren Sohn „auf das Heu zur Seit’ des Pferdes, auf des Schönbemähnten Krippe”.

Pesi pienen poikuensa,
Kääri kääreliinahansa;
Otti pojan polvillensa,
Laittoi lapsen helmahansa.

Darauf wusch das kleine Söhnlein,
Wickelt sie es ein in Windeln;
Nimmt den Knaben auf die Kniee,
Auf den Saum von ihrem Kleide. [50. Rune]

Wie sehr sie doch ihr kleines Kind liebte, das Kind der Kummer und Sorge. Vergessen war die jungfräuliche Überheblichkeit, die sich zur reinen mütterlichen Demut verwandelt hatte.

Piiletteli poiuttansa,
Kasvatteli kaunoistansa,
Kullaista omenuttansa,
Hopeista sauvoansa,
Sylissänsä syöttelevi,
Käsissänsä kääntelevi.

Barg darauf ihre liebes Söhnlein
Und erzog den Vielgeliebten,
Ihren lieben goldnen Apfel,
Ihr geliebtes Silberstäbchen,
Nährte es in ihren Armen,
Wendet’ es auf ihren Händen. [50. Rune]

Und als der Knabe sich einmal auf einem Sumpf verirrt hatte, welch eine Qual, welch eine Verzweiflung! Wer hat wohl die Mutterliebe gemessen, wer ihre Qualen gezählt? Und wer ihre Freude aufgezeichnet? Das Kind wurde auf dem Sumpf gefunden und nach Hause gebracht. Nur eine Sorge gab es noch:

Siitä meiän Marjatalle
Kasvoi poika kaunokainen;
En tieä nimeä tuolle,
Millä mainita nimellä,
Emo kutsui kukkaseksi,
Vieras vennon joutioksi.

Darauf wuchs der Sohn Marjatta’s,
Wuchs der Knabe voller Schönheit;
Nicht wußt’ man ihn zu benennen,
Keinen Namen ihm zu geben,
Blümlein nannte ihn die Mutter,
Fremde einen Müßiggänger. [50. Rune]

Das Kind musste also getauft werden. Und jetzt tritt Väinä­möi­nen auf die Bühne.


40. MARJATTAS SOHN UND VÄINÄMÖINEN


Die Marjatta-Legende ‒ sinnbildlich gedeutet ‒ beschreibt sehr treffend die Entstehung einer neuen Rasse. Darauf verweisen die wichtigsten Merkmale der Legende: die selbstbewusste, lange bewahrte Jungfräulichkeit, die übernatürliche Schwangerschaft, die Zurückweisung seitens der Welt und das große Leid. Wenn nämlich die Natur anfängt, eine neue Wurzelrasse zu erschaffen, belebt sie zuerst das Seelenleben mancher Individuen der alten Rasse mit neuen Träumen und Sehnsüchten, so dass diese sich in ihren Gewohnheiten und Ansichten von den anderen unterscheiden. Dann sendet sie göttliche Boten und Helfer in die Welt, die jene fruchtbaren Seelen mit dem Ideal des neuen Menschentyps schwängern, und führt sie schließlich abseits der Menschheit, wo sie zusammen, Schwierigkeiten und Hindernisse überwindend, großes Leid tragend aber mit göttlicher Hilfe die neue Wurzelrasse anfangen sollen. Diese sinnbildliche Deutung der Marjatta-Legende wird auch durch die letzte Episode bestätigt: die Szene mit dem kleinen Kind und Väinämöi­nen. Väinämöinen, als Vertreter der Magie, der Erziehungsmethode der alten Rasse, verabschiedet sich von der neugeborenen Rasse und deren neuer Magie und verlässt die Welt mit dem Versprechen, zurückzukehren, sobald er wieder gebraucht wird ‒ denn er ist ja alt und erfahren und als Vorgänger der Vater der neuen Rasse. Selbst wenn die Rune förmlich erst in der christlichen Zeit entstanden ist, kann diese Sinnbildliche Deutung trotzdem nicht geleugnet werden oder weniger glaubhaft erscheinen.
Der gleiche sinnbildliche Geist bleibt die ganze Zeit im Hintergrund und muss beachtet werden, selbst wenn wir die letzte Szene als die Fortsetzung und das letzte Kapitel der persönlichen Lebensgeschichte des Väinämöinen betrachten. Väinämöi­nen war ja ein Wissender und Magier der Umbruchzeit und er hatte ja bereits bei der Begegnung mit Aino eingesehen, dass die magische Erziehungsweise für die Menschen der neuen Zeit nicht mehr geeignet war. Doch Aino hielt er noch für ein außergewöhnliches Wesen und fand keine Menschen der neuen Rasse, bevor das Schicksal ihn mit Marjatta zusammenführte…
Bevor dem Sohn Marjattas der Name gegeben werden konnte, erklärte der alte Mann,[22] der als Taufer herbeigeholt war, dass man das Kind zuerst prüfen sollte:

„En mä risti riivattua,
Katalata kastakana,
Kun ei ensin tutkittane,
Tutkittane, tuomittane.“

„Werde einen Zaubervollen,
Werd’ den Armen hier nicht taufen,
Wird er nicht zuvor beprüfet,
Nicht beprüfet und besichtigt.” [50. Rune]

In welcher Hinsicht? Vielleicht, ob das Kind wirklich gottgeboren war und ob es der Schule des Schicksals standhalten würde? Und wer sonst wäre dazu besser geeignet als der alte Väinämöinen?

Kenpä tuohon tutkiaksi,
Tutkiaksi, tuomariksi?
Vaka vanha Väinämöinen,
Tietäjä iän ikuinen,
Sepä tuohon tutkiaksi,
Tutkiaksi, tuomariksi.

Wer wohl sollte ihn beprüfen,
Wer beprüfen, wer beschauen?
Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Kam den Knaben zu beprüfen,
Zu beprüfen, zu beschauen. [50. Rune]

Der alte Weise kam herbei, tief in Gedanken versunken. Er kam, um über das Kind der neuen Zeit ein Urteil zu fällen, doch seine Schritte waren schwer und langsam, denn er näherte sich dem Ort wie einem heiligen Hain, in dem der teuerste Schatz geopfert werden musste, oder wie einem Richter, aus dessen Mund man das Urteil über sich selbst hören muss. Und als er vorwärts ging, fielen seine Gedanken vom Himmel herab, ernst und prüfend, und streiften mit ihren großen Schwingen moosbedeckte Hüglein.
Bist du standhaft, du Sohn Marjattas, dessen Vater deine Mutter nicht kennt? Wirst du dem Blick deines Vaters standhalten?[23] Kannst du dem Zauber seiner Augen widerstehen? Kannst du die Macht seiner Worte beherrschen? Bist du wirklich ein Nachkomme Ainos und Marjattas, ein neuer Mensch auf der Erde, bist du dir deiner Aufgabe bewusst, frei vom Alten – oder wirst auch du noch untergehen? Wirst du schwanken, wirst du untergehen und auch deinen Vater mit dir zur Verdammnis ziehen? Waren die Anstrengungen deines Vaters umsonst? Ist der Tod das Ende von allem? Oder wirst du siegen, du göttlicher Held? Ist ein neuer Tag wirklich angebrochen? Wirst du die Arbeit deines Vaters verherrlichen? Wirst du eines Tages seine Weisheit, die dich glücklich machen wird, zurückkehren lassen?“
Und Väinämöinen fragt Marjatta: „Wie ist der Sohn geboren, wie gezeugt und woher empfangen?“ Und Marjatta erzählt es ihm.
Dann fällt Väinämöinen sein Urteil, ernst und mit finsterer Miene, aber die Stimme voller heimlicher Trauer.

„Kun lie poika suolta saatu,
Maalta marjasta siennyt,
Poika maahan pantakohon,
Marjamättähän sivulle,
Tahi suolle vietäköhön,
Puulla päähän lyötäköhön!“

„Da der Sohn vom Sumpf empfangen,
Von der Beere ist entstanden,
Soll man ihn zu Boden legen,
Auf die beerenreiche Wiese,
Oder zu dem Sumpfe führen,
Mit dem Baum den Kopf zerschlagen!“ [50. Rune]

Prüfend, streng und intensiv beschwörend blieb der Blick des alten Weisen auf das Kind gerichtet.
 Es erfolgte ein tiefes, abwartendes, schmerzhaftes und hoffnungsloses Schweigen.
Dann öffnete das Kind seinen Mund und „rief das zwei der Wochen alte“:

„Ohoh sinua ukko utra,
Ukko utra, unteloinen,
Kun olet tuhmin tuominnunna,
Väärin laskenna lakia!“

„O du Alter ohne Einsicht,
Ohne Einsicht, voller Throheit,
Wie du dumm das Urtheil fälltest,
Schlecht gedeutet die Gesetze! [50. Rune]

Der Blick des Weisen erheiterte sich und trübte sich wieder, doch die Tränen kamen ihm in die Augen und die Strenge verschwand aus seinem Blick. Der Junge sprach trotzend weiter:

„Eipä syistä suuremmista,
Töistä tuhmemmistakana
Itseäsi suolle viety,
Eikä puulla päähän lyöty.“

Wurdest doch ob größrer Sünde,
Nicht ob Thaten größrer Dummheit
Selber du zum Sumpf geführet,
Nicht am Baum dein Kopf zerschlagen. [50. Rune]

Der Blick des Väinämöinen erhellte sich und strahlte jetzt vor überirdischer Freude ‒ und Marjattas Sohn sprach weiter:

„Kun sa miesnä nuorempana
Lainasit emosi lapsen
Oman pääsi päästimeksi
Itsesi lunastimeksi.“

Als du als ein Mann voll Jugend
Deiner Mutter Kind verschenket
Als ein Lösgeld für dein Leben,
Um dich selber zu befreien.“ [50. Rune]

Der Blick des Weisen verlor seine Zauberkraft und seine Augen lächelten strahlend, als er sich an die erste Reise des Ilmarinen nach Pohjola erinnerte.
Doch der Junge sprach erbarmungslos weiter:

„Ei sinua silloinkana,
Eip’ on vielä suolle viety,
Kun sa miesnä nuorempana
Menettelit neiet nuoret
Alle aaltojen syvien,
Päälle mustien mutien.“

„Wurdest damals nicht geführet
Und auch später nicht zum Sumpfe,
Als du als ein Mann voll Jugend
Junge Mädchen sinken ließest
In der Meeresfluthen Tiefe,
Auf den schwarzen Schlamm des Bodens.“ [50. Rune]

Der Blick des Väinämöinen verlor auch den letzten Zweifel, die letzte Unsicherheit. Eine Träne kullerte auf seine faltenreiche Wange und die Last fiel von seinen Schultern ab. „Du hast gewonnen, mein Sohn“, flüsterte sein Herz voller Freude, „und ich bin frei, frei ohne Sorgen zu gehen, frei mit Freuden wiederzukehren. Gott sei Dank und Ehre.“
Und der alte Virokannas erledigte seine Aufgabe:

Ukko risti ripsahutti,
Kasti lapsen kapsahutti
Karjalan kuninkahaksi,
Kaiken vallan vartiaksi.

Tauft der Alte rasch den Knaben,
Segnet schnell das liebe Kindlein,
Daß es König von Karjala
Hüter aller Mächte werde. [50. Rune]

Väinämöinen, voller Frieden und Freude, kehrte ernsten Schrittes um und trat ab. Für die anderen sah es aus, als wäre er zornig geworden und hätte sich geschämt. Doch er ging zum Ufer und sang sich noch das letzte Mal „einen erzbeschlagnen Nachen“. Er setzt sich an das Ende und „ziehet auf des Meeres Rücken“. Und beim Segeln „zu den höhern Länderstrecken, zu den niedern Himmelsräumen“ beschwört er:

„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen sammon saattajaksi,
Uuen soiton suoriaksi,
Uuen kuun kulettajaksi,
Uuen päivän päästäjäksi,
Kun ei kuuta, aurinkoa,
Eikä ilmaista iloa.“

„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne
Wohl sich nie der Welt erfreuet.“[24] [50. Rune]


V

DIE RÜCKKEHR DES VÄINÄMÖINEN

 

NATIONAL-OKKULTISTISCHER SCHLÜSSEL



41. VÄINÄMÖINEN UND DAS FINNISCHE VOLK


Väinämöinen ist der erste, der höchste und der den Runensängern vertrauteste Kalevala-Held. Alle lieben und bewundern ihn, alle erkennen, dass in ihm das tiefste, was sich im Geist des finnischen Volkes bewegt, ausgedrückt wird. In ihm wird die Liebe unseres Stammes zu Wissen und Weisheit, zu Gesang und Poesie, sein Glaube an die Kraft des Wortes und der Melodie gleichsam personifiziert. Seine unbezwingbare Stärke, seine Entschlossenheit, seine unüberwindliche Gelassenheit und Ruhe sind in den Augen eines jeden Finnen Eigenschaften, die den idealen Charakter ausmachen.
Es ist auch kein Wunder, denn in der Persönlichkeit des Väi­nämöinen verbirgt sich ein Geheimnis, das ihn zum Vater und Sinnbild unseres ganzen Volkes macht. Die Schlüssel, die wir bisher benutzt haben, haben seine Persönlichkeit entweder verallgemeinert oder ihn als ein menschliches Wesen präsentiert, d.h. ihn entweder zum Gott oder zum Menschen, aber nicht in erster Linie zu einem Finnen gemacht. Der Schlüssel, den wir noch benutzen wollen, lässt Väinämöinen auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde stehen, macht ihn aber zu einem so vollblütigen Finnen, dass jedes Kind des finnischen Volkes seine Verbindung zu ihm erkennen kann.
Es handelt sich hier um den okkultistisch-nationalen Schlüssel. Es bedeutet erstens, dass mit Väinämöinen der Geist und die Seele des finnischen Volkes, unser sogenannter Nationalgeist, dargestellt wird. In ihm personifizieren sich, wie wir eben sagten, die tiefsten Bestrebungen, der tiefste Glaube und die tiefste Liebe unserer Nation. Doch es bedeutet auch etwas anderes. Es bedeutet, dass Väinämöinen als ein „heidnisches“ Gottwesen nicht gestorben ist, sondern lebt; dass er als Vertreter des finnischen Nationalgeistes nicht nur eine poetische Vorstellung, sondern auch eine lebende, persönliche Wirklichkeit ist.
Wie soll man das verstehen? Weil wir hier ein gewisses Geheimnis der unsichtbaren Welt berühren, müssen wir die Sache ein wenig erläutern.
Die Unterschiedlichkeit der Völker, die äußere wie die innere, hängt von der Sprache, den natürlichen Lebensbedingungen, dem Klima und vielen anderen bekannten Faktoren ab. Jede Nation bildet eine Einheit, die in der unsichtbaren Welt die Form einer über sie schwebenden geistigen Atmosphäre, einer Aura, annimmt. In der Aura sind die seelischen, für das Volk typischen Eigenschaften zu sehen: sein Charakter, seine mentalen Eigenschaften, seine Art zu fühlen, seine geistigen Bestrebungen, seine künstlerischen Neigungen, seine vorherrschenden Meinungen usw., die alle zusammen die sog. persönliche Volksseele bilden.
Doch hinter dieser kollektiven Volksseele verbirgt sich ein geistiges Geheimnis. Wie der Mensch sein höheres Selbst hat, dessen vorübergehende Manifestation seine Persönlichkeit ist, so gibt es für die kollektive Einheit des Volkes eine geistig zusammenhaltende Kraft, ein individuelles Intelligenzwesen, das wir den Nationalgeist nennen können. Es handelt sich um ein selbständiges Geistwesen, das nicht zu unserem menschlichen Entwicklungssystem gehört, sondern zu einem anderen, dem sog. Engel- oder ‒ in Sanskrit ‒ Deva-Entwicklungs­system. In seinem eigenen System ist er ein verhältnismäßig hohes Wesen und hat – vielleicht um seine eigene Entwicklung zu fördern – die Lebensaufgabe übernommen, für das Schicksal der Nation und deren geistiges Wachstum zu sorgen. Die von ihm gewählte Nation steht seinem Herzen sehr nahe, und im Charakter dieser Nation gibt es etwas, was seinem eigenen Wesen entspricht, denn Herrscher und gleichzeitig Diener eines Volkes zu werden ist eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Aus der Nationalaura wird gleichsam sein äußerster Körper, seine Wohnung, und er nimmt das Seelenleben des Volkes als sein eigenes an. So entsteht eine ständige Wechselwirkung zwischen dem persönlichen Seelenleben des Volkes und dem Bewusstsein des Schutzgeistes. Der Engel versucht, die Seele des Volkes zu schulen und seine eigenen, erhabenen Inspirationen und Empfindungen in dessen Aura einfließen zu lassen. Auf ein verkörpertes Volk kann er nicht unmittelbar Einfluss ausüben, sondern nur durch solche Individuen, die, voller Vaterlandsliebe, auf seine Stimme hören und dann durch Kunst, Literatur  oder Heldentaten seine Worte und seinen Willen zum Ausdruck bringen. Der Schutzengel steht natürlich nicht allein, sondern ist von einer mächtigen Schar von Engeln und Schutzgeistern der niedereren Stufe umgeben; doch die tiefste geistige Wurzel aller Vaterlandsliebe liegt ausgerechnet darin, dass hinter dem Volk dieses große, liebende und göttliche Wesen steht, der in den Individuen Liebe erweckt und diese Liebe mit seiner Gegenliebe beantwortet. Ist es dann verwunderlich, dass einige Völker ihn als ihren einzigen Gott verehrt haben?[25]
Dass nun Väinämöinen den Nationalgeist Finnlands vertritt, bedeutet nicht nur, dass in Väinämöinen das Seelenleben des finnischen Volkes personifiziert ist, sondern auch, dass er, Väi­nä­möinen der alten Runen, des alten Glaubens und der Kalevala, der Schutzengel ist, der dem finnischen Volk gegeben worden ist.
Wann er das Schicksal des finnischen Volkes mit dem seinen in diesem Sinne zusammenband, das können wir mit Sicherheit nicht sagen. Es geschah in prähistorischer Zeit, in der Kalevala-Zeit, in der die Kultur unserer Ahnen ihre Blütezeit erlebte. In den Kalevala-Runen über die Lebensschicksale des Väinä­möi­nen möchten wir gern auch Hinweise auf die Geschicke unseres Schutzengels sehen. In alten Zeiten war der finnische Stamm groß und mächtig. Dazu gehörten nicht nur die Ahnen der heutigen Finnen, sondern auch die der Lappländer und der anderen zur finnischen Völkergruppe gehörenden Völkerstämme. Große Teile Europas gehörten zu seinem Machtbereich, und die Herrschaft gründete sich eher auf die Kraft der Weisheit als auf Gewalt. Seine Kultur war eher geistiger als materieller Art. Es war ein Landwirtschaft, Jagd, Fischerei und andere Gewerbe und Handel treibendes, aber auch ein feinfühlendes, religiöses und Musik liebendes Volk, und das Leben hätte für die Menschen ohne Gesang und Poesie, ohne tieferes Wissen über die Natur und ohne die Kunst der Weisen keinen Wert gehabt. Seine Weisen waren in die hohe Mysterienweisheit eingeweiht und waren berühmt für ihre magischen Beschwörungskünste. Es war die Zeit der Kalevala-Kultur, es war die Zeit des Väinämöinen.
Dann kamen Veränderungen und Umwälzungen. Andere Völker traten auf die Bühne der Geschichte.[26] Väinämöinen zog sich zurück, sein Reich brach zusammen. Doch sein Volk begann, gruppenweise und während langer Zeit, auf die finnische Halbinsel nach dem Nordland zu wandern. Es kamen Tawastländer, Karelier, Kainu- und Birkarl-Folk, Bjarmen usw. Und sie bewahrten die alten Zeiten in der Erinnerung. An langen Winterabenden sangen und rezitierten sie Gedichte darüber. Und merkwürdigerweise glaubten sie fest daran, dass die alten Zeiten irgendwann zurückkommen werden. Die Erinnerung an das Versprechen des Väinämöinen, irgendwann zurückzukehren, bewahrten sie als Überlieferung. Später, nachdem das Christentum nach Finnland gebracht worden war und das Volk allmählich gelernt hatte, seine alten Götter aufzugeben, wurde der Abgang des Väinämöinen mit der Einführung des Christentums verbunden, doch die Prophezeiung wurde nicht vergessen. Bis zu unseren Tagen war sie in den Abschiedsworten des Väinä­möi­nen zu hören:
          
„Annapas ajan kulua,
Päivän mennä, toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen sammon saattajaksi,
Uuen soiton suoriaksi,
Uuen kuun kulettajaksi,
Uuen päivän päästäjäksi,
Kun ei kuuta, aurinkoa,
Eikä ilmaista iloa.“

„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne
Wohl sich nie der Welt erfreuet.“ [50. Rune]

Wie sollte man nun dieses Versprechen des Väinämöinen verstehen? Hat es eine wahre Bedeutung? Steckt Wahrheit dahinter? Geht es dabei um eine wahre Tradition oder war es nur ein Zusatz, geboren aus der Phantasie der Runensänger?
Wir sagten bereits, dass es nicht aus der heidnisch-christlicher Umbruchszeit stammt, sondern aus einer viel früheren Periode; es wurde am Anfang der Kullervo-Periode gegeben,[27] und nach unserer Überzeugung ist es ein wahres Versprechen, das unser Nationalgeist Väinämöinen durch einen von ihm inspirierten menschlichen Väinämöinen gegeben hat.
So gesehen können wir fragen: Wenn unser Nationalgeist sich damals nicht endgültig und für immer zurückzog, was garantiert uns, dass er wiederkehren wird, und wann wird es geschehen?
Darauf antworten wir: Es wird nicht genau auf die gleiche Weise wie damals geschehen. Als Väinämöinen zuletzt die finnischen Stämme führte, stand er gewissermaßen auf dem Standpunkt der Gruppenseele: Sein Volk oder sein Reich bestand aus verschiedenen Elementen, oder besser gesagt aus verschiedenen Elementmöglichkeiten. Danach hat sich die europäische Bühne geändert. Bei seiner Rückkehr muss Väinämöinen einen bestimmten Stamm aus der finnischen Völkerfamilie wählen. Er muss ein besonderes, ein „auserwähltes“ Volk haben. Woher bekommt er es und wann wird Väinämöinen wiederkehren?
Väinämöinen ist bereits zurückgekehrt und das Volk hat er bereits auserwählt. Das Volk ist das finnische Volk und die Rückkehr des Väinämöinen geschah, als in Europa nach dem Ende des Mittelalters die Neuzeit anbrach. Wir können diese stufenweise historische Vereinigung unseres Nationalgeistes und Schutzengels mit unserer Nationalaura in den Worten der Kalevala verfolgen.
„Man wird meiner schon bedürfen“ ‒ wenn die neue Zeit anbricht und die europäischen Völker auf dem Weg zu einer Zukunft sind, in der es mehr Freiheit und Kultur gibt. Das Geschah, wie gesagt, am Ende des Mittelalters, und der Einfluss des Väinämöinen in Finnland war u.a. in der Arbeit Mikael Agricolas zu sehen.
„Nach mir schauen, nach mir blicken“ ‒ wenn das Volk selbst zu erwachen und sich als ein eigenständiges Volk zu sehen beginnt und sich gleichzeitig nach freieren äußeren Verhältnissen und Lebensbedingungen sehnt. Die ersten Zeichen dieser Bestrebungen fingen etwa vor zweihundert Jahren an, erkennbar zu werden, mit der Folge, dass in der Geschichte des finnischen Volkes, innerlich gesehen – teilweise auch äußerlich – eine große Veränderung stattfand: Finnland löste sich aus der schwedischen Vorherrschaft und wurde in das Russische Reich einverleibt.[28]
„Daß ich neu den Sampo schaffe“ ‒ wenn das finnische Volk geistig so weit vorbereitet war, dass es Erinnerungen an die vergangene finnische Kultur aufehmen konnte. Das geschah im 19. Jahrhundert, vor allem durch die Arbeit Elias Lönnrots, aber auch Snellmans und der anderen bedeutenden Forscher. Elias Lönnrot wurde zum Werkzeug des Väinämöinen gewählt, und seine Kalevala und alle anderen Runen, Gedichte, Beschwörungsformeln usw., die bisher gesammelt worden sind und immer noch gesammelt werden, bilden den neuen Sampo,[29] den Väinämöinen uns vorbereitet hat.
„Daß ich neu das Spiel beginne“ ‒ wenn wir, nachdem wir den neuen Sampo (die Kalevala) erhalten haben und in der Volksseele die Erinnerungen erwacht sind, selbständige Kulturarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie usw. beginnen können. Diese Zeit begann, nachdem im neunzehnten Jahrhundert Kalevala in Buchform erschienen war; danach hat das finnische Volk auf vielen Gebieten der Kultur wirklich eigenständige Leistungen gebracht. In großen Kulturländern spricht man bereits allgemein über finnische Musik, finnische Literatur, finnische Baukunst usw. Väinämöinen hat uns nicht enttäuscht; seine Worte haben sich buchstäblich bewahrheitet.
„Neu den Mond zum Himmel führe, Frei die neue Sonne mache, Da man ohne Mond und Sonne Wohl sich nie der Welt erfreuet“ ‒ wenn unser schwer geprüftes Volk zusammen mit anderen Völkern leidet. Heute leidet Europa wirklich furchtbare Geburtswehen, und man glaubt auch im Allgemeinen, dass für die Völker, wenn sie das jetzt herrschende Fegefeuer überstanden haben, eine bessere Zeit anbricht. Das Versprechen des Väinämöinen wurde also in dieser Hinsicht noch nicht erfüllt, doch wir glauben fest daran, dass er auch hier nicht falsch gesehen hat. Es wird auch für Finnland der Tag anbrechen, der Brudertag der Völker, an dem jede Nation ungehindert sein Heiligstes und Innerstes verwirklichen kann und auch unser finnisches Volk die Gelegenheit haben wird, auf die Stimme seines eigenen Nationalgeistes zu hören und seine Verpflichtung darin sieht, dass es eine echt finnische Kultur, nicht nur auf wenigen Gebieten, sondern auf allen Lebensbereichen schafft.[30]
Jetzt sollte der Leser nicht ausrufen: „Ist unser Schutzengel etwa der alte heidnische Väinämöinen! Ist er vielleicht zurückgekehrt und soll er an die Stelle Christi treten!“ Wer so sagt, der hat uns nicht verstanden. Väinämöinen ist weder „heidnisch“ noch „christlich“, nicht mehr und nicht weniger als Christus. Väinämöinen als unser Nationalgeist ist eine lebende, geheime Wirklichkeit, und wenn wir mit Christus z.B. den Logos meinen, so ist Väinämöinen natürlich sein Diener. Wenn wir wiederum mit Christus den großen eingeweihten Weisen meinen, der in der Person Jesu vor ein paar Tausend Jahren auf Erden lebte, so ist er ‒ Christus ‒ ein ganz anderes Wesen als Väinämöinen als Nationalgeist; er ist ein Wesen, das gar nicht zu unserer Menschheit gehört; und sein Werk steht in keinerlei Weise im Widerspruch mit dem Einfluss des Väinämöinen, der sich in der eigenständigen Entwicklung des finnischen Volkes manifestiert. In der Wirklichkeit des Lebens, in der Entwicklung der Völker und der Individuen geht es nicht um den einen oder anderen „Glauben“. Darin sind alle Religionen und Weltanschauungen Geschwister, Zweige und Blätter im gleichen Baum der Weisheit; es geht nur darum, wie das einzelne Individuum, wie das Volk ist und was ein jeder macht.
Wenn aber das Volk eine geistreiche, beglückende und bleibende Kultur schaffen will, ist es notwendig, dass das Volk in seinem Inneren die Verbindung mit der geheimen Welt der Weisheit aufrechterhält. Die Kultur blühte und trug Früchte so lange wie die Völker der alten Zeit durch ihre Mysterien mit der geheimen Bruderschaft und dem heiligen Sampo-Tempel der Weisheit wirklich in Verbindung blieben. Als aber die Verbindung unterbrochen wurde, mussten die Völker ihre eigenen Irrwege gehen, wobei ihre Kultur degenerierte. In der christlichen Zeit ist die Kirche an die Stelle der alten Mysterien getreten – zum Teil die Kirche, zum Teil die Universität. Anfangs erhielt die Kirche die Verbindung mit Jesus und der geheimen Welt aufrecht, doch im Laufe der Jahrhunderte wurde die Verbindung immer lockerer, so dass heute vermutlich nur wenige Individuen in der Christenheit persönliche Jünger Jesu selbst sind,[31] und auch diese wohl kaum innerhalb der Kirche. Wenn man will und wünscht, dass die heutige christliche Kultur weiterleben, sich entwickeln und sich vergeistigen wird, ist es deshalb notwendig, dass ‒ entweder innerhalb oder außerhalb der Kirche ‒ die Mysterien wiederbelebt werden und die ursprüngliche Verbindung mit Jesus und der geheimen Bruderschaft wiederhergestellt wird.
Und diese Renaissance der Mysterien kann nur so geschehen, dass jede Nation zuerst sein eigenes höheres Selbst findet. Das 19. Jahrhundert war für die Christenheit eine Vorbereitung dazu; das wissen wir Finnen aus unserer eigenen Geschichte. Für ein Volk, das eine Vergangenheit hinter sich hat, bedeutet das Finden des höheren Selbstes, dass es aus der Nacht der Finsternis all das ans Tageslicht bringt, was in seiner Vergangenheit geistreich, edel und schön war. Und es reicht nicht, wenn man sich nur förmlich daran erinnert, sondern der alte Geist muss im Bewusstsein des Volkes erneut und in erläuterter Form auferweckt werden. Deshalb war die Wiederbelebung der alten Erinnerungen, das Schmieden des neuen Sampo usw., ein Zeichen dafür, dass Väinämöinen zum finnischen Volk zurückgekehrt ist. Die förmliche Arbeit wurde bereits zum Teil getan. Die Aufgabe des finnischen Volkes besteht nun darin, den alten Väinämöinen-Geist und seine Weisheit wiederzubeleben und diesen Geist in das vom heutigen Christentum geschulte und aufgeklärte Bewusstsein einzuverleiben. Und das zwanzigste Jahrhundert wird sehen, inwiefern das finnische Volk – so wie auch andere Völker – bei dieser großartigen Arbeit erfolgreich sein wird. Das Versprechen des Väinämöinen haben wir; und wir sind sicher dass er, unser lieber Nationalgeist, seinerseits seine Aufgabe erfüllen wird…

Suuni jo sulkea pitäisi,
Kiinni kieleni sitoa,
Laata virren laulannasta,
Herätä heläjännästä:…
„Eipä koski vuolaskana
Laske vettänsä loputen,
Eikä laulaja hyväinen
Laula tyyni taitoansa;…
Mieli on jäämähän parempi
Kuin on kesken katkemahan.“
Niin luonen, lopettanenki,
Herennenki, heittänenki...
Elkätte hyvät imeiset
Tuota ouoksi otelko,
Jos ma lapsi liioin lauloin,
Pieni pilpatin pahasti!
En ole opissa ollut,
Käynyt mailla mahtimiesten,
Saanut ulkoa sanoja,
Loitompata lausehia...
Vaan kuitenki, kaikitenki
Laun hiihin laulajoille,
Laun hiihin, latvan taitoin,
Oksat karsin, tien osoitin;
Siitäpä nyt tie menevi,
Ura uusi urkenevi
Laajemmille laulajoille,
Runsahammille runoille
Nuorisossa nousevassa,
Kansassa kasuavassa.

Werd’ den Mund nun schließen müssen,
Meine Zunge fest nun binden,
Werde von dem Liede lassen,
Von dem muntern Sange abstehn…
„Selbst des Wasserfalles Strömung
Läßt nicht alles Wasser fließen,…
Also wird der gute Sänger
Auch nicht alle Lieder singen;
Besser ist es aufzuhören,
Als zur Mitte abzubrechen.“
So beginnend, also endend,
So beschließend, so verlassend,…
Mögt ihr nicht, o guten Leute,
Darob ein Befremden fühlen,
Daß als Kind ich viel gesungen,
Daß ich Kleiner schlecht gezwitschert!
Bin in keiner Lehr’ gewesen,
War nicht bei den mächt’gen Männern,
Hab’ nicht fremde Wort’ empfangen,
Keine Rede aus der Ferne…
Doch wie dieses nun auch sein mag,
Hab’ den Weg gezeigt den Sängern,
Zeigt’ den Weg und bog den Wipfel,
Brach die Zweige, bahnt’ die Pfade;
Hier nun führt der Weg in Zukunft,
Hier eröffnet sich der Fußpfad
Für die Sänger, die begabter,
Für die reichlicheren Lieder
In der Jugend, die sich hebet,
In dem wachsenden Geschlechte. [50. Rune]




[1]  In den ersten Aufzeichnungen Lönnrots werden Pohjola (das Nordland) und Manala (das Totenreich) nebeneinander erwähnt. Siehe Kalevalan esityöt, I, Väinämöinen (Vorbereitungsarbeiten zur Kalevala I, Väinämöinen), z.B. S. 230‒231: „Poikki Pohjolan joesta, Manalan alantehesta („Durch den Fluss Pohjolas, Aus dem untern Raum Manalas“), S. 550‒551: „Noille Pohjolan vesille, Manalan alantehille“ („Auf die Gewässer Pohjolas, In die untre Flut Manalas“). [In den ingermanländischen Versionen der Rune über die Werbung um die Nordlandstochter steht, anstatt Pohjola, Manala. ‒ J.M.]

[2]  [In der Kalevala-Übersetzung von Anton Schiefner steht anstatt der Kantele die ”Harfe”. ‒ M.H.]
[3]  Johannesev. 3: 8.
[4]  [Zitat aus der Ode in Carmina, III/III, 7 von Horatius. ‒ J.M.]
[5]  Dieses Schlangenfeuer hat tatsächlich bereits früher auf der Bühne gestanden, obwohl die Kalevala nichts darüber berichtet. Der „große Stier“ Pohjolas, der auf der Hochzeit von Pohjola erscheint, ist möglicherweise ein Hinweis auf das Schlangenfeuer. Das Erwecken der psychischen Kräfte steht im Allgemeinen im Zusammenhang mit dem Schlangenfeuer. Das Schlangenfeuer heißt auf Lateinisch kundalini, auf Griechisch speirema.
[6]  [Allan Menzies (1845‒1916), Professor of Divinity and Biblical Criticism an der Universität St Andrews, Schottland, Herausgeber des Review of Theology and Philosophy. Die erste Auflage des Buches History of Religion, A Sketch of Primitive Religious Beliefs and Practices, and of the Origin and Character of the Great Systems, erschien im Jahr 1895. ‒ J.M.]
[7]  Op. cit. S. 56, 57.
[8]  [Heinrich Schurtz (1863‒1905), deutscher Theologe und Historiker.      
      ‒ J.M.]
[9]  [Leipzig 1912, hier aus der finnischen Ausgabe übersetzt. ‒ M.H.]
[10]  Op. cit. S. 757.
[11]  Otava eli Suomalaisia huvituksia, I osa (Otava oder finnische Belustigungen, Teil I), Stockholm 1831, S. 26, 27.

[12]  Henrik Gabriel Porthanin tutkimuksia (Nachforschungen von Henrik Gabriel Porthan), finnische Übersetzung Edv. Rein. Suom. Kirjallisuuden Seura, Helsinki 1904, S. 173‒207.
[13]  Mad. Blavatsky sagt in ihrer Geheimlehre, dass Chinesen, Japaner, Mongolen, Finnen, Türken usw. zur siebenten (mongolischen) Unterrasse der atlantischen Wurzelrasse gehören. Gewisse Gelehrte, z.B. Yrjö Koskinen* in seiner Dissertation Tiedot Suomensuvun muinaisuudesta (Angaben über die Vergangenheit des finnischen Völkerstammes), meinen, dass die finnische Völkerfamilie turanischen** Ursprungs sei und dass dazu im alten Babylon die Chaldäer und Sumerer gehörten. Nach theosophischer Einteilung waren auch sie atlantische Völker; Kaleva könnte, wie Ganander meint, historisch gesehen der Name eines Riesen gewesen sein. Der Sage nach hatte er zwölf Söhne, von denen, wie wir bereits bemerkt haben, die Haupthelden der Kalevala am bekanntesten sind; alle Namen sind auch gar nicht bekannt. J. R. Aspelin hatte ohne Zweifel Recht, als er annahm, dass, wenn die Namen und Leistungen aller Söhne bekannt werden, die alte Geschichte Finnlands in einem neuen Licht erscheinen wird. Und wer weiß, inwiefern Bischof Daniel Juslenius*** mit seinem Irrtum Recht hatte, als er glaubte, dass Finnland in uralter Zeit ein mächtiges Reich war, beherrscht von Königen aus dem eigenen Volk? Es waren „Kalevala-Zeiten“, und Kalevala war nicht die heutige finnische Halbinsel. Lönnrot erwähnt auch, dass in einem Volksmärchen die Söhne Kalevas für Riesen gehalten werden. Das kann man mit der Überlieferung und dem Geheimwissen, dass die Atlantis-Bewohner grösser waren als die heutigen Arier, vergleichen.

[* Yrjö Sakari Yrjö-Koskinen (1830‒1903), Professor für allgemeine Geschichte an der Universität von Helsinki, Senator und Politiker. ‒ J.M.]
[** Turanisch: Ein von dem Sprach- und Religionswissenschaftler F. Max Müller (1823‒1900) erfundener philologischer Begriff, zu dem er alle europäischen und asiatischen Sprachen, außer indogermanischen, semitistischen und chinesischen Sprachen, gezählt werden. ‒ J.M.]
[*** Daniel Juslenius 1676‒1752,  Professor für Hebräisch, Griechisch und Theologie an der Akademie von Turku, außerdem Bischof von Porvoo und Skara (Schweden). ‒ J.M.]


[14]  Siehe  Kapitel 10. Lemminkäinen-Kräfte.
[15]  Siehe Kapitel 27, Die jüngere Schwester der Nordlandstochter. In seinem Buch Suomen suvun pakanallinen jumalanpalvelus (Heidnische Gottesanbetung des finnischen Völkerstammes) erzählt J. Krohn über „Muzhan“, den Schamanen oder Hexen der Tsheremissen [heute Mari], folgendes: „Auch muss er in seinem Leben absolut sittlich sein. Doch vor allen Dingen wird vorausgesetzt, dass er in unmittelbarer Verbindung mit den Göttern steht. Er muss die Zukunft voraussagen können, Diebe aufdecken, Krankheiten erkennen usw. Seine Visionen bekommt er manchmal in wachem Zustand, meistens jedoch im Traum. Es handelt sich nicht nur um ein natürliches, nächtliches Träumen in der Nacht, sondern auch künstliches Träumen wird ausgeübt… Das Einschlafen ist hier nichts anderes als eine neue Art, den unbewussten Zustand zu erstreben, von dem man glaubt, dass darin die Seele, vom Einfluss der Umgebung befreit, in den Bereich der übersinnlichen Erfahrung emporsteigt.“ (S. 105).
[16]  Siehe Kapitel 10, Die Lemminkäinen-Kräfte.
[17]  Unser berühmter Historiker Yrjö Koskinen sagt: „Doch wir sollten wenigstens bedenken, dass der Name Suomi, Same, nicht nur dem heutigen finnischen Volk gehört, sondern sich möglicherweise früher über die ganze Finnische Völkerfamilie erstreckt hat. Wenn wir nun in einem Satz alles zusammenfassen wollen, was im Vorhergehenden erklärt wurde, so sagen wir, dass der Historienschreibung eine wichtige Tatsache hinzugefügt worden ist, nämlich die alte Macht der Turaner auf dem Gebiet zwischen Sindh und Eufrat. Dass die Turaner in diesem Fall zur finnischen Völkerfamilie gehören, ist eine Vermutung, die von aller Wahrscheinlichkeit untermauert wird; darauf verweisen die allgemeinen sprachwissenschaftlichen Aspekte; dazu neigen auch die Nachforschungen zu Pfeilspitzenschriften.
        Doch wie auch immer das endgültige Urteil lauten mag, offenbar ist, dass die finnische Sprache und die alte finnische Dichtung, die beide auf einem uralten Fundament zu stehen scheinen, in der Waage der Forschung ein hohes Gewicht gewinnen werden.“ Tiedot Suomensuvun muinaisuudesta (Angaben über die Vergangenheit des finnischen Völkerstammes), Helsinki 1862, S. 18, 19.
[18]  In der Zusammenfassung seiner Abhandlung Hafva Lappar och Finnar på skilda tider invandrat till Norden? (Haben die Finnen und Lappländer zu unterschiedlichen Zeiten nach dem Norden gezogen?) schreibt Joh. Ad. Lindström* folgendes: „Als Schlussfolgerung dieser Abhandlung bleibt also, dass die Finnen das älteste Volk Europas waren und dass sie seit ungeahnter Zeit die nördlichsten Länder Europas beherrscht haben. Siehe Suomi (Finnland), 1859, Ebd., S. 40. Man sieht, dass die älteren Historiker in ihren Schlussfolgerungen mutiger waren als die heutigen. Ist das vielleicht allein auf „mangelhaftere Kenntnisse“ zurückzuführen? Wie Wettenhovi-Aspa** in unseren Tagen, so vermutete auch Dr. K. Meijer, dass ein Teil der turanischen Urbevölkerung aus Afrika nach Europa gekommen war. Vgl. o.a. Dissertation von Koskinen, S. 31. Es scheint, dass die Gelehrten in Bezug auf Skandinavien heute den Standpunkt vertreten, dass die Menschen der älteren Steinzeit (vor ca. 10.000 Jahren) Lappländer, aber die Bevölkerung der späteren Steinzeit (vor ca. 6.000 Jahren) bereits germanischen Ursprungs waren. Vgl. C. Grimberg, Svenska folkets underbara öden (Wunderbare Schicksale des schwedischen Volkes), I Stockholm 1913, S. 20. Dass diese späteren Menschen einen langen Schädel hatten, beweist unserer Meinung nach nicht unbedingt, dass sie Germanen waren, denn auch Finnen, zumindest die Karelier und die Kainuu-Bewohner, hatten einen langen Schädel.
*   [Johan Adolf Lindström 1819‒1874, Pfarrer, Philologe und Historiker. ‒ J.M.]  
** [Georg Sigurd Wettenhovi-Aspa 1870‒1946, Bildhauer und Kunstmaler. ‒ J.M.]
[19]  [Der bunte Deckel – kirjokansi, vgl. Buch – kirja und Deckel – kansi. ‒ M.H.]
[20]  Das kann man mit der von dem Norweger Friis sehr gut begründeten Behauptung vergleichen. Er sagt, dass der Sampo eine besonders wertvolle und berühmte lappländische Hexentrommel sei.
[21]  Die zuletzt und weiter oben zitierten Worte sind der Rune ”Vellamon neidin onginta” (Das Angeln der Seejungfrau Wellamo) entnommen, gehören aber dem Inhalt nach zur Aino-Episode.


[22]  In der Allegorie ist dieser alte „Virokannas“ der Manu der neuen Rasse, d.h. ein geistiger Typ und Führer. Der Name „Virokannas“ bedeutet also das gleiche wie das indische Wort „Vaivasvata“ (Vaivasvata Manu). Merkwürdigerweise gibt es ein sanskrit-Wort, das dem Wort „Virokannas“ ähnelt und etymologisch das gleiche bedeutet wie „Vaivasvata“, selbst wenn es in der Mythologie der Name eines Daimons ist. „Vaivasvata“ bedeutet nämlich „von der Sonne kommend“; wie auch das Wort „Vairocana“, das aus dem Wort „Virocana“, Sonne, kommt.
      [In dem von Mikael Agricola zusammengestellten Götzenverzeichnis erscheint Virokannas mit dem Namen Virancannos als Gott der Karelier, der Hüter des Hafers. ‒ J.M.]

[23] [Nach der von dem Folkloristen Martti Haavio im Jahr 1950 vorgebrachten Interpretation ist das auf dem Sumpf gefundene Kind der Sohn des Väinä­möi­nen. (Martti Haavio, Väinämöinen, Eternal sage (1952, 2. Auflage 1992. S. 183). ‒ J.M.]
[24]  Marjattas Sohn ist in der Volksdichtung nicht Christus, sondern Kullervo. Die Kullervo-Episode erzählt von der Geschichte und dem Seelenleben der arischen Rasse, obwohl wir dieses Thema hier nicht behandeln.
      [Nur in einem der verschiedenen Paralleltexte der Volksdichtung steht der Name des Kindes; darin heißt es Kaukamoinen. ‒ J.M.]
[25]  Das Verhältnis zwischen dem Deva und dem Volk usw. habe ich etwas umgehender im Heft Suomen kansallishaltia (Der Nationalgeist Finnlands), Helsinki 1913, Teosofinen Kirjakauppa ja Kustannusliike, geschildert.
[26]  Nach dieser Auffassung sind z.B. die Germanen später nach Europa gekommen als unsere finnischen Ahnen, und die alte Edda-Religion der Germanen, in der vieles mit der der Kalevala übereinstimmt, hat mit gleich gutem Grund Züge aus der Weltanschauung der Finnen geliehen als umgekehrt. Vgl. Yrjö Koskinen: „Wenn es nun in den europäischen Sprachen im Allgemeinen finnisch-stämmige Züge gibt, deren Ursprung nicht durch Umstände und Verhältnisse der historischen Epochen zu erklären sind, ist das meiner Meinung nach einer der bedeutendsten Beweise dafür, dass die Bevölkerung, die bereits in prähistorischer Zeit im europäischen Gebiet lebte, zur finnischen Völkerfamilie gehörte.“ Tiedot Suomen suvun muinaisuudesta (Angaben über die Vergangenheit finnischer Völkerstämme), S. 25, 26.
[27]  In diesem Buch sprechen wir nicht über Kullervo.
[28]   [Im Jahr 1809 ‒ M.H.]
[29]  Vgl. Kapitel 37 „Im Wechsel der Zeiten“, in dem die Bedeutung des Sampo behandelt wird.
[30]  Vgl. was darüber in meinem Buch  Suomen kansallishaltia (der Nationalgeist Finnlands), Helsinki 1913, berichtet wird.
[31]  Darüber mehr in meinem Buch Jeesuksen salakoulu. [Deutsche Übersetzung: Die Geheimschule Jesu, Mänttä 2008 ‒ M.H.]

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